Патрик Зюскинд. Парфюмер (На немецком языке)
Patrick Suskind. Das Parfum
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Патрик Зюскинд. Парф На немецком языке. 1998
, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru
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Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den
genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und
abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche geh
u
rte. Seine Geschichte soll
hier erz
u
hlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein
Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de
Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten
ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen ber
u
hmteren
Finsterm
u
nnern an Selbst
u
berhebung, Menschenverachtung, Immoralit
u
t, kurz an
Gottlosigkeit nachgestanden h
u
tte, sondern weil sich sein Genie und sein
einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschr
u
nkte, welches in der Geschichte keine
Spuren hinterl
u
sst: auf das fl
u
chtige Reich der Ger
u
che.
Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den St
u
dten ein f
u
r uns
moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen
nach Mist, es stanken die Hinterh
u
fe nach Urin, es stanken die Treppenh
u
user
nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die K
u
chen nach verdorbenem Kohl
und Hammelfett; die ungel
u
fteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die
Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem
stechend s
u
ßen Duft der Nachtt
u
pfe. Aus den Kaminen stank der
Schwefel, aus den Gerbereien stanken die
u
tzenden Laugen, aus den
Schlachth
u
fen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach
Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach
verrotteten Z
u
hnen, aus ihren M
u
gen nach Zwiebelsaft und an den K
u
rpern,
wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem K
u
se und nach saurer Milch
und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Fl
u
sse, es stanken die
Pl
u
tze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Br
u
cken und in den
Pal
u
sten. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die
Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der K
u
nig stank, wie ein
Raubtier stank er, und die K
u
nigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.
Denn der zersetzenden Aktivit
u
t der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert
noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche T
u
tigkeit, keine
aufbauende und keine zerst
u
rende, keine
u
ußerung des aufkeimenden oder
verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen w
u
re.
Und nat
u
rlich war in Paris der Gestank am gr
u
ßten, denn Paris war
die gr
u
ßte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es
einen Ort, an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte,
zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, n
u
mlich den
Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die Toten
des Krankenhauses Hotel-Dieu und der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht,
achthundert Jahre lang Tag f
u
r Tag die Kadaver zu Dutzenden herbeigekarrt
und in lange Gr
u
ben gesch
u
ttet, achthundert Jahre lang in den Gr
u
ften und
Beinh
u
usern Kn
u
chelchen auf Kn
u
chelchen geschichtet. Und erst sp
u
ter, am
Vorabend der Franz
u
sischen Revolution, nachdem einige der Leichengr
u
ben
gef
u
hrlich eingest
u
rzt waren und der Gestank des
u
berquellenden Friedhofs
die Anwohner nicht mehr zu bloßen Protesten, sondern zu wahren
Aufst
u
nden trieb, wurde er endlich geschlossen und aufgelassen, wurden die
Millionen Knochen und Sch
u
del in die Katakomben von Montmartre geschaufelt,
und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz f
u
r Viktualien.
Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten K
u
nigreichs, wurde am
17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der
heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei
u
ber dem Friedhof
und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem
H
u
rn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles
Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux
Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die
Fische, angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so
sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch
u
berdeckte. Grenouilles Mutter aber
nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen
Ger
u
che im h
u
chsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr
Leib, und der Schmerz t
u
tete alle Empf
u
nglichkeit f
u
r
u
ußere
Sinneseindr
u
cke. Sie wollte nur noch, dass der Schmerz aufh
u
re, sie wollte
die eklige Geburt so rasch als m
u
glich hinter sich bringen. Es war ihre
f
u
nfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und
alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige
Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekr
u
se,
das da schon lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles
mitsammen weggeschaufelt und hin
u
bergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum
Fluss. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine
junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz h
u
bsch aussah und noch
fast alle Z
u
hne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und
außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine
ernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht f
u
nf oder
zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche
Kinder zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder
so... Grenouilles Mutter w
u
nschte, dass alles schon vor
u
ber w
u
re. Und als
die Presswehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und
gebar dort, wie schon vier Mal zuvor und nabelte mit dem Fischmesser das
neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie
als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unertr
u
gliches,
Bet
u
ubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zu
viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnm
u
chtig, kippte zur Seite, fiel unter
dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das
Messer in der Hand.
Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die
Polizei. Immer noch liegt dieFrau mit dem Messer in der Hand auf der
Straße, la ngsam kommt sie zu sich.
Was ihr geschehen sei?
"Nichts."
Was sie mit dem Messer tue?
"Nichts."
Woher das Blut an ihren R
u
cken komme?
"Von den Fischen."
Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
Da f
u
ngt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu
schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schw
u
rm von Fliegen und
zwischen Gekr
u
se und abgeschlagenen Fischk
u
pfen das Neugeborene, zerrt es
heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen.
Und weil sie gest
u
ndig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding
bestimmt w
u
rde haben verrecken lassen, wie sie es im
u
brigen schon mit vier
anderen getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen
mehrfachen Kindermords und schl
u
gt ihr ein paar Wochen sp
u
ter auf der Place
de Greve den Kopf ab.
Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme
gewechselt. Keine wollte es l
u
nger als ein paar Tage behalten. Es sei zu
gierig, hieß es, sauge f
u
r zwei, entziehe den anderen Stillkindern die
Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da rentables Stillen
bei einem einzigen S
u
ugling unm
u
glich sei. Der zust
u
ndige Polizeioffizier,
ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind schon
zur Sammelstelle f
u
r Findlinge und Waisen in der
u
ußeren Rue
Saint-Antoine bringen lassen, von wo aus t
u
glich Kindertransporte ins
staatliche Großfindelheim von Rouen abgingen. Da nun aber diese
Transporte von Lasttr
u
gern vermittels Bastkiepen durchgef
u
hrt wurden, in
welche man aus Rationalit
u
tsgr
u
nden bis zu vier S
u
uglinge gleichzeitig
steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war;
da aus diesem Grund die Kiepentr
u
ger angehalten waren, nur getaufte
S
u
uglinge zu bef
u
rdern und nur solche, die mit einem ordnungsgem
u
ßen
Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste;
da das Kind Grenouille aber weder getauft war noch
u
berhaupt einen Namen
besaß, den man ordnungsgem
u
ß in den Transportschein h
u
tte
eintragen k
u
nnen; da es ferner seitens der Polizei nicht gut ang
u
ngig
gewesen w
u
re, ein Kind anonymiter vor den Pforten der Sammelstelle
auszusetzen, was allein die Erf
u
llung der
u
brigen Formalit
u
ten er
u
brigt
haben w
u
rde... - aus einer Reihe von Schwierigkeiten b
u
rokratischer und
verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds
zu ergeben schienen, und weil im
u
brigen die Zeit dr
u
ngte, nahm der
Polizeioffizier La Fosse von seinem urspr
u
nglichen Entschluss wieder Abstand
und gab Anweisung, den Knaben bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen
Aush
u
ndigung einer Quittung abzugeben, damit man ihn dort taufe und
u
ber
sein weiteres Schicksal entscheide. Im Kloster von Saint-Merri in der Rue
Saint-Martin wurde man ihn los. Er erhielt die Taufe und den Namen
Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute Laune hatte und seine
karitativen Fonds noch nicht ersch
u
pft waren, ließ man das Kind nicht
nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufp
u
ppeln. Es wurde
zu diesem Behuf einer Amme namens Jeanne Bussie in der Rue Saint-Denis
u
bergeben, welche bis auf weiteres drei Franc pro Woche f
u
r ihre Bem
u
hungen
erhielt.
Einige Wochen sp
u
ter stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb
in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte dem
u
ffnenden Pater Terrier, einem etwa f
u
nfzigj
u
hrigen kahlk
u
pfigen, leicht
nach Essig riechenden M
u
nch "Da!" und stellte den Henkelkorb auf die
Schwelle.
"Was ist das?" sagte Terrier und beugte sich
u
ber den Korb und
schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
"Der Bastard der Kinderm
u
rderin aus der Rue aux Fers!"
Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht
des schlafenden S
u
uglings freigelegt hatte.
"Gut schaut er aus. Rosig und wohlgen
u
hrt."
"Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat
bis auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt k
u
nnt Ihr ihn
selber weiterf
u
ttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit R
u
bensaft. Er frisst
alles, der Bastard."
Pater Terrier war ein gem
u
tlicher Mann. In seine Zust
u
ndigkeit fiel die
Verwaltung des kl
u
sterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme
und Bed
u
rftige. Und er erwartete, dass man ihm daf
u
r Danke sagte und ihn des
weiteren nicht bel
u
stigte. Technische Einzelheiten waren ihm sehr zuwider,
denn Einzelheiten bedeuteten immer Schwierigkeiten, und Schwierigkeiten
bedeuteten eine St
u
rung seiner Gem
u
tsruhe, und das konnte er gar nicht
vertragen. Er
u
rgerte sich, dass er die Pforte
u
berhaupt ge
u
ffnet hatte. Er
w
u
nschte, dass diese Person ihren Henkelkorb n
u
hme und nach Hause ginge und
ihn in Ruhe ließe mit ihren S
u
uglingsproblemen.
Langsam richtete er sich auf und sog mit einem Atemzug den Duft von
Milch und k
u
siger Schafswolle ein, den die Amme verstr
u
mte. Es war ein
angenehmer Duft.
"Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf
du hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, dass es diesem S
u
ugling
durchaus nicht schaden w
u
rde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Br
u
sten
l
u
ge."
"Ihm nicht", schnarrte die Amme zur
u
ck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich
abgenommen und dabei gegessen f
u
r drei. Und wof
u
r? F
u
r drei Franc in der
Woche!"
"Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde:
Es geht also wieder einmal ums Geld."
"Nein!" sagte die Amme.
"Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht
es ums Geld. Einmal w
u
nschte ich mir, dass ich
u
ffnete, und es st
u
nde ein
Mensch da, dem es um etwas anderes ginge. Jemand, der beispielsweise eine
kleine Aufmerksamkeit vorbeibr
u
chte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar
N
u
sse. Es gibt doch im Herbst eine Menge Dinge, die man vorbeibringen
k
u
nnte. Blumen vielleicht. Oder wenn bloß jemand k
u
me und freundlich
sagte: >Gott zum Gruße, Pater Terrier, ich w
u
nsche Ihnen einen
sch
u
nen Tag!< Aber das werde ich wohl nie mehr erleben. Wenn es kein
Bettler ist, dann ist es ein H
u
ndler, und wenn es kein H
u
ndler ist, dann ist
es ein Handwerker, und wenn er kein Almosen will, dann pr
u
sentiert er eine
Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich
auf die Straße gehe, bin ich nach drei Schritten umzingelt von
Individuen, die Geld wollen!"
"Nicht von mir", sagte die Amme.
"Aber ich sage dir eines: Du bist nicht die einzige Amme im Sprengel.
Es gibt Hunderte von erstklassigen Ziehm
u
ttern, die sich darum reißen
werden, diesen entz
u
ckenden S
u
ugling f
u
r drei Franc pro Woche an die Brust
zu legen oder ihm Brei oder S
u
fte oder sonstige N
u
hrmittel
einzufl
u
ßen..."
"Dann gebt ihn einer von denen!"
"... Andrerseits ist es nicht gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer
weiß, ob es mit anderer Milch so gut gedeiht wie mit deiner. Es ist
den Duft deiner Brust gew
u
hnt, musst du wissen, und den Schlag deines
Herzens."
Und abermals nahm er einen tiefen Atemzug vom warmen Dunst, den die
Amme verstr
u
mte, und sagte dann, als er merkte, dass seine Worte keinen
Eindruck auf sie gemacht hatten:
"Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache mit dem Prior
besprechen. Ich werde ihm vorschlagen, dir k
u
nftig vier Franc in der Woche
zu geben."
"Nein", sagte die Amme.
"Also gut: f
u
nf!"
"Nein."
"Wie viel verlangst du denn noch?" schrie Terrier sie an. "F
u
nf Franc
sind ein Haufen Geld f
u
r die untergeordnete Aufgabe, ein kleines Kind zu
ern
u
hren!"
"Ich will
u
berhaupt kein Geld", sagte die Amme. "Ich will den Bastard
aus dem Haus haben."
"Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem
Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er
schreit nicht, er schl
u
ft gut, und er ist getauft."
"Er ist vom Teufel besessen."
Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.
"Unm
u
glich! Es ist absolut unm
u
glich, dass ein S
u
ugling vom Teufel
besessen ist. Ein S
u
ugling ist kein Mensch, sondern ein Vormensch und
besitzt noch keine voll ausgebildete Seele. Infolgedessen ist er f
u
r den
Teufel uninteressant. Spricht er vielleicht schon? Zuckt es in ihm? Bewegt
er Dinge im Zimmer? Geht ein
u
bler Gestank von ihm aus?"
"Er riecht
u
berhaupt nicht", sagte die Amme.
"Da hast du es! Das ist ein eindeutiges Zeichen. Wenn er vom Teufel
besessen w
u
re, m
u
sste er stinken."
Und um die Amme zu beruhigen und seinen eigenen Mut unter Beweis zu
stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.
"Ich rieche nichts Absonderliches", sagte er, nachdem er eine Weile
geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings,
als ob da etwas aus der Windel r
u
che." Und er hielt ihr den Korb hin, damit
sie seinen Eindruck best
u
tige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch
und schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in der Windel ist.
Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht."
"Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht
er nicht! Nur kranke Kinder riechen, das ist doch bekannt. Bekanntlich
riecht ein Kind, das Blattern hat, nach Pferdedung, und eines, welches
Scharlachfieber hat, nach alten
u
pfeln, und ein schwinds
u
chtiges Kind, das
riecht nach Zwiebeln. Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll es
denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?"
"Nein", sagte die Amme. "Meine Kinder riechen so, wie Menschenkinder
riechen sollen."
Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zur
u
ck, denn er
f
u
hlte, wie die ersten Wallungen von Wut
u
ber die Widerborstigkeit der
Person in ihm aufstiegen. Es war nicht auszuschließen, dass er im
Fortgang des Disputes beide Arme zur freieren Gestik ben
u
tigte, und er
wollte nicht, dass der S
u
ugling dadurch Schaden n
u
hme. Vorerst allerdings
verknotete er seine H
u
nde hinter dem R
u
cken, streckte der Amme seinen
spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie
ein Menschenkind, das ja immerhin auch - daran m
u
chte ich erinnern, zumal
wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?"
"Ja", sagte die Amme.
"Und behauptest ferner, dass, wenn es nicht r
u
che, wie du meintest,
dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue Saint-Denis!
-, es dann ein Kind des Teufels sei?" Er schwang die Linke hinter seinem
R
u
cken hervor und hielt ihr drohend den gebogenen Zeigefinger wie ein
Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme
u
berlegte. Es war ihr nicht recht, dass
das Gespr
u
ch mit einem Mal zu einem theologischen Verh
u
r ausartete, bei dem
sie nur unterliegen konnte.
"Das will ich nicht gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die
Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das m
u
sst Ihr selbst
entscheiden, Pater Terrier, daf
u
r bin ich nicht zust
u
ndig. Ich weiß
nur eins: dass mich vor diesem S
u
ugling graust, weil er nicht riecht, wie
Kinder riechen sollen."
"Aha", sagte Terrier befriedigt und ließ seinen Arm wieder
zur
u
ckpendeln. "Das mit dem Teufel nehmen wir also wieder zur
u
ck. Gut. Aber
nun sage mir gef
u
lligst: Wie riecht ein S
u
ugling denn, wenn er so riecht,
wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?"
"Gut riecht er", sagte die Amme.
"Was heisst >gut<?" br
u
llte Terrier sie an. "Gut riecht vieles.
Ein Bund Lavendel riecht gut. Suppenfleisch riecht gut. Die G
u
rten von
Arabien riechen gut. Wie riecht ein S
u
ugling, will ich wissen?"
Die Amme z
u
gerte. Sie wusste wohl, wie S
u
uglinge rochen, sie wusste es
ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende gen
u
hrt, gepflegt, geschaukelt,
gek
u
sst... sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den
S
u
uglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch
nie mit Worten bezeichnet.
"Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingern
u
geln.
"Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil...
weil, sie riechen nicht
u
berall gleich, obwohl sie
u
berall gut riechen,
Pater, verstehen Sie, also an den F
u
ßen zum Beispiel, da riechen sie
wie ein glatter warmer Stein - nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie
frische Butter, ja genau: wie frische Butter riechen sie. Und am K
u
rper
riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch gelegt hat. Und am
Kopf, da oben, hinten auf dem Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da,
schauen Sie, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist...", und sie tippte
Terrier, der
u
ber diesen Schwall detaillierter Dummheit f
u
r einen Moment
sprachlos geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze,
"... hier, genau hier, da riechen sie am besten. Da riechen sie nach
Karamel, das riecht so s
u
ß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine
Vorstellung! Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie, ganz gleich
ob es die eignen oder fremde sind. Und so und nicht anders m
u
ssen kleine
Kinder riechen. Und wenn sie nicht so riechen, wenn sie da oben gar nicht
riechen, noch weniger als kalte Luft, so wie der da, der Bastard, dann...
Sie k
u
nnen das erkl
u
ren, wie Sie wollen, Pater, aber ich" - und sie
verschr
u
nkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so
angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren F
u
ßen, als enthielte er
Kr
u
ten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!"
Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal
mit dem Finger
u
ber die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den
Finger wie zuf
u
llig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.
"Wie Karamel...?" fragte er und versuchte, seinen strengen Ton
wiederzufinden... "Karamel! Was weisst du von Karamel? Hast du schon mal
welches gegessen?"
"Nicht direkt", sagte die Amme. "Aber ich war einmal in einem
großen Hotel in der Rue Saint-Honore und habe zugesehen, wie es
gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es
nicht mehr vergessen habe."
"Jaja. Schon recht", sagte Terrier und entfernte den Finger von der
Nase. "Bitte schweige jetzt! Es ist f
u
r mich
u
beraus anstrengend, mich
weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du
weigerst dich, aus welchen Gr
u
nden auch immer, den dir anvertrauten S
u
ugling
Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ern
u
hren, und erstattest ihn hiermit
seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zur
u
ck. Ich finde
das betr
u
blich, aber ich kann es wohl nicht
u
ndern. Du bist entlassen."
Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem
verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloss. Dann
ging er in sein B
u
ro.
Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie
studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und besch
u
ftigte sich
nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines
kritischen Geistes. Zwar w
u
re er nicht so weit gegangen, wie manche es
taten, die Wunder, die Orakel oder die Wahrheit der Texte der Heiligen
Schrift in Frage zu stellen, auch wenn sie strenggenommen mit Vernunft
allein nicht zu erkl
u
ren waren, ja dieser sogar oft direkt widersprachen.
Von solchen Problemen ließ er lieber seine Finger, sie waren ihm zu
ungem
u
tlich und w
u
rden ihn nur in die peinlichste Unsicherheit und Unruhe
st
u
rzen, wo man doch, gerade um sich seiner Vernunft zu bedienen, der
Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bek
u
mpfte,
waren die abergl
u
ubischen Vorstellungen des einfachen Volkes: Hexerei und
Kartenlesen, Amulettgetrage, b
u
ser Blick, Beschw
u
rungen, Vollmondhokuspokus
und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen,
dass solche heidnischen Gebr
u
uche nach
u
ber tausendj
u
hriger fester
Installation der christlichen Religion immer noch nicht ausgerottet waren!
Auch die meisten F
u
lle von sogenannter Teufelsbesessenheit und
Satansb
u
ndelei erwiesen sich bei n
u
herer Betrachtung als abergl
u
ubisches
Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu leugnen, seine Macht zu
bezweifeln - so weit w
u
rde Terrier nicht gehen; solche Probleme zu
entscheiden, die die Grundfesten der Theologie ber
u
hrten, waren andere
Instanzen berufen als ein kleiner einfacher M
u
nch. Auf der anderen Seite lag
es klar zutage, dass, wenn eine einf
u
ltige Person wie jene Amme behauptete,
sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im
Spiel haben konnte. Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein
sicherer Beweis daf
u
r, dass da nichts Teuflisches zu entdecken war, denn so
dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme
Jeanne Bussie entlarven ließ. Und noch dazu mit der Nase! Mit dem
primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als r
u
che die H
u
lle nach
Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube,
wie in dunkelster heidnischster Vorzeit, als die Menschen noch wie Tiere
lebten, als sie noch keine scharfen Augen besaßen, die Farbe nicht
kannten, aber Blut riechen zu k
u
nnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu
erriechen, von kannibalischen Riesen und Werw
u
lfen gewittert und von
Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen G
u
ttern stinkende,
qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht der Narr mit der
Nase< mehr als mit den Augen, und wahrscheinlich musste das Licht der
gottgegebenen Vernunft noch tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten
Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.
"Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem
Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verd
u
chtigungen, die gegen
es erhoben werden. Du r
u
chest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt
die unversch
u
mte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu?
Duziduzi!"
Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem S
u
ugling
mit dem Finger
u
ber den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit "duziduzi", was er
f
u
r einen auf Kleinkinder z
u
rtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt.
"Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!"
Nach einer Weile zog er den Finger zur
u
ck, hielt ihn sich unter die
Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags
gegessen hatte. Er z
u
gerte einen Moment, blickte sich um, ob ihn auch
niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine dicke Nase hinein. Ganz
knapp, so dass die d
u
nnen r
u
tlichen Kindshaare seine N
u
stern kitzelten,
schnoberte er
u
ber den Kopf des S
u
uglings, in der Erwartung, einen Geruch
aufzusaugen. Er wusste nicht so recht, wie S
u
uglinge am Kopf zu riechen
hatten. Nat
u
rlich nicht nach Karamel, so viel stand fest, denn Karamel war
ja geschmolzener Zucker, und wie sollte ein S
u
ugling, der bisher nur Milch
getrunken hatte, nach geschmolzenem Zucker riechen. Nach Milch k
u
nnte er
riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren konnte
er riechen, nach Haut und Haaren und vielleicht nach ein bisschen
Kinderschweiß. Und Terrier schnupperte und stellte sich darauf ein,
Haut, Haare und ein bisschen Kinderschweiß
zu
riechen. Aber er roch
nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein S
u
ugling nicht,
dachte er, so wird das sein. Ein S
u
ugling, sofern reinlich gehalten, riecht
eben nicht, genausowenig wie er spricht, l
u
uft oder schreibt. Diese Dinge
kommen erst mit dem Alter. Strenggenommen str
u
mt der Mensch sogar erst Duft
aus, wenn er pubertiert. So ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon
Horaz "Es b
u
ckelt der J
u
ngling, es duftet erbl
u
hend die Jungfrau wie eine
weiße Narzisse..."?- und die R
u
mer verstanden etwas davon! Der
Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft - also ein s
u
ndiger Duft. Wie
sollte also ein S
u
ugling, der doch noch nicht einmal im Traume die
fleischliche S
u
nde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar
nicht!
Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte.
Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke
hervor, klein und rot, und zuckte manchmal r
u
hrend gegen die Wange. Terrier
l
u
chelte und kam sich pl
u
tzlich sehr gem
u
tlich vor. F
u
r einen Moment
gestattete er sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des
Kindes. Er w
u
re kein M
u
nch geworden, sondern ein normaler B
u
rger, ein
rechtschaffener Handwerker vielleicht, h
u
tte ein Weib genommen, ein warmes
wollig und milchig duftendes Weib, und h
u
tte mit ihr einen Sohn gezeugt und
hutschte ihn nun hier auf seinen eigenen Knien, sein eigenes Kind,
duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas
so Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn auf den Knien, duziduzi, es
war ein Bild so alt wie die Welt und immer ein neues und richtiges Bild,
solange die Welt bestand, ach ja! Es wurde Terrier ein bisschen warm ums
Herz und sentimental im Gem
u
t.
Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase
bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein
und schnaubte sie in kurzen St
u
ßen aus, wie bei einem unvollkommenen
Niesen. Dann r
u
mpfte sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die
Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und
opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier
u
berzogen und
offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck,
dass sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. W
u
hrend die matten Augen
des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu
fixieren, und Terrier hatte das sehr sonderbare Gef
u
hl, als sei dieses Ziel
er, seine Person, Terrier selbst. Die winzigen Nasenfl
u
gel um die zwei
winzigen L
u
cher mitten im Gesicht des Kindes bl
u
hten sich wie eine
aufgehende Bl
u
te. Oder eher wie die N
u
pfe jener kleinen fleischfressenden
Pflanzen, die man im botanischen Garten des K
u
nigs hielt. Und wie von diesen
schien ein unheimlicher Sog von ihnen auszugehen. Es war Terrier, als sehe
ihn das Kind mit seinen N
u
stern, als sehe es ihn scharf und pr
u
fend an,
durchdringender, als man es mit Augen k
u
nnte, als verschl
u
nge es etwas mit
seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging, und das er nicht zur
u
ckhalten
und nicht verbergen konnte... Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, so
war es! Es witterte ihn aus! Und er kam sich mit einem Mal stinkend vor,
nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er
kam sich nackt und h
u
ßlich vor, wie begafft von jemandem, der
seinerseits nichts von sich preisgab. Selbst durch seine Haut schien es
hindurchzuriechen, in sein Innerstes hinein. Die zartesten Gef
u
hle, die
schmutzigsten Gedanken lagen bloß vor dieser gierigen kleinen Nase,
die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein Stups, ein sich st
u
ndig
kr
u
uselndes und bl
u
hendes und bebendes winziges l
u
chriges Organ. Terrier
schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas
u
belriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der
anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben
das sentimentale Idyll von Vater und Sohn und duftender Mutter. Wie
weggerissen der gem
u
tlich umh
u
llende Gedankenschleier, den er sich um das
Kind und sich selbst zurecht phantasiert hatte: Ein fremdes, kaltes Wesen
lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal, und wenn er nicht ein so
besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter
gewesen w
u
re, so h
u
tte er es in einem Anflug von Ekel wie eine Spinne von
sich geschleudert.
Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er
wollte das Ding loshaben, m
u
glichst schnell, m
u
glichst gleich, m
u
glichst
sofort.
Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riss seinen
roten Schlund auf und kreischte so widerw
u
rtig schrill, dass Terrier das
Blut in den Adern erstarrte. Er sch
u
ttelte den Korb mit ausgestreckter Hand
und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es br
u
llte
nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor
Br
u
llen zerplatzen.
Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem...
>Teufel< wollte er sagen und riss sich zusammen und verkniff es
sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem unertr
u
glichen Kind! Aber wohin?
Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenh
u
user im Quartier, aber das war ihm
zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg musste das Ding, so
weit, dass man's nicht h
u
rte, so weit, dass man's ihm nicht jede Stunde
wieder vor die T
u
re stellen konnte, nach M
u
glichkeit musste es in einen
anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros,
in den Faubourg Saint-Antoine, das war's!, dahin kam der schreiende Balg,
weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.
Und er raffte seine Soutane und ergriff den br
u
llenden Korb und rannte
davon, rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die
Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis zur Rue de
Charonne und diese fast bis zum Ende, wo er, in der N
u
he des Klosters der
Madeleine de Trenelle, die Adresse einer gewissen Madame Gaillard kannte,
welche Kostkinder jeglichen Alters und jeglicher Art aufnahm, solange nur
jemand daf
u
r zahlte, und dort gab er das immer noch schreiende Kind ab,
zahlte f
u
r ein Jahr im voraus und floh zur
u
ck in die Stadt, warf, im Kloster
angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis
Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug,
lange betete und endlich erleichtert entschlief.
Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das
Leben schon hinter sich.
u
ußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem
wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal
so alt, n
u
mlich wie die Mumie eines M
u
dchens; innerlich aber war sie l
u
ngst
tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken
u
ber
die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den
Geruchssinn verloren und jedes Gef
u
hl f
u
r menschliche W
u
rme und menschliche
K
u
lte und
u
berhaupt jede Leidenschaft. Z
u
rtlichkeit war ihr mit diesem einen
Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung.
Sie empfand nichts, als sie sp
u
ter ein Mann beschlief, und ebenso nichts,
als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht
u
ber die, die ihr starben, und
freute sich nicht an denen, die ihr blieben. Als ihr Mann sie pr
u
gelte,
zuckte sie nicht, und sie versp
u
rte keine Erleichterung, als er im
Hotel-Dieu an der Cholera starb. Die zwei einzigen Sensationen, die sie
kannte, waren eine ganz leichte Gem
u
tsverd
u
sterung, wenn die monatliche
Migr
u
ne nahte, und eine ganz leichte Gem
u
tsaufhellung, wenn die Migr
u
ne
wieder wich. Sonst sp
u
rte diese abgestorbene Frau nichts.
Auf der anderen Seite... oder vielleicht gerade wegen ihrer
vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen
gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr
anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei
Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen
dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die
Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger.
Exakt die H
u
lfte des Kostgelds verwandte sie f
u
r die Z
u
glinge, exakt die
H
u
lfte behielt sie f
u
r sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren
Gewinn zu erh
u
hen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol
zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Gesch
u
ft h
u
tte sich
sonst f
u
r sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das
ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und
dar
u
berhinaus noch so viel besitzen, dass sie es sich leisten konnte, zu
Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod
selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem
u
ffentlichen
gemeinsamen Sterben mit Hunderten von fremden Menschen. Sie wollte sich
einen privaten Tod leisten, und dazu brauchte sie die volle Marge vom
Kostgeld: Zwar, es gab Winter, da starben ihr von den zwei Dutzend kleinen
Pension
u
ren drei oder vier. Doch damit lag sie immer noch erheblich besser
als die meisten anderen privaten Ziehm
u
tter und
u
bertraf die großen
staatlichen oder kirchlichen Findelh
u
user, deren Verlustquote oft neun
Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im
Jahr
u
ber zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ
sich mancher Ausfall verschmerzen.
F
u
r den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard
ein Segen. Wahrscheinlich h
u
tte er nirgendwo anders
u
berleben k
u
nnen. Hier
aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine z
u
he
Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall
u
berlebt hatte,
ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte
tagelang w
u
ssrige Suppen essen, er kam mit der d
u
nnsten Milch aus, vertrug
das faulste Gem
u
se und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit
u
berlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen
Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbr
u
hung der Brust mit kochendem
Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht
verkr
u
ppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war z
u
h
wie ein resistentes Bakterium und gen
u
gsam wie ein Zeck, der still auf einem
Baum sitzt und von einem winzigen Blutstr
u
pfchen lebt, das er vor Jahren
erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er f
u
r
seinen K
u
rper. F
u
r seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung,
Z
u
rtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind
angeblich bedurfte - waren dem Kinde Grenouille v
u
llig entbehrlich.
Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um
u
berhaupt leben zu k
u
nnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der
Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und
seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach
Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast m
u
chte man sagen
ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene
gegen
die Liebe und dennoch
f
u
r
das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden
Umst
u
nden war dieses ja auch nur ohne jene m
u
glich, und h
u
tte das Kind
beides gefordert, so w
u
re es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es
h
u
tte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende M
u
glichkeit
ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne den Umweg
u
ber das Leben w
u
hlen k
u
nnen, und es h
u
tte damit der Welt und sich selbst
eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten, h
u
tte es eines
Mindestmaßes an eingeborener Freundlichkeit bedurft, und die
besaß Grenouille nicht. Er war von Beginn an ein Scheusal. Er
entschied sich f
u
r das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
Selbstverst
u
ndlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch
sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und
Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu w
u
hlen. Aber er
entschied sich doch vegetativ, so wie eine weggeworfene Bohne entscheidet,
ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben l
u
sst.
Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu
bieten hat als ein immerw
u
hrendes
u
berwintern. Der kleine h
u
ßliche
Zeck, der seinen bleigrauen K
u
rper zur Kugel formt, um der Außenwelt
die geringstm
u
gliche Fl
u
che zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht,
um nichts zu verstr
u
men, kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der
Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe
und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume
hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert,
meilenweit, das Blut vor
u
berwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft
niemals erreichen wird. Der Zeck k
u
nnte sich fallen lassen. Er k
u
nnte sich
auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen
ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum
Sterben legen, es w
u
re nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der
Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis
ihm der h
u
chst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres
direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zur
u
ckhaltung auf,
l
u
sst sich fallen und krallt und bohrt und beisst sich in das fremde
Fleisch...
So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot;
kein L
u
cheln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen
eigenen Duft. Jede andere Frau h
u
tte dieses monstr
u
se Kind verstoßen.
Nicht so Madame Gaillard. Sie roch ja nicht, dass es nicht roch, und sie
erwartete keine seelische Regung von ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt
war.
Die andern Kinder dagegen sp
u
rten sofort, was es mit Grenouille auf
sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die
Kiste, in der er lag, und r
u
ckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen,
als w
u
re es k
u
lter geworden im Zimmer. Die j
u
ngeren schrien manchmal des
Nachts; ihnen war, als z
u
ge ein Windzug durch die Kammer. Andere tr
u
umten,
es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die
u
lteren zusammen, um
ihn zu ersticken. Sie h
u
uften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht
und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am n
u
chsten
Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdr
u
ckt und blau, aber nicht tot.
Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erw
u
rgen, am
Hals, mit eigenen H
u
nden, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine
sicherere Methode gewesen w
u
re, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht
ber
u
hren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man
nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
Als er gr
u
ßer wurde, gaben sie die Mordanschl
u
ge auf. Sie hatten
wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, h
u
teten sich in jedem Fall vor Ber
u
hrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifers
u
chtig oder futterneidisch auf
ihn. F
u
r solche Gef
u
hle h
u
tte es im Hause Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es st
u
rte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.
Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts
Angsteinfl
u
ßendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders
groß, nicht stark, zwar h
u
ßlich, aber nicht so extrem
h
u
ßlich, dass man vor ihm h
u
tte erschrecken m
u
ssen. Er war nicht
aggressiv, nicht link, nicht hinterh
u
ltig, er provozierte nicht. Er hielt
sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als
f
u
rchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort "Fische", das
in einem Moment pl
u
tzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als
von ferne ein Fischverk
u
ufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware
ausschrie. Die n
u
chsten W
u
rter, derer er sich ent
u
ußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall", "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres der
Name eines G
u
rtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix,
der bei Madame Gaillard gelegentlich gr
u
bere und gr
u
bste Arbeiten
verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitw
u
rtern, den Adjektiven und
F
u
llw
u
rtern hatte er es weniger. Bis auf "ja" und "nein" - die er
u
brigens
sehr sp
u
t zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptw
u
rter, ja eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich,
und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen
unversehens geruchlich
u
berw
u
ltigten.
In der M
u
rzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der
W
u
rme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal geh
u
rt.
Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug
vorgekommen, als dass er sich die M
u
he gegeben h
u
tte, seinen Namen
auszusprechen. Das geschah erst an jenem M
u
rztag, als er auf dem Stapel
saß. Der Stapel war wie eine Bank an der S
u
dseite des Schuppens von
Madame Gaillard unter einem
u
berh
u
ngenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig
s
u
ß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des
Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der W
u
rme
br
u
seliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf
dem Stapel, den R
u
cken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen
geschlossen und r
u
hrte sich nicht. Er sah nichts, er h
u
rte und sp
u
rte
nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich
unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank
darin, impr
u
gnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst
Holz, wie eine h
u
lzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem
Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer
halben Stunde erst, das Wort "Holz" hervorw
u
rgte. Als sei er angef
u
llt mit
Holz bis
u
ber beide Ohren, als st
u
nde ihm das Holz schon bis zum Hals, als
habe er den Bauch, den Schlund, die Nase
u
bervoll von Holz, so kotzte er das
Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die
u
berw
u
ltigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken
drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte
wie auf h
u
lzernen Beinen davon. Noch Tage sp
u
ter war er von dem intensiven
Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu
kr
u
ftig in ihm aufstieg, beschw
u
rend "Holz, Holz" vor sich hin.
So lernte er sprechen. Mit W
u
rtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und
moralischer Natur, hatte er die gr
u
ßten Schwierigkeiten. Er konnte sie
nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern
und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut,
Dankbarkeit usw. - was damit ausgedr
u
ckt sein sollte, war und blieb ihm
schleierhaft.
Andrerseits h
u
tte die g
u
ngige Sprache schon bald nicht mehr
ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe
in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern
Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz,
altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne
Holzscheite, Holzsplitter und Holzbr
u
sel - und roch sie als so deutlich
unterschiedene Gegenst
u
nde, wie andre Leute sie nicht mit Augen h
u
tten
unterscheiden k
u
nnen.
u
hnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes
weiße Getr
u
nk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Z
u
glingen
verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach
Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je
nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen
hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass
ein von hundert Einzeld
u
ften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich
wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des
Feuers nur eben jenen einen Namen "Rauch" besaß... dass Erde,
Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von
anderem Geruch erf
u
llt und damit von andrer Identit
u
t beseelt waren, dennoch
nur mit jenen drei plumpen W
u
rtern bezeichnet sein sollten - all diese
grotesken Missverh
u
ltnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich
wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben
Grenouille am Sinn der Sprache
u
berhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu
ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt
erforderlich machte.
Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollst
u
ndig
erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der
n
u
rdlichen Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum,
Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht
geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest
im Ged
u
chtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische
Eigenger
u
che hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verf
u
gung, so
deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie
wieder roch, sondern dass er sie tats
u
chlich roch, wenn er sich ihrer wieder
erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Ger
u
che
erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als
bes
u
ße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Ger
u
chen, das ihn
bef
u
higte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchss
u
tze zu
bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen m
u
hsam
eingetrichterten W
u
rtern die ersten, zur Beschreibung der Welt h
u
chst
unzul
u
nglichen konventionellen S
u
tze stammelten. Am ehesten war seine
Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das
den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen T
u
ne abgelauscht hatte
und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem
Unterschied freilich, dass das Alphabet der Ger
u
che ungleich gr
u
ßer
und differenzierter war als das der T
u
ne, und mit dem Unterschied ferner,
dass sich die sch
u
pferische T
u
tigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in
seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur
von ihm selbst.
Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten
streifte er allein durch den n
u
rdlichen Faubourg Saint-Antoine, durch
Gem
u
seg
u
rten, Weinfelder,
u
ber Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach
Hause zur
u
ck, blieb tagelang verschollen. Die f
u
llige Z
u
chtigung mit dem
Stock ertrug er ohne Schmerzens
u
ußerung. Hausarrest, Essensentzug,
Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht
u
ndern. Ein eineinhalbj
u
hriger
sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne
erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen
Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn f
u
r schwachsinnig.
Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte F
u
higkeiten und
Eigenheiten besaß, die sehr ungew
u
hnlich, um nicht zu sagen
u
bernat
u
rlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit
und der Nacht v
u
llig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer
Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit
einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei
stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch
zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun,
ohne zu stolpern oder etwas umzustoßen. Noch merkw
u
rdiger freilich
erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte,
durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte W
u
nde und
geschlossene T
u
ren hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche
Z
u
glinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er
wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war.
Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst
nicht mehr wiederfand (sie
u
nderte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine
Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war
es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er n
u
mlich den Besuch einer
Person lange vor ihrem Eintreffen ank
u
ndigte oder das Nahen eines Gewitters
unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste W
u
lkchen am Himmel
stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern
mit seiner immer sch
u
rfer und pr
u
ziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe
im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch W
u
nde hindurch und
u
ber
eine Entfernung von mehreren Straßenz
u
gen hinweg - darauf w
u
re Madame
Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken
ihren Olfaktorius unbesch
u
digt gelassen h
u
tte. Sie war davon
u
berzeugt, der
Knabe m
u
sse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da
sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr
unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unertr
u
glich war ihr der Gedanke,
mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgf
u
ltig
verstecktes Geld durch W
u
nde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese
entsetzliche F
u
higkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn
loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit -
Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine j
u
hrlichen
Zahlungen ohne Angabe von Gr
u
nden einstellte. Madame mahnte nicht nach.
Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das f
u
llige Geld dann
immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging
mit ihm in die Stadt.
In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber
namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskr
u
ften hatte -
nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis.
Es gab n
u
mlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender
Tierh
u
ute, das Mischen von giftigen Gerb- und F
u
rbebr
u
hen, das Ausbringen
u
tzender Lohen -, die so lebensgef
u
hrlich waren, dass ein
verantwortungsbewusster Meister nach M
u
glichkeit nicht seine gelernten
Hilfskr
u
fte daf
u
r verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber
oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr
fragte. Nat
u
rlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals
Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine
u
berlebenschance
besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich dar
u
ber Gedanken zu machen.
Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverh
u
ltnis war beendet. Was mit
dem Z
u
gling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so
war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging
rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die
u
bergabe des
Knaben schriftlich best
u
tigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von f
u
nfzehn
Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de
Charonne. Sie versp
u
rte nicht den geringsten Anflug eines schlechten
Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch
gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, f
u
r das niemand
zahlte, w
u
re ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder
sogar zu ihren eigenen Lasten und h
u
tte wom
u
glich die Zukunft der anderen
Kinder gef
u
hrdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eignen,
abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch
w
u
nschte.
Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und
ihr auch sp
u
ter nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar
S
u
tzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon
innerlich gestorben, wurde zu ihrem Ungl
u
ck sehr, sehr alt. Anno 1782, mit
fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in
eine Rente ein, saß in ihrem H
u
uschen und wartete auf den Tod. Der Tod
aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt h
u
tte
rechnen k
u
nnen und was es im Lande noch nie gegeben hatte, n
u
mlich eine
Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung s
u
mtlicher
gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verh
u
ltnisse. Zun
u
chst
hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards pers
u
nliches
Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es mit einem
Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren m
u
ssen, sei enteignet und sein Besitz
an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so
aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen f
u
r Madame
Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin p
u
nktlich die Rente. Aber
dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter M
u
nze, sondern in
Form von kleinen bedruckten Papierbl
u
ttchen erhielt, und das war der Anfang
ihres materiellen Endes.
Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus,
das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen,
zu l
u
cherlich geringem Preis, denn es gab pl
u
tzlich außer ihr Tausende
von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder
bekam sie als Gegenwert nur diese bl
u
den Bl
u
ttchen, und wieder waren sie
nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging
nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in m
u
hevoller s
u
kularer
Arbeit zusammengescharrtes Verm
u
gen verloren und hauste in einer winzigen
m
u
blierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit
zwanzigj
u
hriger Versp
u
tung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer
langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr
erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort
Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort
brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen
bev
u
lkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein
Gemeinschaftsbett zu f
u
nf anderen alten wildfremden Weibern, k
u
rperdicht
Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller
u
ffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack gen
u
ht, um vier Uhr
fr
u
h nebst f
u
nfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und
unter dem d
u
nnen Gebimmel eines Gl
u
ckchens zum neubegr
u
ndeten Friedhof von
Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem
Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von
ungel
u
schtem Kalk.
Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr
bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause
ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie
h
u
tte wom
u
glich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den
einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.
Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit
dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen
hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der
geringsten Unbotm
u
ßigkeit zu Tode zu pr
u
geln. Sein Leben galt gerade
noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch
aus der N
u
tzlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte
Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu
machen. Von einem Tag zum
u
ndern verkapselte er wieder die ganze Energie
seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie
allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu
u
berdauern: z
u
h, gen
u
gsam, unauff
u
llig, das Licht der Lebenshoffnung auf
kleinster, aber wohlbeh
u
teter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an
F
u
gsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm
mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich
an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Ger
u
tschaften aufbewahrt
wurden und eingesalzne Rohh
u
ute hingen. Hier schlief er auf dem blanken
gestampften Erdboden. Tags
u
ber arbeitete er, solange es hell war, im Winter
acht, im Sommer vierzehn, f
u
nfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die
bestialisch stinkenden H
u
ute, w
u
sserte, enthaarte, kalkte,
u
tzte, walkte
sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben,
stieg hinab in die von beißendem Dunst erf
u
llten Lohgruben,
schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, H
u
ute und Rinden
u
bereinander,
streute zerquetschte Gall
u
pfel aus,
u
berdeckte den entsetzlichen
Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre sp
u
ter musste er ihn dann
wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus
ihrem Grab holen. Wenn er nicht H
u
ute ein- oder ausgrub, dann schleppte er
Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer,
Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser
zum Waschen, zum Weichen, zum Br
u
hen, zum F
u
rben. Monatelang hatte er keine
trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die
Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie
Waschleder.
Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam
er den Milzbrand, eine gef
u
rchtete Gerberkrankheit, die
u
blicherweise
t
u
dlich verl
u
uft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach
Ersatz um - nicht ohne Bedauern
u
brigens, denn einen gen
u
gsameren und
leistungsf
u
higeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt.
Entgegen aller Erwartung jedoch
u
berstand Grenouille die Krankheit. Ihm
blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den
Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch
h
u
ßlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner -
unsch
u
tzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von
nun an sogar mit rissigen und blutigen H
u
nden die schlechtesten H
u
ute
entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch
unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch
von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so
leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit
der Wert seines Lebens. Pl
u
tzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde
schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh
daraufgesch
u
ttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht
mehr ein. Das Essen war ausk
u
mmlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie
irgendein Tier, sondern wie ein n
u
tzliches Haustier.
Als er zw
u
lf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und
mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde
lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und
er besaß ein Quantum von Freiheit, das gen
u
gte, um weiterzuleben. Die
Zeit des
u
berwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er
witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das gr
u
ßte Geruchsrevier
der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.
Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von
Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein
Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue
Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, dr
u
ngte sich Haus so
eng an Haus, f
u
nf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und
die Luft unten am Boden wie in feuchten Kan
u
len stand und vor Ger
u
chen
starrte. Es mischten sich Menschen- und Tierger
u
che, Dunst von Essen und
Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und
frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und
blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Tr
u
nen, von Fett und
nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Ger
u
chen bildeten
einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anf
u
llte, sich
u
ber
den D
u
chern nur selten, unten am Boden niemals verfl
u
chtigte. Die Menschen,
die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus
ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtr
u
nkt, er war ja die
Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene
warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut sp
u
rt.
Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die
Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in
seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase
entwirrte das Kn
u
uel aus Dunst und Gestank zu einzelnen F
u
den von
Grundger
u
chen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm
uns
u
gliches Vergn
u
gen, diese F
u
den aufzudr
u
seln und aufzuspinnen.
Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke
gedr
u
ngt, mit geschlossenen Augen, halbge
u
ffnetem Mund und gebl
u
hten
N
u
stern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam
fließenden Wasser. Und wenn endlich ein Lufthauch ihm das Ende eines
zarten Duftfadens zuspielte, dann stieß er zu und ließ nicht
mehr los, dann roch er nichts mehr als diesen einen Geruch, hielt ihn fest,
zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich f
u
r alle Zeit. Es mochte ein
altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte aber auch ein
ganz neuer sein, einer, der kaum oder gar keine
u
hnlichkeit mit allem
besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige denn gesehen hatte: der
Geruch von geb
u
gelter Seide etwa; der Geruch eines Tees von Quendel, der
Geruch eines St
u
cks silberbestickten Brokats, der Geruch eines Korkens aus
einer Flasche mit seltenem Wein, der Geruch eines Schildpattkamms. Hinter
solchen ihm noch unbekannten Ger
u
chen war Grenouille her, sie jagte er mit
der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, ging er in
luftigeres Gel
u
nde, wo die Ger
u
che d
u
nner waren, sich mit Wind vermischten
und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den Platz der Hallen etwa, wo in
den Ger
u
chen abends noch der Tag fortlebte, unsichtbar, aber so deutlich,
als wuselten da noch im Gedr
u
nge die H
u
ndler, als st
u
nden da noch die
vollgepackten K
u
rbe mit Gem
u
se und Eiern, die F
u
sser voll Wein und Essig,
die S
u
cke mit Gew
u
rzen und Kartoffeln und Mehl, die K
u
sten mit N
u
geln und
Schrauben, die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen und Geschirr und
Schuhsohlen und all den hundert
u
ndern Dingen, die dort tags
u
ber verkauft
wurden... das ganze Getriebe war bis in die kleinste Einzelheit pr
u
sent in
der Luft, die es hinterlassen hatte. Grenouille sah den ganzen Markt
riechend, wenn man so sagen kann. Und er roch ihn genauer, als mancher ihn
sehen k
u
nnte, denn er nahm ihn im nachhinein wahr und deshalb auf h
u
here
Weise: als Essenz, als den Geist von etwas Gewesenem, der nicht durch die
u
blichen Attribute der Gegenwart gest
u
rt war, alsda sind der L
u
rm, das
Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
Oder er ging dorthin, wo man seine Mutter gek
u
pft hatte, zur Place de
Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen,
ans Ufer gezogen oder an Pfosten vert
u
ut, die Schiffe und rochen nach Kohle
und Korn und Heu und feuchten Tauen.
Und von Westen her kam durch diese einzige Schneise, die der Fluss
durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte Ger
u
che vom Land
her, von den Wiesen bei Neuilly, von den W
u
ldern zwischen Saint-Germain und
Versailles, von weit entfernt gelegenen St
u
dten wie Rouen oder Caen und
manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebl
u
htes Segel, in dem sich
Wasser, Salz und eine kalte Sonne fingen. Es roch simpel, das Meer, aber
zugleich roch es groß und einzigartig, so dass Grenouille z
u
gerte,
seinen Geruch aufzuspalten in das Fischige, das Salzige, das W
u
ssrige, das
Tangige, das Frische und so weiter. Er ließ den Geruch des Meeres
lieber beisammen, verwahrte ihn als ganzes im Ged
u
chtnis und genoss ihn
ungeteilt. Der Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er sich w
u
nschte,
ihn einmal rein und unvermischt und in solchen Mengen zu bekommen, dass er
sich dran besaufen k
u
nnte. Und sp
u
ter, als er aus Erz
u
hlungen erfuhr, wie
groß das Meer sei und dass man darauf tagelang mit Schiffen fahren
konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er
s
u
ße auf so einem Schiff, hoch oben im Korb auf dem vordersten Mast,
und fl
u
ge dahin durch den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich
gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Ger
u
che,
und l
u
se sich auf vor Vergn
u
gen in diesem Atem. Aber dahin sollte es nie
kommen, denn Grenouille, der an der Place de Greve am Ufer stand und
mehrmals einen kleinen Fetzen Meerwind, den er in die Nase bekommen hatte,
aus- und einatmete, sollte das Meer, das eigentliche Meer, den großen
Ozean, der im Westen lag, in seinem Leben niemals sehen und sich nie mit
diesem Geruch vermischen d
u
rfen.
Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er
bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht
zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zun
u
chst nach Westen hin
zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur
Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses
hin
u
ber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die
reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach
Kutschenleder und nach dem Puder in den Per
u
cken der Pagen, und
u
ber die
hohen Mauern hinweg strich aus den G
u
rten der Duft des Ginsters und der
Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass
Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch:
einfache Lavendel- oder Rosenw
u
sser, mit denen bei festlichen Anl
u
ssen die
Springbrunnen der G
u
rten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere
D
u
fte von Moschustinktur gemischt mit dem
u
l von Neroli und Tuberose,
Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den
Equipagen herwehten. Er registrierte diese D
u
fte, wie er profane Ger
u
che
registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er,
dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken,
und er erkannte die G
u
te der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden.
Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr
zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere
Wohlger
u
che w
u
rde herstellen k
u
nnen, wenn er nur
u
ber die gleichen
Grundstoffe verf
u
gte.
Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und
Gew
u
rzst
u
nden des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er
aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Ged
u
chtnis: Amber,
Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe,
Hopfenbl
u
te, Bibergeil...
W
u
hlerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landl
u
ufig als guter
oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht.
Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu
besitzen, was die Welt an Ger
u
chen zu bieten hatte, und die einzige
Bedingung war, dass die Ger
u
che neu seien. Der Duft eines schweißenden
Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte gr
u
ne Geruch schwellender
Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst
von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftsk
u
chen quoll. Alles,
alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der
synthetisierenden Geruchsk
u
che seiner Phantasie, in der er st
u
ndig neue
Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein
u
sthetisches Prinzip.
Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zerst
u
rte wie ein
Kind, das mit Baukl
u
tzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne
erkennbares sch
u
pferisches Prinzip.
Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des K
u
nigs,
ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war
nicht so spektakul
u
r wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des
K
u
nigs oder wie jenes legend
u
re Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin,
aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene
Sonnenr
u
der auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Br
u
cke spieen
sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und
w
u
hrend all
u
berall unter bet
u
ubendem L
u
rm Petarden platzten und Knallfr
u
sche
u
ber das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten
weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendk
u
pfige Menge,
welche sowohl auf der Br
u
cke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des
Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und
Ohs und Bravos und sogar mit Vivats - obwohl der K
u
nig seinen Thron schon
vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den H
u
hepunkt seiner
Beliebtheit l
u
ngst
u
berschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten
Ufer, dem Pont Royal gegen
u
ber. Er r
u
hrte keine Hand zum Beifall, er schaute
nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er
glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu k
u
nnen, aber es stellte sich
bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in
verschwenderischer Vielfalt funkelte und spr
u
hte und krachte und pfiff,
hinterließ ein h
u
chst eint
u
niges Duftgemisch von Schwefel,
u
l und
Salpeter.
Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um
an der Galerie des Louvre entlang heimw
u
rts zu gehen, als ihm der Wind etwas
zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Br
u
selchen, ein Duftatom, nein,
noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tats
u
chlichen Duft - und
zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder
zur
u
ck an die Mauer, schloss die Augen und bl
u
hte die N
u
stern. Der Duft war
so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer
wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der
Petarden, blockiert von den Ausd
u
nstungen der Menschenmassen, zerst
u
ckelt
und zerrieben von den tausend andren Ger
u
chen der Stadt. Aber dann,
pl
u
tzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang
als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille
litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem
eine Kr
u
nkung widerfuhr, sondern tats
u
chlich sein Herz, das litt. Ihm
schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schl
u
ssel zur Ordnung aller anderen
D
u
fte, man habe nichts von den D
u
ften verstanden, wenn man diesen einen
nicht verstand, und er Grenouille, h
u
tte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm
nicht gel
u
nge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des
schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal
herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft
u
berhaupt kam. Manchmal
dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde,
minutenlang, und jedesmal
u
berfiel ihn die gr
u
ßliche Angst, er h
u
tte
ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten
Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus
s
u
d
u
stlicher Richtung.
Er l
u
ste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die
Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg
u
ber die Br
u
cke. Alle paar
Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um
u
ber die
K
u
pfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zun
u
chst nichts vor lauter
Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, st
u
rker
sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen F
u
hrte, tauchte unter, w
u
hlte
sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle
Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im
beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß
und rempelte weiter und w
u
hlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten
das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einm
u
ndung der
Rue de Seine...
Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt
ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen,
unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein.
Grenouille sp
u
rte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die
Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte
Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an
irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche
verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten
oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder
Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen
oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich W
u
rme; aber
nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse,
nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung
aus beidem, aus Fl
u
chtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit,
und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein St
u
ck
d
u
nner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie
honigs
u
ße Milch, in der sich Biskuit l
u
st - was j a nun beim besten
Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft,
unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar
nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverst
u
ndlichkeit.
Grenouille folgte ihm, mit b
u
nglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass
nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte
und nun unwiderstehlich zu sich zog.
Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die
H
u
user standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim
Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch st
u
rte, kein beißender
Pulvergestank. Die Straße duftete nach den
u
blichen D
u
ften von Wasser,
Kot, Ratten und Gem
u
seabfall. Dar
u
ber aber schwebte zart und deutlich das
Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige
Nachtlicht des Himmels von den hohen H
u
usern verschluckt, und Grenouille
ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch f
u
hrte ihn
sicher.
Nach f
u
nfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine
wom
u
glich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise
wurde der Duft nicht sehr viel st
u
rker. Er wurde nur reiner, und dadurch,
durch seine immer gr
u
ßer werdende Reinheit, bekam er eine immer
m
u
chtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer
Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer
eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof
f
u
hrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt
den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren
Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige
Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schr
u
ges Holzdach vor. Auf
einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein M
u
dchen saß an diesem
Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fr
u
chte aus einem Korb zu ihrer
Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in
einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille
blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er
u
ber
eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte:
nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war
das M
u
dchen.
F
u
r einen Moment war er so verwirrt, dass er tats
u
chlich dachte, er
habe in seinem Leben noch nie etwas so Sch
u
nes gesehen wie dieses M
u
dchen.
Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte
nat
u
rlich, er habe noch nie so etwas Sch
u
nes gerochen. Aber da er doch
Menschenger
u
che kannte, viele Tausende, Ger
u
che von M
u
nnern, Frauen,
Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem
Menschen entstr
u
men konnte.
u
blicherweise rochen Menschen nichtssagend oder
miserabel. Kinder rochen fad, M
u
nner urin
u
s, nach scharfem Schweiß und
K
u
se, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus
uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es,
dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und
die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die
Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tats
u
chlich nur ein
Augenblick, den er ben
u
tigte, um sich optisch zu vergewissern und sich
alsdann desto r
u
ckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns
hinzugeben. Nun
roch
er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß
ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und
roch mit gr
u
ßtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie
Meerwind, der Talg ihrer Haare so s
u
ß wie Nuss
u
l, ihr Geschlecht wie
ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenbl
u
te..., und die
Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert,
so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles,
was er selbst in seinem Innern an Geruchsgeb
u
uden spielerisch erschaffen
hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend D
u
fte
schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das h
u
here
Prinzip, nach dessen Vorbild sich die
u
ndern ordnen mussten. Er war die
reine Sch
u
nheit.
F
u
r Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben
keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte
zarteste Ver
u
stelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe
Erinnerung an ihn gen
u
gte nicht. Er wollte wie mit einem Pr
u
gestempel das
apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es
haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser
Zauberformel denken, leben, riechen.
Er ging langsam auf das M
u
dchen zu, immer n
u
her, trat unter das Vordach
und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie h
u
rte ihn nicht.
Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne
u
rmel. Ihre Arme
waren sehr weiß und ihre H
u
nde gelb vom Saft der aufgeschnittenen
Mirabellen. Grenouille stand
u
ber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt
v
u
llig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren,
aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstr
u
men
wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem M
u
dchen aber
wurde es k
u
hl.
Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gef
u
hl, ein
sonderbares Fr
u
steln, wie man es bekommt, wenn einen pl
u
tzlich eine alte
abgelegte Angst bef
u
llt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem
R
u
cken, als habe jemand eine T
u
re aufgestoßen, die in einen
riesengroßen kalten Keller f
u
hrt. Und sie legte ihr K
u
chenmesser weg,
zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte,
ihr seine H
u
nde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, r
u
hrte
sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an.
Ihr feines sommersprossen
u
bersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die
großen funkelnd gr
u
nen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen
fest geschlossen, w
u
hrend er sie w
u
rgte, und hatte nur die eine Sorge, von
ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die
Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie
u
berschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er st
u
rzte sein Gesicht auf ihre
Haut und fuhr mit weitgebl
u
hten N
u
stern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals,
in ihr Gesicht und durch die Haare und zur
u
ck zum Bauch, hinab an ihr
Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom
Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im
Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr
hocken, um sich zu versammeln, denn er war
u
bervoll von ihr. Er wollte
nichts von ihrem Duft versch
u
tten. Erst musste er die innern Schotten dicht
verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese
Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine
herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits
Augustins hin
u
ber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss f
u
hrte. Wenig
sp
u
ter entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden
angez
u
ndet. Die Wache kam. Grenouille war l
u
ngst am anderen Ufer.
In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine
Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gl
u
ck sei, hatte er in seinem Leben
bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zust
u
nde von
dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gl
u
ck und konnte vor
lauter Gl
u
ckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als w
u
rde er zum zweiten Mal
geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er
bloß animalisch existiert in h
u
chst nebul
u
ser Kenntnis seiner selbst.
Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich
sei: n
u
mlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und
Zweck und Ziel und h
u
here Bestimmung habe: n
u
mlich keine geringere, als die
Welt der D
u
fte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle
Mittel besitze: n
u
mlich seine exquisite Nase, sein ph
u
nomenales Ged
u
chtnis
und, als Wichtigstes von allem, den pr
u
genden Duft dieses M
u
dchens aus der
Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen
großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer,
Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Sch
u
nheit. Er hatte den Kompass
f
u
r sein k
u
nftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen
durch ein
u
ußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer
Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines
Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar,
weshalb er so z
u
h und verbissen am Leben hing: Er musste ein Sch
u
pfer von
D
u
ften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der gr
u
ßte Parfumeur
aller Zeiten.
Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum,
das riesige Tr
u
mmerfeld seiner Erinnerung. Er pr
u
fte die Millionen und
Abermillionen von Duftbaukl
u
tzen und brachte sie in eine systematische
Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes
zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der
n
u
chsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der D
u
fte immer
reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald
schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgeb
u
ude aufzurichten:
H
u
user, Mauern, Stufen, T
u
rme, Keller, Zimmer, geheime Gem
u
cher... eine
t
u
glich sich erweiternde, t
u
glich sich versch
u
nende und perfekter gef
u
gte
innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser
Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn
u
berhaupt bewusst,
vollkommen gleichg
u
ltig. An das Bild des M
u
dchens aus der Rue des Marais, an
ihr Gesicht, an ihren K
u
rper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er
hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip
ihres Dufts.
Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von
ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat
dazwischen, n
u
mlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der
Ile de la Cit
u
verband. Diese Br
u
cke war zu beiden Seiten so dicht mit
vierst
u
ckigen H
u
usern bebaut, dass man beim
u
berschreiten den Fluss an
keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest
fundierten und obendrein noch
u
ußerst eleganten Straße w
u
hnte.
In der Tat galt der Pont au Change f
u
r eine der feinsten Gesch
u
ftsadressen
der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten L
u
den, hier saßen
die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Per
u
ckenmacher und Taschner, die
Verfertiger feinster Dessous und Str
u
mpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelh
u
ndler,
Epaulettensticker, Goldkn
u
pfegießer und Bankiers. Und hier lag auch
das Gesch
u
fts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe
Baldini.
u
ber sein Schaufenster spannte sich ein pr
u
chtiger gr
u
nlackierter
Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon,
aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der T
u
re lag ein
roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei.
u
ffnete man die T
u
re, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei
silberne Reiher begannen, aus ihren Schn
u
beln Veilchenwasser in eine
vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis
Wappen besaß.
Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt
und starr wie eine S
u
ule, in silberbepuderter Per
u
cke und blauem
goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich
allmorgendlich bespr
u
hte, umgab ihn geradezu sichtbar und r
u
ckte seine
Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein
eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien
- beides geschah nicht allzu oft -, w
u
rde pl
u
tzlich Leben in ihn kommen,
w
u
rde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und
unter vielen B
u
cklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell,
dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen verm
u
chte, und den Kunden
bitten, Platz zu nehmen zur Vorf
u
hrung erlesenster D
u
fte und Kosmetika.
Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences
absolues, Bl
u
ten
u
len, Tinkturen, Ausz
u
gen, Sekreten, Balsamen, Harzen und
sonstigen Drogen in trockener, fl
u
ssiger oder wachsartiger Form,
u
ber
diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen,
Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Sch
u
nheitspfl
u
sterchen bis hin
zu Badew
u
ssern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl
echter Parfums. Doch Baldini begn
u
gte sich nicht mit diesen Produkten der
klassischen Sch
u
nheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden
alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem
Duft diente. Und so fanden sich neben R
u
ucherpastillen, R
u
ucherkerzen und
R
u
ucherb
u
ndern auch s
u
mtliche Gew
u
rze vom Anissamen bis zur Zimtrinde,
Sirups, Lik
u
re und Obstw
u
sser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige,
Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fr
u
chte, Feigen, Bonbons,
Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und
marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes
Briefpapier, nach Rosen
u
l riechende Liebestinte, Schreibmappen aus
spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, K
u
stchen und
Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen f
u
r Bl
u
tenbl
u
tter,
Weihrauchbeh
u
lter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit
geschliffenen St
u
pseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschent
u
cher,
mit Muskatbl
u
te gef
u
llte N
u
hnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die
ein Zimmer l
u
nger als einhundert Jahre mit Duft erf
u
llen konnten.
Nat
u
rlich hatten all diese Waren nicht im pomp
u
sen, zur Straße
(oder zur Br
u
cke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung
eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste
und zweite Stock sowie fast s
u
mtliche zum Fluss hin gelegenen R
u
ume des
Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini
ein unbeschreibliches Chaos von D
u
ften herrschte. So erlesen die Qualit
u
t
der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualit
u
t -,
so unertr
u
glich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem
tausendk
u
pfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja s
u
mtlich schwerh
u
rig sind,
und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerr
u
ume verteidigte, nahm die vielen Ger
u
che
kaum noch als st
u
rend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis
Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins
Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb er
u
berhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und
konnte nur noch mit sch
u
rfstem Riechsalz aus Nelken
u
l, Ammoniak und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
Unter diesen Umst
u
nden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das
persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladent
u
re immer seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.
"Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden
s
u
ulenstarr gestanden und die T
u
re angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre
Per
u
cke an!" Und zwischen Oliven
u
lf
u
ssern und h
u
ngenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas j
u
nger als dieser, aber auch schon
ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er
zog seine Per
u
cke aus der Rocktasche und st
u
lpte sie sich
u
ber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
"Nein", sagte Baldini, "ich werde mich f
u
r einige Stunden in mein
Arbeitszimmer zur
u
ckziehen und w
u
nsche, absolut nicht gest
u
rt zu werden."
"Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut f
u
r den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt angeblich von diesem... diesem St
u
mper aus der Rue Saint-Andre des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der St
u
mper.
>Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt
u
berall. An jeder
Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
baldini Nat
u
rlich nicht.
chenier Es riecht
u
ußerst gew
u
hnlich, dieses >Amor und
Psyche<.
baldini Vulg
u
r?
chenier Durchaus vulg
u
r, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist
Limetten
u
l darin.
baldini Wirklich? Was noch?
chenier Orangenbl
u
tenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
baldini Es ist mir auch v
u
llig gleichg
u
ltig.
chenier Nat
u
rlich.
baldini Es ist mir schnurzegal, was der St
u
mper Pelissier in sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
chenier Ich weiß, Monsieur.
baldini Geb
u
re sie allein aus mir!
chenier Ich weiß.
baldini Und ich gedenke, f
u
r den Grafen Verhamont etwas zu kreieren,
was wirklich Furore macht.
chenier Davon bin ich
u
berzeugt, Herr Baldini.
baldini Sie
u
bernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir
alles vom Leibe, Chenier...
Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie gepr
u
gelt, davon und stieg langsam
die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der
Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur T
u
re. Er wusste,
was in den n
u
chsten Stunden passieren w
u
rde: n
u
mlich gar nichts im Laden,
und oben im Arbeitszimmer Baldinis die
u
bliche Katastrophe. Baldini w
u
rde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtr
u
nkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung w
u
rde
nicht kommen. Er w
u
rde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von
Probefl
u
schchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese
Mischung w
u
rde missraten. Er w
u
rde fluchen, das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er w
u
rde etwas anderes probieren, auch das
w
u
rde missraten, er w
u
rde nun schreien und toben und in dem schon bet
u
ubend
riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er w
u
rde gegen sieben Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
"Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geb
u
ren,
ich kann die spanische Haut f
u
r den Grafen nicht liefern, ich bin verloren,
ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu
sterben!" Und Chenier w
u
rde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um
eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini w
u
rde zustimmen unter der
Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erf
u
hre, Chenier w
u
rde
schw
u
ren, und nachts w
u
rden sie heimlich das Leder f
u
r den Grafen Verhamont
mit dem fremden Parfum beduften. So w
u
rde es sein und nicht anders, und
Chenier w
u
nschte nur, er h
u
tte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini
war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fr
u
her, in seiner Jugend, vor
dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des S
u
dens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große D
u
fte, denen
er sein Verm
u
gen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er
u
berhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen demodiertes, unverk
u
ufliches Zeug, das sie ein Jahr sp
u
ter
zehnfach verd
u
nnten und als Springbrunnenwasserzusatz verh
u
kerten. Schade um
ihn, dachte Chenier und
u
berpr
u
fte den Sitz seiner Per
u
cke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein sch
u
nes Gesch
u
ft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben
wird, bin ich zu alt, um es zu
u
bernehmen...
Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers st
u
rte ihn schon l
u
ngst
nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn
u
berhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die T
u
re des
Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch, um zu gr
u
beln und auf eine Eingebung zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben w
u
rde;
er hatte n
u
mlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des S
u
dens< hatte er von
seinem Vater geerbt und das Rezept f
u
r >Baldinis galantes Bouquet<
einem durchreisenden Genueser Gew
u
rzh
u
ndler abgekauft. Die
u
brigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein Erfinder. Er war ein sorgf
u
ltiger Verfertiger von bew
u
hrten Ger
u
chen,
wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große
K
u
che macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
f
u
hrte er nur auf, weil das zum st
u
ndischen Berufsbild eines Maitre
Parfumeur et Gantier geh
u
rte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist,
der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein
Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war
sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, f
u
r den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er w
u
rde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier
u
berreden lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es,
auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit
geschliffenem St
u
psel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft.
Nat
u
rlich nicht pers
u
nlich. Er konnte doch nicht pers
u
nlich zu Pelissier
gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu
h
u
tte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
Das war
u
brigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich
unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter
eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon
wissen, denn Chenier war geschw
u
tzig.
Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man
besaß, die eigene Ehre, auf so sch
u
bige Weise befleckte! Aber was
sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls
verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der
Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als
er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die
Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der
gr
u
ßten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Gesch
u
ftslage,
finanziell nur noch
u
ber die Runden, wenn er mit dem K
u
fferchen in der Hand
Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit
u
ber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten
Marquisen Tausendblumenwasser und Vierr
u
uberessig vorzuf
u
hren oder ihnen
eine Migr
u
nesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen
Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Empork
u
mmling
Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das
gr
u
ßte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil,
der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder
dieser v
u
llig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue
Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach
welchem die ganze Welt verr
u
ckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte
den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser
in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und
Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit
>Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch
musste pl
u
tzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu
Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechs
u
ckchen n
u
hen. Hatte er
dagegen f
u
r das n
u
chste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und
Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens
>Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte
Baldini endlich in n
u
chtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder
herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier
schon wieder auf mit >T
u
rkische N
u
chte< oder >Lissabonner Duft<
oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst.
Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner z
u
gellosen Kreativit
u
t eine
Gefahr f
u
r das ganze Gewerbe. Man w
u
nschte sich die Rigidit
u
t des alten
Zunftrechts zur
u
ck. Man w
u
nschte sich die drakonischsten Maßnahmen
gegen diesen Aus-Der-Reihe-T
u
nzer, gegen diesen Duftinflation
u
r. Das Patent
geh
u
rte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und
u
berhaupt
sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur-
und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war
nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier,
nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit
Spirituosen umzugehen, konnte er
u
berhaupt ins Gehege der echten Parfumeure
einbrechen und darin herumw
u
ten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in
jeder Saison einen neuen Duft? War das n
u
tig? Das Publikum war fr
u
her auch
sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die
man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringf
u
gig
u
nderte. Jahrtausendelang
hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen,
u
len und
getrockneten W
u
rzkr
u
utern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten,
mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kr
u
utern,
Blumen und H
u
lzern das duftende Prinzip in Form von
u
therischem
u
l zu
entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und
Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den
Bl
u
tenbl
u
ttern zu entlocken, war die Zahl der D
u
fte noch bescheiden gewesen.
Damals w
u
re eine Figur wie Pelissier gar nicht m
u
glich gewesen, denn damals
brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade F
u
higkeiten, von denen
sich dieser Essigpanscher gar nichts tr
u
umen ließ. Man musste nicht
nur destillieren k
u
nnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker,
Alchimist und Handwerker, H
u
ndler, Humanist und G
u
rtner zugleich. Man musste
Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden k
u
nnen und ein
Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische
Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und
wann das Pelargonium bl
u
ht und dass die Bl
u
te des Jasmins mit aufgehender
Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier
selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen,
in seinem Leben bl
u
henden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er
einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es
bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbl
u
ten einen kleinen Klumpen Concrete
oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte
er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Fl
u
ssigkeit,
die in einem kleinen Fl
u
schchen neben vielen anderen Fl
u
schchen, aus denen
er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie
dieser Schn
u
sel Pelissier h
u
tte in den guten alten handwerklichen Zeiten
kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung,
Gen
u
gsamkeit und der Sinn f
u
r z
u
nftische Subordination. Seine
parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die
vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein
Italiener
u
brigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe
in Weingeist l
u
slich sind. Indem Frangipani seine Riechp
u
lverchen mit
Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fl
u
chtige Fl
u
ssigkeit
u
bertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft
vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen.
Was f
u
r eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den
gr
u
ßten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der
Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato
und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft
prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur
Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch
Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung
Frangipanis
u
ble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der
Blumen und Kr
u
uter, der H
u
lzer, Harze und der tierischen Sekrete in
Tinkturen festzubannen und auf Fl
u
schchen abzuf
u
llen, entglitt die Kunst des
Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen K
u
nnern
und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase
besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum
zu bek
u
mmern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fl
u
schchen je entstanden war,
konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen,
was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade w
u
nschte.
Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen
f
u
nfunddreißig Jahren schon jetzt ein gr
u
ßeres Verm
u
gen als er,
Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit
endlich angeh
u
uft hatte. Und Pelissiers nahm t
u
glich zu, w
u
hrend seins,
Baldinis, sich t
u
glich verminderte. So etwas w
u
re fr
u
her doch gar nicht
m
u
glich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingef
u
hrter
Commergant
um seine schiere Existenz zu k
u
mpfen hatte, das gab es doch erst seit
wenigen Jahrzehnten! Seitdem
u
berall und in allen Bereichen die hektische
Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese
Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in
den Wissenschaften!
Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen
Straßen, die
u
berall gebuddelt wurden, und die neuen Br
u
cken? Wozu?
War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war
daran gelegen? Wem n
u
tzte es? Oder
u
ber den Atlantik zu fahren, in einem
Monat nach Amerika zu rasen - als w
u
re man nicht jahrtausendelang sehr gut
ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im
Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen
sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische
fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der
angeblich in der S
u
dsee lag, wo immer das war. Und wozu dieser Wahnsinn?
Weil die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Engl
u
nder, die
impertinenten Holl
u
nder, mit denen man sich dann herumschlagen musste, was
man sich
u
berhaupt nicht leisten konnte. 300000 Livres kostet so ein
Kriegsschiff gut und gerne, und versenkt ist es in f
u
nf Minuten mit einem
einzigen Kanonenschuss, auf Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern.
Den zehnten Teil auf alle Eink
u
nfte verlangt der Herr Finanzminister
neuerdings, und das ist ruin
u
s, auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn
schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.
Das Ungl
u
ck des Menschen r
u
hrt daher, dass er nicht still in seinem
Zimmer bleiben will, dort, wo er hingeh
u
rt. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein
großer Mann gewesen, ein Frangipani des Geistes, ein Handwerker recht
eigentlich, und ein solcher ist heute nicht mehr gefragt. Jetzt lesen sie
aufwieglerische B
u
cher von Hugenotten oder Engl
u
ndern. Oder sie schreiben
Traktate oder sogenannte wissenschaftliche Großwerke, in denen sie
alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt
pl
u
tzlich anders sein. In einem Glas Wassers sollen neuerdings ganz kleine
Tierchen schwimmen, die man fr
u
her nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine
ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt
nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es
u
berhaupt war; die Wilden sind Menschen wie wir; unsere Kinder erziehen wir
falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und unten
platt wie eine Melone - als ob es darauf ank
u
me! In jedem Bereich wird
gefragt und gebohrt und geforscht und geschn
u
ffelt und herumexperimentiert.
Es gen
u
gt nicht mehr, dass man sagt, was ist und wie es ist - es muss jetzt
alles noch bewiesen werden, am besten mit Zeugen und Zahlen und
irgendwelchen l
u
cherlichen Versuchen. Diese Diderots und d'Alemberts und
Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen - sogar
geistliche Herren sind darunter und Herren von Adel! -, sie haben es
wahrhaft geschafft, ihre eigne perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am
Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begn
u
gen-k
u
nnens,
kurz: das grenzenlose Chaos, das in ihren K
u
pfen herrscht, auf die gesamte
Gesellschaft auszudehnen!
Wo man hinsah, herrschte Hektik. Leute lasen B
u
cher, sogar Frauen.
Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und einen
dieser Oberschurken ins Gef
u
ngnis steckte, dann heulten die Verleger auf und
reichten Petitionen ein, und h
u
chste Herren und Damen machten ihren Einfluss
geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland
ziehen ließ, wo er dann hemmungslos weiterpamphletisierte. In den
Salons palaverte man nur noch
u
ber Kometenbahnen und Expeditionen,
u
ber
Hebelkraft und Newton,
u
ber Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des
Erdballs.
Und selbst der K
u
nig ließ sich irgendeinen neumodischen Unsinn
vorf
u
hren, eine Art k
u
nstliches Gewitter namens Elektrizit
u
t: Im Angesicht
des ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine
Majest
u
t, so h
u
rt man, zeigte sich tief beeindruckt. Unvorstellbar, dass
sein Urgroßvater, der wahrhaft große Ludwig, unter dessen
segensreicher Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Gl
u
ck hatte gelebt zu
haben, eine so l
u
cherliche Demonstration vor seinen Augen geduldet h
u
tte!
Aber das war der Geist der neuen Zeit, und b
u
se w
u
rde alles enden!
Denn wenn man schon ungeniert und auf die frechste Art die Autorit
u
t
von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man
u
ber die nicht minder
gottgewollte Monarchie und die geheiligte Person des K
u
nigs sprach, als
seien beide bloß variable Posten in einem ganzen Katalog von anderen
Regierungsformen, die man nach Gusto ausw
u
hlen k
u
nne; wenn man sich
schließlich noch so weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst, den
Allm
u
chtigen, Ihn H
u
chstpers
u
nlich, als entbehrlich hinzustellen und allen
Ernstes zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Gl
u
ck auf Erden ohne
Ihn zu denken, rein aus der eingeborenen Moralit
u
t und der Vernunft der
Menschen selber... o Gott, o Gott! - dann allerdings brauchte man sich nicht
zu wundern, wenn sich alles von oben nach unten kehrte und die Sitten
verlotterten und die Menschheit das Strafgericht dessen, den sie
verleugnete, auf sich herabzog. B
u
se wird es enden. Der große Komet
von 1681,
u
ber den sie sich lustig gemacht haben, den sie als nichts als
einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben doch ein warnendes
Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja - ein
Jahrhundert der Aufl
u
sung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und
politischen und religi
u
sen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in
dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem nur noch schillernde und
stinkende Sumpfbl
u
ten gediehen wie dieser Pelissier!
Er stand am Fenster, der alte Mann Baldini, und schaute mit geh
u
ssigem
Blick gegen die schr
u
gstehende Sonne auf den Fluss hinaus. Lastk
u
hne
tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und
den Hafen vor den Galerien des Louvre zu. Keiner wurde hier gegen die
Str
u
mung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm auf der anderen Seite der
Insel. Hier str
u
mte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die
Ruderboote und die flachen K
u
hne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und
das golden gekr
u
uselte, alles str
u
mte weg, langsam, breit und unaufhaltsam.
Und wenn Baldini ganz steil nach unten blickte, hart an der Hauswand
entlang, dann war es, als s
u
ge das str
u
mende Wasser die Fundamente der
Br
u
cke davon, und es schwindelte ihm.
Es war ein Fehler gewesen, das Haus auf der Br
u
cke zu kaufen, und ein
doppelter Fehler, eines auf der westlich gelegenen Seite zu nehmen. Nun
hatte er dauernd den wegstr
u
menden Fluss vor Augen, und es war ihm, als
str
u
me er selbst und sein Haus und sein in vielen Jahrzehnten erworbener
Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch
gegen diese gewaltige Str
u
mung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf dem linken
Ufer zu tun hatte, im Viertel um die Sorbonne oder bei Saint-Sulpice, dann
ging er nicht
u
ber die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm den
l
u
ngeren Weg
u
ber den Pont Neuf, denn diese Br
u
cke war unbebaut. Und dann
stellte er sich an die
u
stliche Br
u
stung und schaute flussaufw
u
rts, um
wenigstens ein Mal alles auf sich zustr
u
men zu sehen; und f
u
r einige
Augenblicke schwelgte er in der Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe
sich umgekehrt, die Gesch
u
fte florierten, die Familie gediehe, die Frauen
fl
u
gen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen
hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus gebrechlich schmal und hoch auf
dem Pont au Change, und er sah das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten
Stock und sah sich selbst dort am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf
den Fluss und das wegstr
u
mende Wasser beobachten, wie jetzt. Und damit war
der sch
u
ne Traum verflogen, und Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte
sich ab, niedergeschlagener als zuvor, niedergeschlagen wie jetzt, da er
sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.
Vor ihm stand der Flakon mit Pelissiers Parfum. Die Fl
u
ssigkeit
schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne die geringste Tr
u
bung. Ganz
unschuldig sah sie aus, wie heller Tee - und enthielt doch neben vier
F
u
nfteln Alkohol ein F
u
nftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze
Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei
oder aus dreißig verschiedenen Stoffen bestehen, die in einem ganz
bestimmten von unz
u
hligen m
u
glichen Volumenverh
u
ltnissen zueinander standen.
Es war die Seele des Parfums - soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten
Gesch
u
ftemachers Pelissier von Seele reden konnte -, und ihren Aufbau galt
es nun herauszufinden.
Baldini schneuzte sich sorgf
u
ltig die Nase und ließ die Jalousie
am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff
und jeder feineren geruchlichen Konzentration abtr
u
glich. Aus der Schublade
des Schreibtischs holte er ein frisches weißes Spitzentaschentuch und
entfaltete es. Dann
u
ffnete er den Flakon durch eine leichte Drehung des
St
u
psels. Den Kopf hielt er dabei weit zur
u
ck und kniff die Nasenfl
u
gel
zusammen, denn er wollte um Gottes willen nicht einen vorschnellen
Geruchseindruck direkt aus der Flasche erwischen. Parfum musste in
entfaltetem, luftigem Zustand gerochen werden, niemals konzentriert. Er
sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um
den Alkohol davonzujagen, und hielt es sich dann unter die Nase. Mit drei
ganz kurzen, ruckartigen St
u
ßen riss er den Duft in sich hinein wie
ein Pulver, blies ihn sofort wieder aus, f
u
chelte sich Luft zu, schn
u
ffelte
noch einmal im Dreierrhythmus und nahm zum Abschluss einen ganz tiefen
Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie
u
ber eine
lange flache Treppe gleiten lassend, ausstr
u
mte. Er warf das Taschentuch auf
den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zur
u
ckfallen.
Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein
K
u
nner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, und wenn er tausendmal nichts
gelernt hatte! Baldini w
u
nschte, es w
u
re von ihm, dieses >Amor und
Psyche<. Es war keine Spur ordin
u
r. Absolut klassisch, rund und
harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht
reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß
Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe - und
war doch kein bisschen
u
berladen oder schw
u
lstig.
Baldini stand fast ehrf
u
rchtig auf und hielt sich das Taschentuch noch
einmal unter die Nase. "Wunderbar, wunderbar..." murmelte er und schn
u
ffelte
gierig, "es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist wie eine
Melodie, es macht direkt gute Laune... Unsinn, gute Laune!" Und er
schleuderte das T
u
chlein w
u
tend auf den Tisch zur
u
ck, wandte sich ab und
ging in die hinterste Ecke des Zimmers, als sch
u
me er sich seiner
Begeisterung.
L
u
cherlich! Sich zu solchen Elogen hinreißen zu lassen. >Wie
eine Melodie. Heiter. Wunderbar. Gute Laune.< - Bl
u
dsinn! Kindischer
Bl
u
dsinn. Eindruck des Augenblicks. Alter Fehler. Temperamentsfrage.
Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das
ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und
urteile, wenn du gerochen hast! >Amor und Psyche< ist ein nicht
unebenes Parfum. Ein durchaus gelungenes Produkt. Ein geschickt
zusammengestelltes Machwerk. Um nicht zu sagen ein Blendwerk. Und etwas
anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu
erwarten. Nat
u
rlich fabrizierte ein Kerl wie Pelissier kein Dutzendparfum.
Der Schurke blendete mit h
u
chster K
u
nnerschaft, verwirrte den Geruchssinn
mit perfekter Harmonie, ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war
dieser Mensch, mit einem Wort: ein Scheusal mit Talent. Und das war
schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
Aber du, Baldini, wirst dich nicht bet
u
ren lassen. Du warst nur einen
Augenblick lang
u
berrascht vom ersten Eindruck des Machwerks. Aber
weiß man denn, wie es in einer Stunde riechen wird, wenn seine
fl
u
chtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt?
Oder wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren, dunklen
Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich wie im Zwielicht unter
angenehmen Bl
u
tenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
Die zweite Regel sagt: Das Parfum lebt in der Zeit; es hat seine
Jugend, seine Reife und sein Alter. Und nur wenn es in allen drei
verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verstr
u
mt, ist es
als gelungen zu bezeichnen. Wie oft hatten wir nicht schon den Fall, dass
eine Mischung, die wir machten, bei der ersten Probe herrlich frisch roch,
nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft nach reinem
Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht
u
berhaupt mit Zibet! Ein Tropfen
zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß - vielleicht
hat Pelissier zu viel Zibet erwischt? Vielleicht bleibt bis heut Abend von
seinem ambiti
u
sen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse
u
brig? Wir werden's sehn.
Wir werden's riechen. So wie ein scharfes Beil den Holzklotz in die
kleinsten Scheite teilt, wird unsre Nase sein Parfum in jede Einzelheit
zerspalten. Dann wird sich zeigen, dass dieser angebliche Zauberduft auf
sehr normalem, wohlbekanntem Weg entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur,
werden dem Essigmischer Pelissier auf die Schliche kommen. Wir werden ihm
die Maske von der Fratze reißen und dem Neuerer beweisen, wozu das
alte Handwerk in der Lage ist. Haargenau wird es ihm nachgemischt, sein
modisches Parfum. Es wird unter unsern H
u
nden neu entstehen, so perfekt
kopiert, dass es der Windhund selbst nicht mehr von seinem eignen
unterscheiden kann. Nein! Das gen
u
gt uns nicht! Wir werden's noch
verbessern! Wir werden ihm Fehler nachweisen und sie ausmerzen und es ihm
auf diese Weise unter die Nase reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein
kleiner Stinker bist du! Ein Empork
u
mmling im Duftgewerbe, und sonst nichts!
An die Arbeit jetzt, Baldini! Die Nase gesch
u
rft und gerochen ohne
Sentimentalit
u
t! Den Duft zerlegt nach den Regeln der Kunst! Bis heute Abend
musst du im Besitz der Formel sein! Und er st
u
rzte zur
u
ck an den
Schreibtisch, holte Papier, Tinte und ein frisches Taschentuch heraus, legte
sich alles zurecht und begann seine analytische Arbeit. Das geschah so, dass
er das mit frischem Parfum getr
u
nkte Tuch rasch unter der Nase vorbeizog und
aus der vor
u
berfliegenden Duftwolke den einen oder anderen Bestandteil
aufzufangen suchte, ohne allzusehr von der komplexen Mischung aller Teile
abgelenkt zu sein; um dann, w
u
hrend er das Taschentuch mit ausgestrecktem
Arm weit von sich hielt, den Namen des gefundenen Bestandteils rasch zu
notieren und hierauf neuerdings das Tuch an der Nase vorbeifliegen zu
lassen, das n
u
chste Duftfragment zu erhaschen und so fort...
Er arbeitete zwei Stunden lang ununterbrochen. Und immer hektischer
wurden seine Bewegungen, immer fahriger das Gekrakel seiner Feder auf dem
Papier, immer h
u
her die Dosen des Parfums, das er aus dem Flakon in sein
Taschentuch sch
u
ttete und sich unter die Nase hielt.
Er roch jetzt kaum noch etwas, er war l
u
ngst bet
u
ubt von den
u
therischen Substanzen, die er einatmete, konnte nicht einmal mehr
wiedererkennen, was er zu Beginn seines Probierens zweifelsfrei analysiert
zu haben glaubte. Er wusste, dass es sinnlos war, weiterzuriechen. Er w
u
rde
nie herausbekommen, woraus dieses neumodische Parfum zusammengesetzt war,
heute schon
u
berhaupt nicht mehr, aber auch morgen nicht, wenn sich seine
Nase, so Gott wollte, wieder erholt haben w
u
rde. Er hatte dieses zersetzende
Riechen nie gelernt. Es war ihm eine unselig widerw
u
rtige Besch
u
ftigung,
einen Duft zu zerspalten; ein Ganzes, ein gut oder weniger gut Gef
u
gtes,
aufzuteilen in seine simplen Fragmente. Es interessierte ihn nicht. Er
wollte nicht mehr.
Aber mechanisch fuhr seine Hand fort, mit jener tausendmal ge
u
bten
zierlichen Bewegung das Spitzentaschentuch zu tr
u
nken, es zu sch
u
tteln und
rasch am Gesicht vorbeizuwedeln, und mechanisch riss er bei jedem
Vor
u
berflug eine Portion duftgetr
u
nkter Luft in sich hinein, um sie
kunstgerecht verhalten ausstr
u
men zu lassen. Bis ihn endlich seine eigene
Nase von der Qual befreite, indem sie von innen her allergisch schwoll und
sich wie mit einem w
u
chsernen Pfropfen selbst verschloss. Jetzt konnte er
gar nichts mehr riechen, kaum noch atmen. Wie von einem schweren Schnupfen
zugel
u
tet war die Nase, und in seinen Augenwinkeln sammelten sich kleine
Tr
u
nen. Gott im Himmel sei Dank! Nun konnte er guten Gewissens ein Ende
machen. Nun hatte er seine Pflicht getan, nach besten Kr
u
ften, nach allen
Regeln der Kunst, und war, wie schon so oft, gescheitert. Ultra posse nemo
obligatur. Feierabend. Morgen fr
u
h w
u
rde er zu Pelissier schicken um eine
große Flasche >Amor und Psyche< und damit die spanische Haut f
u
r
den Grafen Verhamont beduften, wie bestellt. Und danach w
u
rde er sein
K
u
fferchen nehmen, mit den altmodischen Seifen, Sentbons, Pomaden und
Sachets, und seine Runde machen durch die Salons greiser Herzoginnen. Und
eines Tages w
u
rde die letzte greise Herzogin gestorben sein und damit seine
letzte Kundin. Und dann w
u
rde er selbst ein Greis sein und w
u
rde sein Haus
verkaufen m
u
ssen, an Pelissier oder an irgendeinen anderen dieser
aufstrebenden H
u
ndler, vielleicht bek
u
me er noch ein paar tausend Livre
daf
u
r. Und w
u
rde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die
bis dahin noch nicht tot war, nach Italien reisen. Und wenn er die Reise
u
berlebte, w
u
rde er sich ein kleines H
u
uschen auf dem Lande bei Messina
kaufen, wo es billig war. Und dort w
u
rde er sterben, Giuseppe Baldini, einst
gr
u
ßter Parfumeur von Paris, in bitterster Armut, wann immer Gott es
gefiel. Und so war es gut.
Er st
u
pselte den Flakon zu, legte die Feder aus der Hand und wischte
sich ein letztes Mal mit dem getr
u
nkten Taschentuch
u
ber die Stirn. Er
sp
u
rte die K
u
hle des verdunstenden Alkohols, sonst nichts mehr. Dann ging
die Sonne unter.
Baldini erhob sich. Er
u
ffnete die Jalousie, und sein K
u
rper tauchte
bis herab zu den Knien ins Abendlicht und gl
u
hte auf wie eine abgebrannte
glosende Fackel. Er sah den tiefroten Saum der Sonne hinterm Louvre und das
zartere Feuer auf den Schieferd
u
chern der Stadt. Unter ihm der Fluss gl
u
nzte
wie Gold , die Schiffe waren verschwunden. Und es kam wohl ein Wind auf,
denn
u
ber die Wasserfl
u
che fielen die B
u
en wie Schuppen, und es glitzerte da
und dort und immer n
u
her, als streue eine riesige Hand Millionen von
Louisdor-St
u
cken ins Wasser, und die Richtung des Flusses schien sich f
u
r
einen Moment umgekehrt zu haben: er str
u
mte auf Baldini zu, eine
gleißende Flut von purem Gold. Baldinis Augen waren feucht und
traurig. Eine Weile lang stand er still und beobachtete das herrliche Bild.
Dann, pl
u
tzlich, riss er das Fenster auf, schlug die beiden Fl
u
gel weit
auseinander und warf den Flakon mit Pelissiers Parfum in hohem Bogen hinaus.
Er sah, wie er aufplatschte und f
u
r einen Augenblick den glitzernden
Wasserteppich zerriss.
Frische Luft str
u
mte ins Zimmer. Baldini sch
u
pfte Atem und merkte, wie
sich die Schwellung seiner Nase l
u
ste. Dann schloss er das Fenster. Fast im
gleichen Moment wurde es Nacht, ganz pl
u
tzlich. Das goldgl
u
nzende Bild der
Stadt und des Flusses erstarrte zu einer aschgrauen Silhouette. Im Zimmer
war es mit einem Schlag d
u
ster geworden. Baldini stand wieder in der
gleichen Haltung wie zuvor und starrte zum Fenster hinaus. "Ich werde morgen
nicht zu Pelissier schicken", sagte er und umklammerte mit beiden H
u
nden die
R
u
ckenlehne seines Stuhles. "Ich werde es nicht tun. Und ich werde auch
nicht meine Tour durch die Salons machen. Sondern ich werde morgen zum Notar
gehen und mein Haus und mein Gesch
u
ft verkaufen. Das werde ich tun. E
basta!"
Er hatte einen trotzigen, bubenhaften Gesichtsausdruck bekommen und
f
u
hlte sich auf einmal sehr gl
u
cklich. Er war wieder der alte, der junge
Baldini, mutig, und entschlossen wie je, dem Schicksal die Stirn zu bieten -
auch wenn das Stirnbieten in diesem Fall nur R
u
ckzug war. Und wenn schon! Es
blieb ja nichts anderes
u
brig. Die dumme Zeit ließ keine andre Wahl.
Gott gibt gute und schlechte Zeiten, aber er will nicht, dass wir in
schlechten Zeiten jammern und wehklagen, sondern dass wir uns m
u
nnlich
bew
u
hren. Und Er hatte ein Zeichen gegeben. Das blutrot-goldene Trugbild der
Stadt war eineWarnung gewesen: Handle, Baldini, eh es zu sp
u
t ist! Noch
steht dein Haus fest, noch sind deine Lager gef
u
llt, noch wirst du einen
guten Preis f
u
r dein niedergehendes Gesch
u
ft erzielen k
u
nnen. Noch liegen
die Entscheidungen in deiner Hand. In Messina bescheiden alt zu werden, das
ist zwar nicht dein Lebensziel gewesen - aber es ist doch ehrenwerter und
gottgef
u
lliger als in Paris pomp
u
s zugrunde zu gehen. Sollen die Brouets,
Calteaux und Pelissiers ruhig triumphieren. Giuseppe Baldini r
u
umt das Feld.
Aber er tat es aus freien St
u
cken und ungebeugt!
Er war jetzt direkt stolz auf sich. Und unendlich erleichtert. Zum
ersten Mal seit vielen Jahren wich der subalterne Krampf aus seinem R
u
cken,
der den Nacken verspannte und die Schultern immer devoter gew
u
lbt hatte, und
er stand ohne Anstrengung aufrecht, gel
u
st und frei und freute sich. Sein
Atem ging leicht durch die Nase. Er nahm den Geruch von >Amor und
Psyche<, der das Zimmer beherrschte, deutlich wahr, aber er ließ
sich nichts mehr von ihm anhaben. Baldini hatte sein Leben ge
u
ndert und
f
u
hlte sich wunderbar. Er w
u
rde jetzt zu seiner Frau hinaufgehen und sie von
seinen Entschl
u
ssen in Kenntnis setzen und dann nach Notre-Dame
hin
u
berpilgern und eine Kerze anz
u
nden, um Gott zu danken f
u
r den gn
u
digen
Fingerzeig und f
u
r die unglaubliche Charakterst
u
rke, die Er ihm, Giuseppe
Baldini, verliehen hatte.
Mit beinahe jugendlichem Elan warf er die Per
u
cke auf seinen kahlen
Sch
u
del, schl
u
pfte in den blauen Rock, ergriff den Leuchter, der auf dem
Schreibtischstand, und verließ das Arbeitszimmer. Er hatte gerade die
Kerze am Talglicht des Treppenhauses angez
u
ndet, um sich den Weg hinauf zur
Wohnung zu beleuchten, als er es unten im Erdgeschoss klingeln h
u
rte. Es war
nicht das sch
u
ne persische Gel
u
ute der Ladent
u
r, sondern die scheppernde
Klingel des Dienstboteneingangs, ein ekelhaftes Ger
u
usch, das ihn schon
immer gest
u
rt hatte. Oft wollte er das Ding entfernen und durch eine
angenehmere Glocke ersetzen lassen, aber dann war es ihm immer um die
Ausgabe leid gewesen, und jetzt, fiel ihm pl
u
tzlich ein, und er kicherte bei
dem Gedanken, jetzt war's egal; er w
u
rde die aufdringliche Klingel samt dem
Haus verkaufen. Sollte sein Nachfolger sich dar
u
ber
u
rgern!
Wieder schepperte die Klingel. Er lauschte nach unten. Offenbar hatte
Chenier den Laden schon verlassen. Auch das Dienstm
u
dchen machte keine
Anstalten zu kommen. So stieg Baldini selbst hinab, um zu
u
ffnen.
Er riss den Riegel zur
u
ck, schwenkte die schwere T
u
r auf - und sah
nichts. Die Dunkelheit verschluckte den Schein der Kerze vollst
u
ndig. Dann,
sehr allm
u
hlich, konnte er eine kleine Gestalt ausmachen, ein Kind oder
einen halbw
u
chsigen Jungen, der etwas
u
ber dem Arm trug.
"Was willst du?"
"Ich komme von Maitre Grimal, ich bringe das Ziegenleder", sagte die
Gestalt und trat n
u
her und hielt Baldini den abgewinkelten Arm mit einigen
u
bereinandergeh
u
ngten H
u
uten entgegen. Im Lichtschein erkannte Baldini das
Gesicht eines Jungen mit
u
ngstlich lauernden Augen. Seine Haltung war
geduckt. Es schien, als verstecke er sich hinter seinem vorgehaltenen Arm
wie einer, der Schl
u
ge erwartet. Es war Grenouille.
Das Ziegenleder f
u
r die spanische Haut! Baldini erinnerte sich. Er
hatte die H
u
ute vor ein paar Tagen bei Grimal bestellt, feinstes weichstes
Waschleder f
u
r die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, f
u
nfzehn Franc das
St
u
ck. Aber jetzt brauchte er sie eigentlich nicht mehr, er konnte sich das
Geld sparen. Andrerseits, wenn er den Jungen einfach zur
u
ckschickte...? Wer
weiß - es k
u
nnte einen ung
u
nstigen Eindruck machen, man w
u
rde
vielleicht reden, Ger
u
chte k
u
nnten entstehen: Baldini sei unzuverl
u
ssig
geworden, Baldini bekomme keine Auftr
u
ge mehr, Baldini k
u
nne nicht mehr
zahlen... und so etwas war nicht gut, nein, nein, denn so etwas dr
u
ckte
wom
u
glich den Verkaufswert des Gesch
u
fts. Es war besser, diese nutzlosen
Ziegenh
u
ute anzunehmen. Niemand brauchte zur Unzeit zu erfahren, dass
Giuseppe Baldini sein Leben ge
u
ndert hatte.
"Komm herein!"
Er ließ den Jungen eintreten, und sie gingen in den Laden
hin
u
ber, Baldini mit dem Leuchter voran, Grenouille mit seinen H
u
uten
hinterdrein. Es war das erste Mal, dass Grenouille eine Parfumerie betrat,
einen Ort, wo Ger
u
che nicht Beiwerk waren, sondern ganz unverbl
u
mt im
Mittelpunkt des Interesses standen. Nat
u
rlich kannte er s
u
mtliche Parfum -
und Drogenhandlungen der Stadt, n
u
chtelang war er vor den Auslagen
gestanden, hatte seine Nase an die Spalten der T
u
ren gedr
u
ckt. Er kannte
s
u
mtliche D
u
fte, die hier gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern
schon oft zu herrlichsten Parfums zusammengedacht. Es erwartete ihn also
nichts Neues. Aber ebenso wie ein musikalisches Kind darauf brennt, ein
Orchester aus der N
u
he zu sehen oder einmal in der Kirche auf die Empore
hinaufzusteigen, zum verborgenen Manual der Orgel, so brannte Grenouille
darauf, eine Parfumerie von innen zu sehen, und er hatte, als er h
u
rte, es
solle Leder zu Baldini geliefert werden, alles daran gesetzt, diese
Besorgung
u
bernehmen zu d
u
rfen.
Und nun stand er in Baldinis Laden, an dem Ort von Paris, an dem die
gr
u
ßte Anzahl professioneller D
u
fte auf engstem Raum versammelt war.
Viel sah er nicht im vor
u
berfliegenden Kerzenlicht, nur kurz den Schatten
des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher
u
ber dem Becken, einen Sessel
f
u
r die Kunden, die dunklen Regale an den W
u
nden, das kurze Aufblinken von
Messingger
u
t und weißen Etiketten auf Gl
u
sern und Tiegeln; und er roch
auch nicht mehr, als er schon von der Straße her gerochen hatte. Aber
er sp
u
rte sofort den Ernst, der in diesen R
u
umen herrschte, fast m
u
chte man
sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort "heilig" f
u
r Grenouille irgendeine
Bedeutung besessen h
u
tte; den kalten Ernst sp
u
rte er, die handwerkliche
N
u
chternheit, den trockenen Gesch
u
ftssinn, die an jedem M
u
bel, an jedem
Ger
u
t, an den Bottichen und Flaschen und T
u
pfen klebten. Und w
u
hrend er
hinter Baldini herging, in Baldinis Schatten, denn Baldini nahm sich nicht
die M
u
he, ihm zu leuchten,
u
berkam ihn der Gedanke, dass er hierhergeh
u
re
und nirgendwo anders hin, dass er hier bleiben werde, dass er von hier die
Welt aus den Angeln heben w
u
rde.
Dieser Gedanke war nat
u
rlich von geradezu grotesker Unbescheidenheit.
Es gab nichts, aber schon wirklich rein gar nichts, was einen
dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder
Protektion, ohne die geringste st
u
ndische Position, zu der Hoffnung
berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu
fassen; um so weniger, als, wie wir wissen, die Aufl
u
sung des Gesch
u
fts
bereits beschlossene Sache war. Aber es handelte sich ja auch nicht um eine
Hoffnung, die sich in Grenouilles unbescheidenen Gedanken ausdr
u
ckte,
sondern um eine Gewissheit. Diesen Laden, so wusste er, w
u
rde er nur noch
verlassen, um seine Kleider bei Grimal abzuholen, und dann nicht mehr. Der
Zeck hatte Blut gewittert. Jahrelang war er still gewesen, in sich
verkapselt, und hatte gewartet. Jetzt ließ er sich fallen auf Gedeih
und Verderb, vollkommen hoffnungslos. Und deshalb war seine Sicherheit so
groß.
Sie hatten den Laden durchquert. Baldini
u
ffnete den nach der
Flussseite gelegenen Hinterraum, der teils als Lager, teils als Werkstatt
und Labor diente, wo die Seifen gekocht und die Pomaden ger
u
hrt und die
Riechw
u
sser in bauchigen Flaschen gemischt wurden. "Da!" sagte er und wies
auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, "da leg sie hin!"
Grenouille trat aus Baldinis Schatten heraus, legte die Leder auf den
Tisch, sprang dann rasch wieder zur
u
ck und stellte sich zwischen Baldini und
die T
u
r. Baldini blieb noch eine Weile stehen. Er hielt die Kerze etwas
beiseite, damit keine Wachstropfen auf den Tisch fielen, und strich mit dem
Fingerr
u
cken
u
ber die glatte Fl
u
che des Leders. Dann schlug er das oberste
um und fuhr
u
ber die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war
sehr gut, dieses Leder. Wie geschaffen f
u
r eine spanische Haut. Es w
u
rde
sich beim Trocknen kaum verziehen, es w
u
rde, wenn man es richtig mit dem
Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er sp
u
rte das sofort, wenn er es
nur zwischen Daumen und Zeigefinger dr
u
ckte; es konnte Duft f
u
r f
u
nf oder
zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes Leder - vielleicht w
u
rde
er Handschuhe daraus machen, drei Paar f
u
r sich und drei Paar f
u
r seine
Frau, f
u
r die Reise nach Messina.
Er zog seine Hand zur
u
ck. R
u
hrend sah der Arbeitstisch aus: wie alles
bereit lag; die Glaswanne f
u
r das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die
Reibschalen zum Anmischen der Tinktur, Pistill und Spatel, Pinsel und
Falzbein und Schere. Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel
war, und als w
u
rden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den
Tisch mitnehmen nach Messina? Und einen Teil seines Werkzeugs, nur die
wichtigsten St
u
cke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch.
Er bestand aus Eichenbrettern, und das Gestell ebenfalls, und er war quer
verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine
S
u
ure etwas aus und kein
u
l und kein Messerschnitt - und ein Verm
u
gen w
u
rde
es kosten, ihn nach Messina zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und darum
wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf,
darunter und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte
zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und
deshalb w
u
rde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluss durchf
u
hren; mit
Tr
u
nen in den Augen gab er alles weg, aber er w
u
rde es trotzdem tun, denn er
wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.
Er drehte sich um, um zu gehen. Da stand dieser kleine verwachsene
Mensch in der T
u
r, den hatte er fast schon vergessen. "Es ist gut", sagte
Baldini. "Richte dem Meister aus, das Leder ist gut. Ich werde in den
n
u
chsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen."
"Jawohl", sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der
sich anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein
wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das Verhalten des Jungen nicht
f
u
r Chuzpe, sondern f
u
r Sch
u
chternheit.
"Was ist?" fragte er. "Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es
nur!" Grenouille stand geduckt und schaute Baldini mit jenem Blick an, der
scheinbar
u
ngstlichkeit verriet, in Wirklichkeit aber einer lauernden
Gespanntheit entsprang.
"Ich will bei Ihnen arbeiten, Maitre Baldini. Bei Ihnen, in Ihrem
Gesch
u
ft will ich arbeiten."
Das war nicht bittend gesagt, sondern fordernd, und es war auch nicht
eigentlich gesagt, sondern herausgepresst, hervorgezischelt, schlangenhaft.
Und wieder verkannte Baldini das unheimliche Selbstbewusstsein Grenouilles
als knabenhafte Unbeholfenheit. Er l
u
chelte ihn freundlich an. "Du bist
Gerberlehrling, mein Sohn", sagte er, "ich habe keine Verwendung f
u
r einen
Gerberlehrling. Ich habe selbst einen Gesellen, und einen Lehrling brauche
ich nicht."
"Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese
Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?"
zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis
genommen.
"In der Tat", sagte Baldini.
"Mit >Amor und Psyche< von Pelissier?" fragte Grenouille und
duckte sich noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken durch
Baldinis K
u
rper. Nicht weil er sich fragte, woher der Bursche so genau
Bescheid wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses verhassten
Parfums, an dessen Entr
u
tselung er heute gescheitert war.
"Wie kommst du auf die absurde Idee, ich w
u
rde ein fremdes Parfum
benutzen, um..."
"Sie riechen danach!" zischelte Grenouille. "Sie tragen es auf der
Stirn, und in der rechten Rocktasche haben Sie ein Tuch, das ist getr
u
nkt
davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es
ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosen
u
l."
"Aha", sagte Baldini, der von der Wendung des Gespr
u
chs ins Exakte
v
u
llig
u
berrascht war, "was noch?"
"Orangenbl
u
te, Limette, Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist und etwas,
von dem ich den Namen nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!"
Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt den Leuchter in die
angegebene Richtung, sein Blick folgte dem Zeigefinger des Jungen und fiel
auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gef
u
llt war.
"Storax?" fragte er.
Grenouille nickte. "Ja. Das ist drin. Storax." Und dann kr
u
mmte er sich
wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte mindestens ein dutzendmal
das Wort >Storax< vor sich hin:
"Storaxstoraxstoraxstorax..."
Baldini hielt die Kerze gegen das storaxkr
u
chzende H
u
uflein Mensch und
dachte: Entweder ist er besessen, oder er ist ein betr
u
gerischer Gauner,
oder er ist ein begnadetes Talent. Denn dass die angegebenen Stoffe in
richtiger Zusammensetzung das Parfum >Amor und Psyche< ergeben
konnten, war durchaus m
u
glich; es war sogar wahrscheinlich. Rosen
u
l, Nelke
und Storax - nach diesen drei Komponenten hatte er heute Nachmittag so
verzweifelt gesucht; mit ihnen f
u
gten sich die anderen Teile der Komposition
- die auch er erkannt zu haben glaubte - wie Segmente zu einem h
u
bschen
runden Kuchen. Es war jetzt nur noch die Frage, in welchem exakten
Verh
u
ltnis zueinander man sie f
u
gen musste. Um das herauszufinden, w
u
rde er,
Baldini, tagelang herumexperimentieren m
u
ssen, eine entsetzliche Arbeit,
fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren der Teile, denn nun
galt es, zu messen und zu w
u
gen und zu notieren und dabei doch h
u
llisch
aufzupassen, denn die kleinste Unaufmerksamkeit - ein Zittern mit der
Pipette, ein Fehler beim Tropfenz
u
hlen - konnte alles verderben. Und jeder
verpatzte Versuch war gr
u
ßlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete
ein kleines Verm
u
gen... Er wollte den kleinen Menschen auf die Probe
stellen, wollte ihn nach der exakten Formel von >Amor und Psyche<
fragen. Wenn er sie wusste, auf Gramm und Tropfen genau - dann war er
offenkundig ein Betr
u
ger, der sich auf irgendeine Weise das Rezept von
Pelissier ergaunert hatte, um sich bei Baldini Zutritt und Anstellung zu
verschaffen. Erriet er sie aber ungef
u
hr, dann war er ein Geruchsgenie und
forderte als solches Baldinis professionelles Interesse heraus. Nicht dass
Baldini seinen gefassten Entschluss, das Gesch
u
ft aufzugeben, in Frage
stellte! Es kam ihm nicht auf das Parfum von Pelissier als solches an.
Selbst wenn der Bursche es ihm literweise verschaffte, Baldini dachte nicht
im Traum daran, die spanische Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften,
aber... Aber man war doch nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte
sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von D
u
ften besch
u
ftigt, um
von einer Stunde zur anderen seine ganze professionelle Leidenschaft zu
verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums
herauszubekommen, und mehr noch, das Talent dieses unheimlichen Jungen zu
erforschen, der ihm einen Duft von der Stirne abgelesen hatte. Er wollte
wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.
"Du hast, so scheint es, eine feine Nase, junger Mann", sagte er,
nachdem Grenouille mit seinem Gekr
u
chze aufgeh
u
rt hatte, und trat zur
u
ck in
die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf dem Arbeitstisch abzustellen,
"eine zweifellos feine Nase, aber..."
"Ich habe die beste Nase von Paris, Maitre Baldini",schnarrte
Grenouille dazwischen. "Ich kenne alle Ger
u
che der Welt, alle, die in Paris
sind, alle, nur kenne ich von manchen die Namen nicht, aber ich kann auch
die Namen lernen, alle Ger
u
che, die Namen haben, das sind nicht viele, das
sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des
Balsams nie vergessen, Storax, der Balsam heisst Storax heisst er,
Storax..."
"Schweig!" rief Baldini, "unterbrich mich nicht, wenn ich spreche! Du
bist vorlaut und anmaßend. Kein Mensch kennt tausend Ger
u
che beim
Namen. Selbst ich kenne nicht tausend beim Namen, sondern nur einige
hundert, denn mehr gibt es nicht in unserem Gewerbe als einige hundert,
alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!"
Grenouille, der sich w
u
hrend seiner l
u
ngeren eruptiven Zwischenrede
beinahe k
u
rperlich entfaltet, in der Erregung sogar f
u
r einen Moment mit
beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das >alles, alles<, was er
kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in
sich zusammen wie eine kleine schwarze Kr
u
te und verharrte auf der
T
u
rschwelle, bewegungslos lauernd.
"Ich bin mir", fuhr Baldini fort, "selbstverst
u
ndlich l
u
ngst dar
u
ber im
klaren, dass >Amor und Psyche< aus Storax, Rosen
u
l und Nelke sowie
Bergamott und Rosmarinextrakt et cetera besteht. Um das herauszufinden,
bedarf es, wie gesagt, bloß einer leidlich feinen Nase, und es mag
durchaus sein, dass Gott dir eine leidlich feine Nase gegeben hat, wie
vielen, vielen anderen Menschen auch - namentlich in deinem Alter. Der
Parfumeur jedoch" - und hier hob Baldini den Zeigefinger und w
u
lbte seine
Brust heraus - "der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine leidlich feine
Nase. Er braucht ein
u
ber viele Jahrzehnte geschultes, unbestechlich
arbeitendes Riechorgan, das ihn in Stand versetzt, auch komplizierteste
Ger
u
che nach Art und Menge sicher zu entr
u
tseln, ebenso wie neue, unbekannte
Duftgemische zu kreieren. Eine solche Nase" - und er tippte mit dem Finger
an die seine
"hat
man nicht, junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich
mit Ausdauer und Fleiß. Oder k
u
nntest du mir vielleicht auf Anhieb die
exakte Formel von >Amor und Psyche< nennen? Nun? K
u
nntest du das?"
Grenouille antwortete nicht.
"K
u
nntest du sie mir vielleicht ungef
u
hr verraten?" sagte Baldini und
beugte sich ein wenig vor, um die Kr
u
te in der T
u
r genauer zu sehen, "nur so
in etwa, sch
u
tzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!"
Doch Grenouille schwieg.
"Siehst du?" sagte Baldini gleichermaßen befriedigt wie
entt
u
uscht und richtete sich wieder auf, "du kannst es nicht. Nat
u
rlich
nicht. Wie solltest du es auch k
u
nnen. Du bist wie einer, der beim Essen
schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der Suppe ist. Nun gut das ist schon
etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in
jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie
nichts, aber alles die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß
erworben wird."
Er griff nach dem Leuchter auf dem Tisch, als Grenouilles gePresste
Stimme von der T
u
r her schnarrte:
"Ich weiß nicht, was eine Formel ist, Mahre, das weiß ich
nicht, sonst weiß ich alles!"
"Eine Formel ist das A und O jeden Parfums", erwiderte Baldini streng,
denn er wollte dem Gespr
u
ch nun ein Ende machen. "Sie ist die akribische
Anweisung, in welchem Verh
u
ltnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind,
damit der eine gew
u
nschte, unverwechselbare Duft entstehe; das ist die
Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst." "Formel,
Formel", kr
u
chzte Grenouille und wurde etwas gr
u
ßer in der T
u
r, "ich
brauche keine Formel. Ich habe das Rezept in meiner Nase. Soll ich es f
u
r
Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?"
"Wie denn?" rief Baldini mit ziemlicher Lautst
u
rke und hielt dem Gnom
die Kerze vors Gesicht. "Wie denn mischen?"
Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zur
u
ck. "Aber sie sind doch
alle da, die man braucht, die Ger
u
che, sind doch alle da, in diesem Raum",
sagte er und deutete wieder ins Dunkle. "Rosen
u
l da! Orangenbl
u
te da! Nelke
da! Rosmarin da...!"
"Freilich sind sie da!" br
u
llte Baldini. "Alle sind sie da! Aber ich
sage dir doch, Holzkopf, das n
u
tzt nichts, wenn man die Formel nicht hat!"
"...Jasmin da! Weingeist da! Bergamotte da! Storax da!" kr
u
chzte
Grenouille weiter und deutete bei jedem Namen auf einen anderen Punkt im
Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen
h
u
chstens ahnen konnte.
"Du siehst wohl auch bei Nacht, he?" fuhr Baldini ihn an, "du hast
nicht nur die feinste Nase, sondern auch die sch
u
rfsten Augen von Paris,
wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann mach sie auf, denn ich sage
dir: Du bist ein kleiner Betr
u
ger. Wahrscheinlich hast du irgend etwas
aufgeschnappt bei Pelissier, hast was ausspioniert, wie? Und glaubst, du
k
u
nntest mich hinters Licht f
u
hren?"
Grenouille stand jetzt ganz auseinandergefaltet, sozusagen in voller
K
u
rpergr
u
ße in der T
u
re, mit leicht auseinandergestellten Beinen und
leicht abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die
sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. "Geben Sie mir zehn Minuten", sagte
er in ziemlich fl
u
ssiger Rede, "und ich werde Ihnen das Parfum >Amor und
Psyche< herstellen. Jetzt gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben
Sie mir f
u
nf Minuten!"
"Du glaubst, ich lasse dich in meiner Werkstatt herumpantschen? Mit
Essenzen, die ein Verm
u
gen wert sind? Dich?"
"Ja", sagte Grenouille.
"Pah!" rief Baldini und stieß dabei den ganzen Atem, den er
hatte, auf einmal heraus. Dann holte er tief Luft, sah den spinnenhaften
Grenouille lange an und
u
berlegte. Im Grunde ist es egal, dachte er, denn
morgen hat sowie soalles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er das, was er
behauptet, nicht kann, ja gar nicht k
u
nnen kann, er w
u
re denn noch
gr
u
ßer als der große Frangipani. Aber warum soll ich mir das,
was ich weiß, nicht noch vor Augen demonstrieren lassen? Wom
u
glich
kommt mir sonst in Messina eines Tages man wird ja manchmal sonderbar im
Alter und versteift sich auf die verr
u
cktesten Ideen - der Gedanke, ich
h
u
tte ein olfaktorisches Genie, ein Wesen, auf dem die Gnade Gottes
u
berreichlich ruhte, ein Wunderkind, als solches nicht erkannt... - Es ist
ganz ausgeschlossen. Nach allem, was mir der Verstand sagt, ist es
ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst
sterbe in Messina, und auf dem Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in
Paris, an jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das
w
u
re nicht sehr angenehm, Baldini! Soll der Narr die paar Tropfen Rosen
u
l
und Moschustinktur verkleckern, du selbst h
u
ttest sie auch verkleckert, wenn
dich das Parfum von Pelissier noch wirklich interessierte. Und was sind
schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! - gemessen an der
Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?
"Pass auf!" sagte er mit k
u
nstlich strenger Stimme, "pass auf! Ich... -
wie heisst du
u
berhaupt?"
"Grenouille", sagte Grenouille. "Jean-Baptiste Grenouille."
"Aha", sagte Baldini. "Also pass auf, Jean-Baptiste Grenouille! Ich
habe es mir
u
berlegt. Du sollst die Gelegenheit bekommen, jetzt, sofort,
deine Behauptung zu beweisen. Dies ist zugleich eine Gelegenheit f
u
r dich,
durch ein eklatantes Scheitern die Tugend der Bescheidenheit zu lernen,
welche - in deinem jungen Alter vielleicht verzeihlicherweise noch kaum
entwickelt - eine unabdingbare Voraussetzung f
u
r dein sp
u
teres Fortkommen
als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als
Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin bereit, dir diese Lehre
auf meine Kosten zu erteilen, denn aus bestimmten Gr
u
nden bin ich heute
spendabel aufgelegt, und, wer weiß, vielleicht wird mir eines Tages
die R
u
ckerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit bereiten. Aber glaube
nicht, du k
u
nntest mich
u
bert
u
lpeln! Giuseppe Baldinis Nase ist alt, aber
sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner
Mixtur und diesem Produkt hier" - und dabei zog er sein >Amor und
Psyche< - getr
u
nktes T
u
chlein aus der Tasche und wedelte es Grenouille
vor die Nase - "sofort festzustellen. Tritt n
u
her, beste Nase von Paris!
Tritt n
u
her an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du
mir nichts umst
u
ßt und herunterwirfst! R
u
hre mir nichts an! Erst will
ich mehr Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben f
u
r dieses
kleine Experiment, nicht wahr?"
Und damit nahm er zwei andere Leuchter, die am Rand des großen
Eichentisches standen, und z
u
ndete sie an. Er postierte sie alle drei
nebeneinander an der hinteren L
u
ngsseite, schob das Leder beiseite, r
u
umte
den mittleren Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen
Griffen, holte er die Ger
u
te, die das Gesch
u
ft erforderte, von einem kleinen
Gestell: die große bauchige Mischflasche, den gl
u
sernen Trichter, die
Pipette, das kleine und das große Messglas, und stellte sie
wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.
Grenouille hatte sich inzwischen vom T
u
rrahmen gel
u
st. Schon w
u
hrend
Baldinis pomp
u
ser Rede war das Versteifte, lauernd Verdruckte von ihm
abgefallen. Er h
u
rte nur die Zustimmung, nur das Ja, mit dem innern Jubel
eines Kindes, das sich ein Zugest
u
ndnis ertrotzt hat und auf die
Einschr
u
nkungen, Bedingungen und moralischen Ermahnungen, die sich daran
kn
u
pfen, pfeift. Locker dastehend, einem Menschen zum ersten Mal
u
hnlicher
als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis Suada
u
ber sich ergehen
und wusste, dass er diesen Mann, der ihm nun nachgab, schon
u
berw
u
ltigt
hatte.
W
u
hrend Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch
hantierte, schl
u
pfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt,
wo die Regale mit den kostbaren Essenzen,
u
len und Tinkturen standen, und
griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die ben
u
tigten
Fl
u
schchen von den Borden. Neun waren es an der Zahl: Orangenbl
u
tenessenz,
Limetten
u
l, Nelken- und Rosen
u
l, Jasmin-, Bergamotte- und Rosmarinextrakt,
Moschustinktur und Storaxbalsam, die er sich rasch herunterpfl
u
ckte und am
Rand des Tisches zurechtstellte. Als letztes schleppte er einen Ballon mit
hochprozentigem Weingeist heran. Dann stellte er sich hinter Baldini, der
noch immer mit bed
u
chtiger Pedanterie seine Mischgef
u
ße arrangierte,
dieses Glas ein wenig dahin r
u
ckte, jenes noch ein wenig dorthin, damit
alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht
der Leuchter pr
u
sentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte
sich entferne und ihm Platz mache.
"So!" sagte Baldini endlich und trat zur Seite. "Hier ist alles
aufgereiht, was du f
u
r dein - nennen wir es freundlicherweise
>Experiment< ben
u
tigst. Zerbrich mir nichts, vertropfe mir nichts!
Denn merke: Diese Fl
u
ssigkeiten, mit denen du jetzt f
u
nf Minuten lang
hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit und Seltenheit, wie du sie nie
wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in H
u
nden halten wirst!"
"Wie viel soll ich Ihnen machen, Maitre?" fragte Grenouille."Was
machen...?" sagte Baldini, der seine Rede noch nicht beendet hatte. "Wie
viel von dem Parfum?" schnarrte Grenouille, "wie viel davon wollen Sie
haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollf
u
llen?" Und er deutete
auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.
"Nein, das sollst du nicht!" schr ie Baldini entsetzt, und es schrie
aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung
seines Eigentums. Und als geniere er sich
u
ber diesen entlarvenden Schrei,
br
u
llte er gleich hinterher: "Und in die Rede fallen sollst du mir auch
nicht!" um dann in ruhigerem, ironisch eingef
u
rbtem Ton fortzufahren: "Wozu
brauchen wir drei Liter von einem Parfum, das wir beide nicht sch
u
tzen? Im
Grunde gen
u
gte ein halber Messbecher voll. Da solch kleine Quantit
u
ten
jedoch unpr
u
zis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelf
u
llung
der Mischflasche anzusetzen."
"Gut", sagte Grenouille. "Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit
>Amor und Psyche< f
u
llen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine
Art. Ich weiß nicht, ob das die z
u
nftige Art ist, denn die kenne ich
nicht, aber ich mache es auf meine Art."
"Bitte!" sagte Baldini, der wusste, dass es bei diesem Gesch
u
ft nicht
meine oder deine, sondern eben nur eine, eine einzig m
u
gliche und richtige
Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter entsprechender
Umrechnung auf die zu erzielende Endmenge ein aufs Exakteste vermessenes
Konzentrat aus den verschiedenen Essenzen herzustellen, welches daraufhin
mit Alkohol in einem wiederum exakten Verh
u
ltnis, das meistens zwischen eins
zu zehn und eins zu zwanzig schwankte, zum endg
u
ltigen Parfum vergeistigt
werden musste. Eine andre Art, das wusste er, gab es nicht. Und deshalb
musste ihm das, was er nun zu sehen bekam und was er zun
u
chst mit
sp
u
ttischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch mit
hilflosem Erstaunen beobachtete, als schieres Wunder erscheinen. Und die
Szene
u
tzte sich so in sein Ged
u
chtnis ein, dass er sie bis ans Ende seiner
Tage nicht mehr vergaß.
Der kleine Mensch Grenouille entkorkte als erstes den Ballon mit
Weingeist. Er hatte M
u
he, das schwere Gef
u
ß hochzuwuchten. Fast bis in
Kopfh
u
he musste er es heben, denn so hoch stand die Mischflasche mit dem
aufgesetzten Glastrichter, in den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers,
den Alkohol direkt aus dem Ballon goss. Baldini schauderte vor so viel
geballtem Unverm
u
gen: Nicht nur, dass der Kerl die parfumistische
Weltordnung auf den Kopf stellte, indem er mit dem L
u
sungsmittel anfing,
ohne das zu l
u
sende Konzentrat zu besitzen - er war auch kaum physisch dazu
in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete jeden Moment
damit, dass der schwere Ballon herunterkrachen und alles auf dem Tisch
zertr
u
mmern werde. Die Kerzen, dachte er, um Gottes willen, die Kerzen! Es
wird eine Explosion geben, er wird mein Haus abbrennen...! Und er wollte
schon hinst
u
rzen, um dem Verr
u
ckten den Ballon zu entreißen, als
Grenouille ihn selber absetzte, heil zu Boden brachte und wieder verkorkte.
In der Mischflasche schwankte die leichte klare Fl
u
ssigkeit - es war kein
Tropfen danebengegangen. F
u
r ein paar Momente verschnaufte sich Grenouille
und machte dabei ein so zufriedenes Gesicht, als habe er den
beschwerlichsten Teil der Arbeit schon hinter sich. Und in der Tat ging das
Folgende mit einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini mit
den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur
einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens h
u
tte erkennen k
u
nnen.
Anscheinend wahllos griff Grenouille in die Reihe der Flakons mit den
Duftessenzen, riss die Glasst
u
psel heraus, hielt sich den Inhalt f
u
r eine
Sekunde unter die Nase, sch
u
ttete dann von diesem, tr
u
pfelte von einem
anderen, gab einen Schuss von einem dritten Fl
u
schchen in den Trichter und
so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, L
u
ffelchen und R
u
hrstab - all die
Ger
u
te, die den komplizierten Mischprozess f
u
r den Parfumeur beherrschbar
machen, r
u
hrte Grenouille kein einziges Mal an. Es war, als spiele er nur,
als pritschle und pansche er wie ein Kind, das aus Wasser, Gras und Dreck
einen scheußlichen Sud kocht und dann behauptet, es sei eine Suppe.
Ja, wie ein Kind, dachte Baldini; er sieht auch mit einem Mal aus wie ein
Kind, trotz seinen klobigen H
u
nden, trotz seinem vernarbten, zerkerbten
Gesicht und der knolligen Altm
u
nnernase. Ich habe ihn f
u
r
u
lter gehalten,
als er ist, und jetzt kommt er mir j
u
nger vor; wie drei oder vier kommt er
mir vor; wie diese unzug
u
nglichen, unbegreiflichen, eigensinnigen kleinen
Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles
auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun w
u
rden,
wenn man sie in ihrem Gr
u
ßenwahn gew
u
hren ließe und nicht durch
strengste erzieherische Maßnahmen nach und nach disziplinierte und an
die selbstbeherrschte Existenz des Vollmenschen heranf
u
hrte. Ein solch
fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit gl
u
henden Augen
am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar gar nicht
mehr wusste, dass es noch etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm
und diesen Flaschen, die er mit behender Tapsigkeit an den Trichter f
u
hrte,
um sein wahnsinniges Gebr
u
u zu mischen, von dem er hinterher todsicher
behaupten w
u
rde - und auch noch daran glaubte! - es sei das erlesene Parfum
>Amor und Psyche<. Es schauderte Baldini, als er dem im flackernden
Kerzenlicht so gr
u
ßlich verkehrt und so gr
u
ßlich selbstbewusst
hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen - so dachte er, und ihm war f
u
r
einen Moment wieder so traurig und elend und w
u
tend zumute wie am
Nachmittag, als er auf die in der D
u
mmerung rotgl
u
hende Stadt geblickt hatte
seinesgleichen h
u
tte es fr
u
her nicht gegeben; das war ein ganz neues
Exemplar der Gattung, wie es nur in dieser maroden, verlotterten Zeit
entstehen konnte... Aber er sollte seine Lehre bekommen, der pr
u
potente
Bursche! Zusammenputzen w
u
rde er ihn am Ende dieser l
u
cherlichen Auff
u
hrung,
dass er davonschlich als das geduckte H
u
uflein Nichts, als welches er
gekommen war. Geschmeiß! Man durfte sich
u
berhaupt mit niemandem mehr
einlassen heutzutage, denn es wimmelte von l
u
cherlichem Geschmeiß!
So besch
u
ftigt war Baldini mit seiner inneren Emp
u
rung und seinem Ekel
vor der Zeit, dass er nicht recht begriff, was es bedeuten sollte, als
Grenouille pl
u
tzlich s
u
mtliche Flakons verst
u
pselte, den Trichter aus der
Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit
der flachen linken Hand verschloss und heftig sch
u
ttelte. Erst als die
Flasche mehrmals durch die Luft gewirbelt war, ihr kostbarer Inhalt wie
Limonade vom Bauch in den Hals und zur
u
ck st
u
rzte, stieß Baldini einen
Wut- und Entsetzensschrei aus. "Halt!" kreischte er. "Genug jetzt! H
u
r
augenblicklich auf! Basta! Stell sofort die Flasche auf den Tisch und r
u
hre
nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein,
mir dein t
u
richtes Geschw
u
tz
u
berhaupt anzuh
u
ren. Die Art und Weise, wie du
mit den Dingen umgehst,deine Grobheit, dein primitiver Unverstand zeigen
mir, dass du ein St
u
mper bist, ein barbarischer St
u
mper und ein lausiger
frecher Rotzbengel obendrein. Du taugst nicht mal zum Limonadenmischer,
nicht einmal zum einfachsten Lakritzwasserverk
u
ufer taugst du, geschweige
denn zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar und zufrieden, wenn dich dein
Meister weiterhin mit Gerberbr
u
he panschen l
u
sst! Wage es nicht noch einmal,
h
u
rst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß
u
ber die Schwelle
eines Parfumeurs zu setzen!"
So sprach Baldini. Und w
u
hrend er noch sprach, war der Raum um ihn
herum schon duftges
u
ttigt von >Amor und Psyche<. Es gibt eine
u
berzeugungskraft des Duftes, die st
u
rker ist als Worte, Augenschein, Gef
u
hl
und Wille. Die
u
berzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht
in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erf
u
llt uns, f
u
llt uns
vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.
Grenouille hatte die Flasche abgesetzt, die mit Parfum benetzte Hand
vom Hals genommen und an seinem Rocksaum abgewischt. Ein, zwei Schritt
zur
u
ck, das linkische Zusammenklappen seines K
u
rpers unter Baldinis
Standpauke schlugen gen
u
gend Wellen in der Luft, um den neugeschaffnen Duft
ringsum zu verbreiten. Mehr war nicht n
u
tig. Zwar, Baldini tobte noch und
zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine
u
ußerlich zur
Schau gestellte Wut im Innern weniger Nahrung. Ihm schwante, dass er
widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos
steigern konnte. Und als er schwieg, eine Weile lang geschwiegen hatte,
brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: "Es ist fertig." Er wusste
es ohnehin.
Aber trotzdem, obwohl ihn mittlerweile von allen Seiten her die
>Amor-und-Psyche<-schwere Luft umwallte, trat er an den alten
Eichentisch, um eine Probe vorzunehmen. Zog ein frisches, schneeweißes
Spitzent
u
chlein aus der Rocktasche, aus der linken, entfaltete es und tupfte
darauf ein paar Tropfen, die er mit der langen Pipette aus der Mischflasche
gezogen hatte. Schwenkte das T
u
chlein am ausgestreckten Arm, um es zu
aerieren, und zog es dann mit der ge
u
bten zierlichen Bewegung unter seiner
Nase hindurch, den Duft in sich einsaugend. W
u
hrend er ihn ruckweise
ausstr
u
men ließ, setzte er sich auf einen Hocker. Er war zuvor von
seinem - Wutausbruch noch tiefrot im Gesicht gewesen - mit einem Mal ganz
blass geworden. "Unglaublich", murmelte er leise vor sich hin, "bei Gott -
unglaublich."
Und wieder und wieder dr
u
ckte er die Nase gegen das T
u
chlein und
schn
u
ffelte und sch
u
ttelte den Kopf und murmelte "unglaublich.": Es war
>Amor und Psyche<, ohne den geringsten Zweifel >Amor und
Psyche<, das hassenswert geniale Duftgemisch, so pr
u
zise kopiert, dass
nicht einmal Pelissier selber es von seinem Produkt w
u
rde unterscheiden
k
u
nnen. "Unglaublich..."
Klein und blass saß der große Baldini auf dem Hocker und
sah l
u
cherlich aus mit seinem T
u
chlein in der Hand, das er wie eine
verschnupfte Jungfer gegen die Nase dr
u
ckte. Die Sprache hatte es ihm nun
vollst
u
ndig verschlagen. Er sagte nicht einmal "unglaublich" mehr, sondern
stieß nur noch, indem er fortw
u
hrend leise nickte und auf den Inhalt
der Mischflasche starrte, ein monotones "Hm, hm, hm...hm, hm, hm...hm, hm,
hm.." aus. Nach einer Weile n
u
herte sich Grenouille und trat lautlos wie ein
Schatten an den Tisch.
"Es ist kein gutes Parfum", sagte er, "es ist sehr schlecht
zusammengesetzt, dieses Parfum."
"Hm, hm, hm", sagte Baldini, und Grenouille fuhr fort: "Wenn Sie
erlauben, Maitre, will ich es verbessern. Geben Sie mir eine Minute, und ich
mache Ihnen ein anst
u
ndiges Parfum daraus!"
"Hm, hm, hm", sagte Baldini und nickte. Nicht weil er zustimmte,
sondern weil er eben in einem so hilflos apathischen Zustand war, dass er zu
allem und jedem "hm, hm, hm" gesagt und genickt h
u
tte. Und er nickte auch
weiter und murmelte "hm, hm, hm" und machte keine Anstalten einzugreifen,
als Grenouille zum zweiten Mal zu mischen anfing, ein zweites Mal den
Weingeist aus dem Ballon in die Mischflasche goss, zum bereits darin
befindlichen Parfum hinzu, zum zweiten Mal den Inhalt der Flakons in
scheinbar wahlloser Reihenfolge und Menge in den Trichter kippte. Erst gegen
Ende der Prozedur - Grenouille sch
u
ttelte die Flasche diesmal nicht, sondern
schwenkte sie nur sachte wie ein Cognacglas, vielleicht mit R
u
cksicht auf
Baldinis Zartgef
u
hl, vielleicht weil ihm der Inhalt diesmal kostbarer
erschien - erst jetzt also, als die Fl
u
ssigkeit schon fertig in der Flasche
kreiselte, erwachte Baldini aus seinem bet
u
ubten Zustand und erhob sich, das
T
u
chlein freilich immer noch vor die Nase gepresst, als wolle er sich gegen
einen neuerlichen Angriff auf sein Inneres wappnen.
"Es ist fertig, Maitre", sagte Grenouille. "Jetzt ist es ein recht
guter Duft."
"Jaja, schon gut, schon gut", erwiderte Baldini und winkte ab mit
seiner freien Hand.
"Wollen Sie nicht eine Probe nehmen?" gurgelte Grenouille weiter,
"wollen Sie nicht, Maitre? Keine Probe?"
"Sp
u
ter, bin jetzt nicht aufgelegt zu einer Probe... habe andere Sachen
im Kopf. Geh jetzt! Komm!"
Und er nahm einen der Leuchter und ging zur T
u
r hinaus, hin
u
ber in den
Laden. Grenouille folgte ihm. Sie kamen in den schmalen Korridor, der zum
Dienstboteneingang f
u
hrte. Der Alte schlurfte auf die Pforte zu, riss den
Riegel zur
u
ck und
u
ffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen.
"Darf ich nun bei Ihnen arbeiten, Maitre, darf ich?" fragte Grenouille,
schon auf der Schwelle stehend, wieder geduckt, wieder lauernden Auges.
"Ich weiß es nicht", sagte Baldini, "ich werde dar
u
ber
nachdenken. Geh!"
Und dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt
von der Dunkelheit. Baldini stand da und glotzte in die Nacht. In der
rechten Hand hielt er den Leuchter, in der linken das T
u
chlein, wie einer,
der Nasenbluten hat, und hatte doch nur Angst. Rasch riegelte er die T
u
re
zu. Dann nahm er das sch
u
tzende Tuch vom Gesicht, schob es in die Tasche und
ging durch den Laden in die Werkstatt zur
u
ck. Der Duft war so himmlisch gut,
dass Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine
Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete.
Das Parfum war herrlich. Es war im Vergleich zu >Amor und Psyche< wie
eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. Und es war
mehr. Baldini schloss die Augen und sah sublimste Erinnerungen in sich
wachgerufen. Er sah sich als einen jungen Menschen durch abendliche G
u
rten
von Neapel gehen; er sah sich in den Armen einer Frau mit schwarzen Locken
liegen und sah die Silhouette eines Strauchs von Rosen auf dem Fenstersims,
u
ber das ein Nachtwind ging; er h
u
rte versprengte V
u
gel singen und von Ferne
die Musik aus einer Hafenschenke; er h
u
rte Fl
u
sterndes ganz dicht am Ohr, er
h
u
rte ein Ich lieb dich und sp
u
rte, wie sich ihm vor Wonne die Haare
str
u
ubten, jetzt! jetzt in diesem Augenblick! Er riss die Augen auf und
st
u
hnte vor Vergn
u
gen. Dieses Parfum war kein Parfum, wie man es bisher
kannte. Das war kein Duft, der besser riechen machte, kein Sentbon, kein
Toilettenartikel. Das war ein v
u
llig neuartiges Ding, das eine ganze Welt
aus sich erschaffen konnte, eine zauberhafte, reiche Welt, und man
vergaß mit einem Schlag die Ekelhaftigkeiten um sich her und f
u
hlte
sich so reich, so wohl, so frei, so gut...
Die gestr
u
ubten Haare an Baldinis Arm legten sich, und eine bet
u
rende
Seelenruhe ergriff Besitz von ihm. Er nahm das Leder, das Ziegenleder, das
am Rand des Tisches lag und nahm ein Messer und schnitt das Leder zu. Dann
legte er die St
u
cke in die Wanne aus Glas und
u
bergoss sie mit dem neuen
Parfum. Er st
u
rzte eine Glasplatte auf die Wanne, zog den Rest des Duftes
auf zwei Fl
u
schchen, die er mit Etiketts versah, darauf schrieb er den Namen
>Nuit Napolitaine<. Dann l
u
schte er das Licht und ging.
Oben bei seiner Frau beim Essen sagte er nichts. Vor allem sagte er
nichts von dem hochheiligen Entschluss, den er am Nachmittag gefasst hatte.
Auch seine Frau sagte nichts, denn sie merkte, dass er heiter war, und damit
war sie sehr zufrieden. Er ging auch nicht mehr hin
u
ber nach Notre-Dame, um
Gott zu danken f
u
r seine Charakterst
u
rke. Ja, er vergaß an diesem Tag
sogar zum ersten Mal, zur Nacht zu beten.
Am n
u
chsten Morgen ging er schnurstracks zu Grimal.Als erster bezahlte
er das Ziegenleder, und zwar den vollen Preis, ohne Murren und ohne die
geringste Feilscherei. Und dann lud er Grimal zu einer Flasche
Weißwein in die Tour d'Argent ein und handelte ihm den Lehrling
Grenouille ab. Selbstverst
u
ndlich verriet er nicht, weshalb er ihn wollte
und wozu er ihn brauchte. Er schwindelte etwas daher von einem großen
Auftrag in Duftleder, zu dessen Bew
u
ltigung er einer ungelernten Hilfskraft
bed
u
rfe. Einen gen
u
gsamen Burschen brauche er, der ihm einfachste Dienste
verrichte, Leder zuschneide und so weiter. Er bestellte noch eine Flasche
Wein und bot zwanzig Livre als Entsch
u
digung f
u
r die Unannehmlichkeit, die
er Grimal durch den Ausfall Grenouilles verursachte. Zwanzig Livre waren
eine enorme Summe. Grimal schlug sofort ein. Sie gingen in die Gerberei, wo
Grenouille sonderbarerweise schon mit gepacktem B
u
ndel wartete, Baldini
zahlte
seine zwanzig Livre und nahm ihn, im Bewusstsein, das beste Gesch
u
ft
seines Lebens gemacht zu haben, gleich mit.
Grimal, der seinerseits
u
berzeugt war, das beste Gesch
u
ft seines Lebens
gemacht zu haben, kehrte in die Tour d'Argent zur
u
ck, trank dort zwei
weitere Flaschen Wein, zog dann gegen Mittag in den Lion d'Or am andern Ufer
um und besoff sich dort so hemmungslos, dass er, als er sp
u
t nachts abermals
in die Tour d'Argent umziehen wollte, die Rue Geoffroi L'Anier mit der Rue
des Nonaindieres verwechselte und somit, statt, wie er gehofft hatte, direkt
auf den Pont Marie zu stoßen, verh
u
ngnisvollerweise auf den Quai des
Ormes geriet, von wo aus er der L
u
nge nach mit dem Gesicht voraus ins Wasser
platschte wie in ein weiches Bett. Er war augenblicklich tot. Der Fluss aber
brauchte noch geraume Zeit, ihn vom seichten Ufer weg, an den vert
u
uten
Lastk
u
hnen vorbei, in die st
u
rkere mittlere Str
u
mung zu ziehen, und erst in
den fr
u
hen Morgenstunden schwamm der Gerber Grimal, oder vielmehr seine
nasse Leiche, in flotterer Fahrt flussabw
u
rts, gen Westen.
Als er den Pont au Change passierte, lautlos, ohne an den
Br
u
ckenpfeiler anzuecken, ging Jean-Baptiste Grenouille zwanzig Meter
u
ber
ihm gerade zu Bett. Er hatte in der hinteren Ecke von Baldinis Werkstatt
eine Pritsche hingestellt bekommen, von der er nun Besitz ergriff, w
u
hrend
sein ehemaliger Brotherr, alle viere von sich gestreckt, die kalte Seine
hinunter schwamm. Wohlig rollte er sich zusammen und machte sich klein wie
der Zeck. Mit beginnendem Schlaf versenkte er sich tiefer und tiefer in sich
hinein und hielt triumphalen Einzug in seiner inneren Festung, auf der er
sich ein geruchliches Siegesfest ertr
u
umte, eine gigantische Orgie mit
Weihrauchqualm und Myrrhendampf, zu Ehren seiner selbst.
Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des Hauses Giuseppe
Baldini zu nationalem, ja europ
u
ischem Ansehen. Das persische Glockenspiel
stand nicht mehr still, und die Reiher h
u
rten nicht mehr auf zu speien im
Laden auf dem Pont au Change.
Am ersten Abend noch musste Grenouille einen großen Ballon
>Nuit Napolitaine< ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages
u
ber
achtzig Flakons verkauft wurden. Der Ruf des Duftes verbreitete sich mit
rasender Geschwindigkeit. Chenier bekam ganz glasige Augen vom Geldz
u
hlen
und einen schmerzenden R
u
cken von den tiefen B
u
cklingen, die er verrichten
musste, denn es erschienen hohe und h
u
chste Herrschaften, oder zumindest die
Diener von hohen und h
u
chsten Herrschaften. Und einmal flog sogar die T
u
r
auf, dass es nur so schepperte, und herein trat der Lakai des Grafen
d'Argenson und schrie, wie nur Lakaien schreien k
u
nnen, dass er f
u
nf
Flaschen von dem neuen Duft haben wolle, und Chenier zitterte noch eine
Viertelstunde sp
u
ter vor Ehrfurcht, denn der Graf d'Argenson war Intendant
und Kriegsminister Seiner Majest
u
t und der m
u
chtigste Mann von Paris.
W
u
hrend Chenier im Laden allein dem Ansturm der Kundschaft ausgesetzt
war, hatte sich Baldini mit seinem neuen Lehrling in der Werkstatt
eingeschlossen. Chenier gegen
u
ber rechtfertigte er diesen Umstand mit einer
phantastischen Theorie, die er als "Arbeitsteilung und Rationalisierung"
bezeichnete. Jahrelang, so erkl
u
rte er, habe er geduldig mitangesehen, wie
Pelissier und seinesgleichen zunftverachtende Gestalten ihm die Kundschaft
abspenstig gemacht und das Gesch
u
ft versaut h
u
tten. Jetzt sei sein Langmut
zu Ende. Jetzt nehme er die Herausforderung an und schlage wider diese
frechen Parven
u
s zur
u
ck, und zwar mit deren eigenen Mitteln: Zu jeder
Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen
D
u
ften auftrumpfen, und mit was f
u
r welchen! Er wolle aus dem vollen seiner
kreativen Ader sch
u
pfen. Und dazu sei es n
u
tig, dass er - unterst
u
tzt allein
von einer ungelernten Hilfskraft - ganz und ausschließlich die
Produktion der D
u
fte betreibe, w
u
hrend Chenier sich ausschließlich
deren Verkauf zu widmen habe. Mit dieser modernen Methode werde man ein
neues Kapitel in der Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz
hinwegfegen und unermesslich reich werden - ja, er sage bewusst und
ausdr
u
cklich "man", denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen an diesen
unermesslichen Reicht
u
mern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.
Vor wenigen Tagen noch h
u
tte Chenier solche Reden seines Meisters als
Anzeichen eines beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. Jetzt ist er reif f
u
r
die Charit
u
<, h
u
tte er gedacht, >jetzt kann's nicht mehr lange dauern,
bis er das Pistill endg
u
ltig aus der Hand legt. < Nun aber dachte er
nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er
hatte so viel zu tun, dass er abends vor Ersch
u
pfung kaum noch in der Lage
war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam
nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn
Baldini beinahe t
u
glich mit irgendeinem neuen Duft aus seiner Werkstatt
trat.
Und was f
u
r D
u
fte waren das! Nicht nur Parfums der h
u
chsten,
allerh
u
chsten Schule, sondern auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen,
W
u
sser,
u
le ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und
herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles, selbst auf die
neuartigen Dufthaarb
u
nder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages
hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine
Rolle. Alles, was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war
dermaßen
u
berw
u
ltigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm
und nicht mehr nach seinen Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling,
der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt hauste wie ein Hund und den man
manchmal, wenn der Meister heraustrat, im Hintergrund stehen und Gl
u
ser
wischen und M
u
rser putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun
haben sollte mit dem sagenhaften Aufbl
u
hen des Gesch
u
fts, das h
u
tte Chenier
nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt h
u
tte.
Nat
u
rlich hatte der Gnom alles damit zu tun. Das, was Baldini in den
Laden brachte und Chenier zum Verkauf
u
berließ, war nur ein Bruchteil
dessen, was Grenouille hinter verschlossenen T
u
ren zusammenmischte. Baldini
kam mit dem Riechen nicht mehr nach. Es war ihm manchmal eine regelrechte
Qual, unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte, eine Wahl zu
treffen. Dieser Zauberlehrling h
u
tte alle Parfumeure Frankreichs mit
Rezepten versorgen k
u
nnen, ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur ein Mal
etwas Minderwertiges oder auch nur Mittelm
u
ßiges hervorzubringen. -
Das heisst, mit Rezepten, also Formeln, h
u
tte er sie eben
nicht
versorgen
k
u
nnen, denn zun
u
chst komponierte Grenouille seine D
u
fte noch auf jene
chaotische und v
u
llig unprofessionelle Manier, die Baldini schon kannte,
indem er n
u
mlich aus der freien Hand in scheinbar wildem Durcheinander
Ingredienzien mischte. Um das verr
u
ckte Gesch
u
ft, wenn nicht zu
kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu k
u
nnen, verlangte Baldini
eines Tages von Grenouille, er m
u
ge sich, auch wenn er das f
u
r unn
u
tig
halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Messbechers und der
Pipette bedienen; er m
u
ge sich ferner angew
u
hnen, den Weingeist nicht als
Duftstoff zu begreifen, sondern als L
u
sungsmittel, welches erst im
nachhinein zuzusetzen sei; und erm
u
ge schließlich um Gottes willen
langsam hantieren, gem
u
chlich und langsam, wie es sich f
u
r einen Handwerker
geh
u
re.
Grenouille tat das. Und zum ersten Mal war Baldini in der Lage, die
einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu verfolgen und zu dokumentieren.
Mit Feder und Papier saß er neben Grenouille und notierte, immer
wieder zur Langsamkeit mahnend, wie viel Gramm von diesem, wie viel
Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten Ingredienz in die
Mischflasche wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem er n
u
mlich einen
Vorgang nachtr
u
glich mit eben jenen Mitteln analysierte, ohne deren
vorherigen Gebrauch er eigentlich gar nicht h
u
tte stattfinden d
u
rfen,
gelangte Baldini endlich doch in den Besitz der synthetischen Vorschrift.
Wie
Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb f
u
r
Baldini zwar weiterhin ein R
u
tsel, vielmehr ein Wunder, aber wenigstens
hatte er das Wunder jetzt auf eine Formel gebracht und damit seinen nach
Regeln d
u
rstenden Geist einigermaßen befriedigt und sein
parfumistisches Weltbild vor dem vollst
u
ndigen Kollaps bewahrt.
Nach und nach entlockte er Grenouille die Rezepturen s
u
mtlicher
Parfums, die dieser bisher erfunden hatte, und er verbot ihm
schließlich sogar, neue D
u
fte anzusetzen, ohne dass er, Baldini, mit
Feder und Papier zugegen war, den Prozess mit Argusaugen beobachtete und
Schritt f
u
r Schritt dokumentierte. Seine Notizen, bald viele Dutzende von
Formeln,
u
bertrug er dann penibel mit gestochener Schrift in zwei
verschiedene B
u
chlein, deren eines er in seinen feuerfesten Geldschrank
einschloss und deren anderes er st
u
ndig bei sich trug und mit dem er nachts
auch schlafen ging. Das gab ihm Sicherheit. Denn nun konnte er, wenn er
wollte, Grenouilles Wunder selber nachvollziehen, die ihn, als er sie zum
erstenmal erlebte, tief ersch
u
ttert hatten. Mit seiner schriftlichen
Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche sch
u
pferische Chaos, welches aus
dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen zu k
u
nnen. Auch hatte die
Tatsache, dass er nicht mehr bloß bl
u
de staunend, sondern beobachtend
und registrierend an den Sch
u
pfungsakten teilnahm, auf Baldini eine
beruhigende Wirkung und st
u
rkte sein Selbstvertrauen. Nach einer Weile
glaubte er gar von sich, zum Gelingen der sublimen D
u
fte nicht unwesentlich
beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine B
u
chlein eingetragen hatte
und im Tresor und dicht am eigenen Busen verwahrte, zweifelte er sowieso
nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.
Aber auch Grenouille profitierte von dem disziplinierenden Verfahren,
das ihm von Baldini aufgezwungen wurde. Er selbst war zwar nicht darauf
angewiesen. Er musste nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach
Wochen oder Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß Ger
u
che nicht.
Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage
die Sprache der Parfumerie, under sp
u
rte instinktiv, dass ihm die Kenntnis
dieser Sprache von Nutzen sein konnte. Nach wenigen Wochen beherrschte
Grenouille nicht nur die Namen s
u
mtlicher Duftstoffe in Baldinis Werkstatt,
sondern er war auch in der Lage, die Formel seiner Parfums selbst
niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln und Anweisungen in Parfums
und sonstige Riecherzeugnisse zu verwandeln. Und mehr noch! Nachdem er
einmal gelernt hatte, seine parfumistischen Ideen in Gramm und Tropfen
auszudr
u
cken, bedurfte er nicht einmal mehr des experimentellen
Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es f
u
r ein
Taschentuchparfum, f
u
r ein Sachet, f
u
r eine Schminke zu kreieren, so griff
Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach
an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg
von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung
der Formel zu erweitern. F
u
r ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt,
das heisst in Baldinis Augen, jedoch war es ein Fortschritt. Grenouilles
Wunder blieben dieselben. Aber die Rezeptur, mit denen er sie nun versah,
nahmen ihnen den Schrecken, und das war von Vorteil. Je besser Grenouille
die handwerklichen Griffe und Verfahrensweisen beherrschte, je normaler er
sich in der konventionellen Sprache der Parfumerie auszudr
u
cken wusste,
desto weniger f
u
rchtete und beargw
u
hnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini
ihn zwar noch f
u
r einen ungew
u
hnlich begabten Geruchsmenschen, nicht mehr
aber f
u
r einen zweiten Frangipani oder gar f
u
r einen unheimlichen
Hexenmeister, und Grenouille war das nur recht. Der handwerkliche Komment
diente ihm als willkommene Tarnung. Er lullte Baldini geradezu ein durch
sein vorbildliches Verfahren beim W
u
gen der Zutaten, beim Schwenken der
Mischflasche, beim Betupfen des weißen Probiert
u
chleins. Er konnte es
fast schon so zierlich sch
u
tteln, so elegant an der Nase vor
u
berfliegen
lassen wie der Meister. Und gelegentlich, in wohldosierten Intervallen,
beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste:
Vergaß zu filtrieren, stellte die Waage falsch ein, schrieb einen
unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ
sich den Fehler verweisen, um ihn dann geflissentlichst zu korrigieren. So
gelang es ihm, Baldini in der Illusion zu wiegen, es gehe letzten Endes
alles doch mit rechten Dingen zu. Er wollte den Alten ja nicht verprellen.
Er wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von Parfums, nicht
die rechte Komposition eines Duftes, nat
u
rlich nicht! Auf diesem Gebiet gab
es niemand auf der Welt, der ihn etwas h
u
tte lehren k
u
nnen, und die in
Baldinis Laden vorhandenen Ingredienzien h
u
tten auch bei weitem nicht
ausgereicht, seine Vorstellungen eines wirklich großen Parfums zu
verwirklichen. Was er bei Baldini an Ger
u
chen realisieren konnte, waren
Spielereien verglichen mit den Ger
u
chen, die er in sich trug und die er
eines Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte es
zweier unabdingbarer Voraussetzungen: Die eine war der Mantel einer
b
u
rgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er
seinen eigentlichen Leidenschaften fr
u
nen und seine eigentlichen Ziele
ungest
u
rt verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen
Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte,
konservierte und somit f
u
r eine h
u
here Verwendung
u
berhaupt erst verf
u
gbar
machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt,
sowohl analytisch als auch vision
u
r, aber er besaß noch nicht die
F
u
higkeit, sich der Ger
u
che dinglich zu bem
u
chtigen.
Und so ließ er sich denn willig unterweisen in der Kunst des
Seifenkochens aus Schweinefett, des Handschuhn
u
hens aus Waschleder, des
Pudermischens aus Weizenmehl und Mandelkleie und gepulverten
Veilchenwurzeln. Rollte Duftkerzen aus Holzkohle, Salpeter und
Sandelholzsp
u
nen. Presste orientalische Pastillen aus Myrrhe, Benzoe und
Bernsteinpulver. Knetete Weihrauch, Schellack, Vetiver und Zimt zu
R
u
ucherk
u
gelchen. Siebte und spaltete Poudre Imperiale aus gemahlenen
Rosenbl
u
ttern, Lavendelbl
u
te, Kaskarillarinde. R
u
hrte Schminken, weiß
und aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, f
u
r die Lippen. Schl
u
mmte
feinste Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte
Kr
u
uselfl
u
ssigkeit f
u
r das Per
u
ckenhaar und Warzentropfen f
u
r die
H
u
hneraugen, Sommersprossenbleiche f
u
r die Haut und Belladonnaauszug f
u
r die
Augen, Spanischfliegensalbe f
u
r die Herren und Hygieneessig f
u
r die Damen...
Die Herstellung s
u
mtlicher W
u
sserchen und P
u
lverchen, Toilette- und
Sch
u
nheitsmittelchen, aber auch von Tee- und W
u
rzmischungen, von Lik
u
ren,
Marinaden und dergleichen, kurz, alles, was Baldini ihn mit seinem
großen
u
berkommenen Wissen zu lehren hatte, lernte Grenouille, ohne
sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg.
Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im
Anfertigen von Tinkturen, Ausz
u
gen und Essenzen unterwies. Unerm
u
dlich
konnte er Bittermandelkerne in der Schraubenpresse quetschen oder
Moschusk
u
rner stampfen oder fette graue Amberknollen mit dem Wiegemesser
hacken oder Veilchenwurzeln raspeln, um die Sp
u
ne dann in feinstem Alkohol
zu digerieren. Er lernte den Gebrauch des Scheidetrichters kennen, mit
welchem man das reine
u
l gepresster Limonenschalen von der tr
u
ben
R
u
ckstandsbr
u
he trennte. Er lernte Kr
u
uter und Bl
u
ten zu trocknen, auf
Rosten in schattiger W
u
rme, und das raschelnde Laub in wachsversiegelten
T
u
pfen und Truhen zu konservieren. Er erlernte die Kunst, Pomaden
auszuwaschen, Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren, zu
klarifizieren und zu rektifizieren.
Freilich war Baldinis Werkstatt nicht dazu geeignet, dass man darin in
großem Stile Bl
u
ten- oder Kr
u
uter
u
le fabrizierte. Es h
u
tte in Paris ja
auch die notwendigen Mengen frischer Pflanzen kaum gegeben. Gelegentlich
jedoch, wenn frischer Rosmarin, wenn Salbei, Minze oder Anissamen am Markt
billig zu haben waren oder wenn ein gr
u
ßerer Posten Irisknollen oder
Baldrianwurzel, K
u
mmel, Muskatnuss oder trockne Nelkenbl
u
te eingetroffen
war, dann regte sich Baldinis Alchimistenader, und er holte seinen
großen Alambic hervor, einen kupfernen Destillierbottich mit oben
aufgesetztem Kondensiertopf - einen sogenannten Maurenkopfalambic, wie er
stolz verk
u
ndete -, mit dem er schon vor vierzig Jahren an den s
u
dlichen
H
u
ngen Liguriens und auf den H
u
hen des Luberon auf freiem Felde Lavendel
destilliert habe. Und w
u
hrend Grenouille das Destilliergut zerkleinerte,
heizte Baldini in hektischer Eile - denn rasche Verarbeitung war das A und O
des Gesch
u
fts - eine gemauerte Feuerstelle ein, auf die er den kupfernen
Kessel, mit einem guten Bodensatz Wasser gef
u
llt, postierte. Er warf die
Pflanzenteile hinein, stopfte den doppelwandigen Maurenkopf auf den Stutzen
und schloss zwei Schl
u
uchlein f
u
r zu- und abfließendes Wasser daran
an. Diese raffinierte Wasserk
u
hlungskonstruktion, so erkl
u
rte er, sei erst
nachtr
u
glich von ihm eingebaut worden, denn seinerzeit auf dem Felde habe
man selbstverst
u
ndlich mit bloßer zugef
u
chelter Luft gek
u
hlt. Dann
blies er das Feuer an.
Allm
u
hlich begann es, im Kessel zu brodeln. Und nach einer Weile, erst
zaghaft tr
u
pfchenweise, dann in fadend
u
nnem Rinnsal, floss Destillat aus der
dritten R
u
hre des Maurenkopfs in eine Florentinerflasche, die Baldini
untergestellt hatte. Es sah zun
u
chst recht unansehnlich aus, wie eine d
u
nne,
tr
u
be Suppe. Nach und nach aber, vor allem wenn die gef
u
llte Flasche durch
eine neue ausgetauscht und ruhig beiseite gestellt worden war, schied sich
die Br
u
he in zwei verschiedene Fl
u
ssigkeiten: unten stand das Bl
u
ten- oder
Kr
u
uterwasser, obenauf schwamm eine dicke Schicht von
u
l. Goss man nun
vorsichtig durch den unteren Schnabelhals der Florentinerflasche das nur
zart duftende Bl
u
tenwasser ab, so blieb das reine
u
l zur
u
ck, die Essenz, das
starke riechende Prinzip der Pflanze. Grenouille war von dem Vorgang
fasziniert. Wenn je etwas im Leben Begeisterung in ihm entfacht hatte
freilich keine
u
ußerlich sichtbare, sondern eine verborgene, wie in
kalter Flamme brennende Begeisterung -, dann war es dieses Verfahren, mit
Feuer, Wasser und Dampf und einer ausgekl
u
gelten Apparatur den Dingen ihre
duftende Seele zu entreißen. Diese duftende Seele, das
u
therische
u
l,
war ja das Beste an ihnen, das einzige, um dessentwillen sie ihn
interessierten. Der bl
u
de Rest: Bl
u
te, Bl
u
tter, Schale, Frucht, Farbe,
Sch
u
nheit, Lebendigkeit und was sonst noch an
u
berfl
u
ssigem in ihnen
steckte, das k
u
mmerte ihn nicht. Das war nur H
u
lle und Ballast. Das geh
u
rte
weg.
Von Zeit zu Zeit, wenn das Destillat w
u
ssrig klar geworden war, nahmen
sie den Alambic vom Feuer,
u
ffneten ihn und sch
u
tteten das zerkochte Zeug
heraus. Es sah schlapp aus und blass wie aufgeweichtes Stroh, wie gebleichte
Knochen kleiner V
u
gel, wie Gem
u
se, das zu lang gekocht hat, fad und fasrig,
matschig, kaum noch als es selbst erkenntlich, eklig leichenhaft und so gut
wie vollst
u
ndig des eigenen Geruchs beraubt. Sie warfen es zum Fenster
hinaus in den Fluss. Dann beschickten sie mit neuen frischen Pflanzen,
f
u
llten Wasser nach und setzten den Alambic zur
u
ck auf die Feuerstelle. Und
wieder begann der Kessel zu brodeln, und wieder rann der Lebenssaft der
Pflanzen in die Florentinerflaschen. So ging es oft die ganze Nacht
hindurch. Baldini besorgte den Ofen, Grenouille behielt die Flaschen im
Auge, mehr war nicht zu tun in der Zeit zwischen den Wechseln.
Sie saßen auf Schemeln ums Feuer, im Banne des plumpen Bottichs,
beide gebannt, wenn auch aus sehr verschiedenen Gr
u
nden. Baldini genoss die
Glut des Feuers und das flackernde Rot der Flammen und des Kupfers, er
liebte das Knistern des brennenden Holzes, das Gurgeln des Alambics, denn
das war wie fr
u
her. Da konnte man ins Schw
u
rmen kommen! Er holte eine
Flasche Wein aus dem Laden, denn die Hitze machte ihn durstig, und
Weintrinken, das war auch wie fr
u
her. Und dann fing er an, Geschichten zu
erz
u
hlen, von damals, endlos. Vom spanischen Erbfolgekrieg, an dessen
Verlauf er, gegen die
u
sterreicher k
u
mpfend, maßgeblich beteiligt
gewesen sei; von den Camisards, mit denen er die Cevennen unsicher gemacht
habe; von der Tochter eines Hugenotten im Esterei, die vom Lavendelduft
berauscht ihm zu Willen gewesen sei; von einem Waldbrand, den er dabei um
ein Haar entfacht und der dann wohl die gesamte Provence in Brand gesteckt
h
u
tte, so sicher wie das Amen in der Kirche, denn es ging ein scharfer
Mistral; und vom Destillieren erz
u
hlte er, immer wieder davon, auf freiem
Feld, nachts, beim Mondschein, bei Wein und bei Zikadengeschrei, und von
einem Lavendel
u
l, das er dabei erzeugt habe, so fein und kr
u
ftig, dass man
es ihm mit Silber auf gewogen habe; von seiner Lehrzeit in Genua, von seinen
Wanderjahren und von der Stadt Grasse, in der es so viele Parfumeure gebe
wie anderswo Schuster, und so reiche darunter, dass sie lebten wie F
u
rsten,
in pr
u
chtigen H
u
usern mit schattigen G
u
rten und Terrassen und holzget
u
felten
Esszimmern, in denen sie speisten von porzellanenen Tellern mit Goldbesteck,
und so fort...
Solche Geschichten erz
u
hlte der alte Baldini und trank Wein dazu und
bekam vom Wein und von der Feuerglut und von der Begeisterung
u
ber seine
eignen Geschichten ganz feuerrote B
u
ckchen. Grenouille aber, der etwas mehr
im Schatten saß, h
u
rte gar nicht zu. Ihn interessierten keine alten
Geschichten, ihn interessierte ausschließlich der neue Vorgang. Er
starrte unausgesetzt auf das R
u
hrchen am Kopf des Alambics, aus dem in
d
u
nnem Strahl das Destillat rann. Und indem er es anstarrte, stellte er sich
vor, er selbst sei so ein Alambic, in dem es brodele wie in diesem und aus
dem ein Destillat hervorquelle wie hier, nur eben besser, neuer,
ungewohnter, ein Destillat von jenen exquisiten Pflanzen, die er selbst in
seinem Innern gezogen hatte, die dort bl
u
hten, ungerochen außer von
ihm selbst, und die mit ihrem einzigartigen Parfum die Welt in einen
duftenden Garten Eden verwandeln k
u
nnten, in welchem f
u
r ihn das Dasein
olfaktorisch einigermaßen ertr
u
glich w
u
re. Ein großer Alambic zu
sein, der alle Welt mit seinen selbsterzeugten Destillaten
u
berschwemmte,
das war der Wunschtraum, dem Grenouille sich hingab.
W
u
hrend aber Baldini, vom Wein entz
u
ndet, immer ausschweifendere
Geschichten davon erz
u
hlte, wie es fr
u
her gewesen war, und sich immer
hemmungsloser in die eigenen Schw
u
rmereien verstrickte, ließ
Grenouille bald ab von seiner bizarren Phantasie. Er verbannte die
Vorstellung vom großen Alambic f
u
rs erste aus seinem Kopf und
u
berlegte stattdessen, wie er sich seine neuerworbenen Kenntnisse f
u
r
n
u
herliegende Ziele nutzbar machen k
u
nnte.
Nicht lang, und er war ein Spezialist auf dem Gebiet des Destillierens.
Er fand heraus - und seine Nase half ihm dabei mehr als Baldinis Regelwerk
-, dass die Hitze des Feuers von entscheidendem Einfluss auf die G
u
te des
Destillates war. Jede Pflanze, jede Bl
u
te, jedes Holz und jede
u
lfrucht
verlangten eine besondere Prozedur. Mal musste sch
u
rfster Dampf entwickelt,
mal nur m
u
ßig stark gebrodelt werden, und manche Bl
u
te gab ihr Bestes
erst, wenn man sie auf kleinster Flamme schwitzen ließ.
u
hnlich wichtig war die Aufbereitung. Minze und Lavendel konnte man in
ganzen B
u
scheln destillieren. Andres wollte fein verlesen sein, zerpfl
u
ckt,
gehackt, geraspelt, gestampft oder sogar als Maische angesetzt, bevor es in
den Kupferkessel kam. Manches aber ließ sich
u
berhaupt nicht
destillieren, und das erbitterte Grenouille aufs
u
ußerste.
Baldini hatte ihm, als er sah, wie sicher Grenouille die Apparatur
beherrschte, freie Hand im Umgang mit dem Alambic gelassen, und Grenouille
hatte diese Freiheit weidlich genutzt. W
u
hrend er tags
u
ber Parfums mischte
und sonstige Duft- und W
u
rzprodukte fertigte, besch
u
ftigte er sich nachts
ausschließlich mit der geheimnisvollen Kunst des Destillierens. Sein
Plan war, vollkommen neue Geruchsstoffe zu produzieren, um damit wenigstens
einige der D
u
fte, die er in seinem Innern trug, herstellen zu k
u
nnen.
Zun
u
chst hatte er auch kleine Erfolge. Es gelang ihm, ein
u
l von
Brennesselbl
u
ten und von Kressesamen zu erzeugen, ein Wasser von der
frischgesch
u
lten Rinde des Holunder-Strauchs und von Eibenzweigen. Die
Destillate
u
hnelten zwar im Duft den Ausgangsstoffen kaum noch, waren aber
immerhin noch interessant genug, um f
u
r weitere Verarbeitung zu taugen. Dann
allerdings gab es Stoffe, bei denen das Verfahren vollst
u
ndig versagte.
Grenouille versuchte etwa, den Geruch von Glas zu destillieren, den
lehmig-k
u
hlen Geruch glatten Glases, der von normalen Menschen gar nicht
wahrzunehmen ist. Er besorgte sich Fensterglas und Flaschenglas und
verarbeitete es in großen St
u
cken, in Scherben, in Splittern, als
Staub - ohne den geringsten Erfolg. Er destillierte Messing, Porzellan und
Leder, Korn und Kieselsteine. Schiere Erde destillierte er. Blut und Holz
und frische Fische. Seine eigenen Haare. Am Ende destillierte er sogar
Wasser, Wasser aus der Seine, dessen eigent
u
mlicher Geruch ihm wert schien,
aufbewahrt zu werden. Er glaubte, mit Hilfe des Alambics k
u
nne er diesen
Stoffen ihren charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian,
bei Lavendel und beim K
u
mmelsamen m
u
glich war. Er wusste ja nicht, dass die
Destillation nichts anderes war als ein Verfahren zur Trennung gemischter
Substanzen in ihre fl
u
chtigen und weniger fl
u
chtigen Einzelteile und dass
sie f
u
r die Parfumerie nur insofern von Nutzen war, als sie das fl
u
chtige
u
therische
u
l gewisser Pflanzen von ihren duftlosen oder duftarmen Resten
absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses
u
therische
u
l abging, war das
Verfahren der Destillation nat
u
rlich v
u
llig sinnlos. Uns heutigen Menschen,
die wir physikalisch ausgebildet sind, leuchtet das sofort ein. F
u
r
Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das m
u
hselig errungene Ergebnis einer
langen Kette von entt
u
uschenden Versuchen.
u
ber Monate hinweg hatte er Nacht
f
u
r Nacht am Alambic gesessen und auf jede erdenkliche Weise versucht,
mittels Destillation radikal neue D
u
fte zu erzeugen, D
u
fte, wie es sie in
konzentrierter Form auf Erden noch nicht gegeben hatte. Und bis auf ein paar
l
u
cherliche Pflanzen
u
le war nichts dabei herausgekommen. Aus dem tiefen,
unermesslich reichen Brunnen seiner Vorstellung hatte er keinen einzigen
Tropfen konkreter Duftessenz gef
u
rdert, von allem, was ihm geruchlich
vorgeschwebt hatte, nicht ein Atom realisieren k
u
nnen.
Als er sich
u
ber sein Scheitern klargeworden war, stellte er die
Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank.
Er bekam hohes Fieber, das in den ersten Tagen von Ausschwitzungen
begleitet war und sp
u
ter, als gen
u
gten die Poren der Haut nicht mehr,
unz
u
hlige Pusteln erzeugte. Grenouilles K
u
rper war
u
bers
u
t von diesenroten
Bl
u
schen. Viele von ihnen platzten auf und ergossen ihren w
u
ssrigen Inhalt,
um sich dann wieder von neuem zu f
u
llen. Andere wuchsen sich zu wahren
Furunkeln aus, schwollen dick rot an und rissen wie Krater auf und spieen
dickfl
u
ssigen Eiter aus und mit gelben Schlieren durchsetztes Blut. Nach
einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter M
u
rtyrer, aus
hundert Wunden schw
u
rend. Da machte sich Baldini nat
u
rlich Sorgen. Es w
u
re
ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem
Augenblick zu verlieren, wo er sich anschickte, seinen Handel
u
ber die
Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen. Denn in der
Tat geschah es immer h
u
ufiger, dass nicht nur aus der Provinz, sondern auch
von ausl
u
ndischen H
u
fen Bestellungen eingingen f
u
r jene neuartigen D
u
fte,
nach denen Paris verr
u
ckt war; und Baldini trug sich mit dem Gedanken, zur
Bew
u
ltigung dieser Nachfrage eine Filiale im Faubourg Saint-Antoine zu
gr
u
nden, eine veritable kleine Manufaktur, wo die g
u
ngigsten D
u
fte en gros
gemischt und en gros in nette kleine Flakons gef
u
llt, von netten kleinen
M
u
dchen verpackt nach Holland, England und ins Deutsche Reich verschickt
werden sollten. F
u
r einen in Paris ans
u
ssigen Meister war ein solches
Unterfangen nicht gerade legal, aber neuerdings verf
u
gte Baldini ja
u
ber
Protektion h
u
heren Orts, seine raffinierten D
u
fte hatten sie ihm verschafft,
nicht nur beim Intendanten, sondern auch bei so wichtigen Pers
u
nlichkeiten
wie Monsieur dem Zollp
u
chter von Paris und einem Mitglied des k
u
niglichen
Finanzkabinetts und F
u
rderer wirtschaftlich florierender Unternehmen wie dem
Herrn Feydeau de Brou. Dieser hatte sogar k
u
nigliches Privileg in Aussicht
gestellt, das Beste, was man sich
u
berhaupt w
u
nschen konnte, war es doch
eine Art Passepartout zur Umgehung s
u
mtlicher staatlicher und st
u
ndischer
Bevormundung, das Ende aller gesch
u
ftlichen Sorgen und eine ewige Garantie
f
u
r sicheren, unangefochtenen Wohlstand.
Und dann gab es noch einen anderen Plan, mit dem Baldini schwanger
ging, einen Lieblingsplan, eine Art Gegenprojekt zu der Manufaktur im
Faubourg Saint-Antoine, die, wenn nicht Massenware, so doch f
u
r jedermann
k
u
ufliche produzierte: Er wollte f
u
r eine ausgew
u
hlte Zahl hoher und
h
u
chster Kundschaft pers
u
nliche Parfums kreieren, vielmehr kreieren lassen,
Parfums, die, wie angeschneiderte Kleider, nur zu einer Person passten, nur
von dieser verwendet werden durften und allein ihren erlauchten Namen
trugen. Er stellte sich ein >Parfum de la Marquise de Cernay< vor, ein
>Parfum de la Marechale de Villars<, ein >Parfum du Duc
d'Aiguillon< und so fort. Er tr
u
umte von einem >Parfum de Madame la
Marquise de Pompadour<, ja sogar von einem >Parfum de Sa Majeste le
Roi< im k
u
stlichgeschliffenen achatenen Flakon mit ziselierter
Goldfassung und dem auf der Innenseite des Fußes verborgen
eingravierten Namen >Giuseppe Baldini, Parfumeur<. Des K
u
nigs Namen
und sein eigener auf ein und demselben Gegenstand. Zu solch herrlichen
Vorstellungen hatte sich Baldini verstiegen! Und nun war Grenouille krank
geworden. Wo doch Grimal, Gott hab ihn selig, geschworen hatte, dem fehle
nie etwas, der halte alles aus, sogar die schwarze Pest stecke der weg. War
mir nichts, dir nichts krank auf den Tod. Wenn er st
u
rbe? Entsetzlich! Dann
st
u
rben mit ihm die herrlichen Pl
u
ne von der Manufaktur, von den netten
kleinen M
u
dchen, vom Privilegium und vom Parfum des K
u
nigs.
Also beschloss Baldini, nichts unversucht zu lassen, um das teure Leben
seines Lehrlings zu retten. Er ordnete eine Umsiedlung von der
Werkstattpritsche in ein sauberes Bett im Obergeschoß des Hauses an.
Er ließ das Bett mit Damast beziehen. Er half eigenh
u
ndig mit, den
Kranken die enge Stiege hinaufzutragen, obwohl ihn uns
u
glich vor den Pusteln
und den schw
u
renden Furunkeln ekelte. Er befahl seiner Frau, H
u
hnerbr
u
he mit
Wein zu kochen. Er schickte nach dem renommiertesten Arzt im Quartier, einem
gewissen Procope, der im voraus bezahlt werden musste, zwanzig Franc! damit
er sich
u
berhaupt herbem
u
hte.
Der Doktor kam, hob mit spitzen Fingern das Laken hoch, warf einen
einzigen Blick auf Grenouilles K
u
rper, der wirklich aussah wie von hundert
Kugeln zerschossen, und verließ das Zimmer, ohne seine Tasche, die der
Assistent ihm st
u
ndig nachtrug, auch nur ge
u
ffnet zu haben. Der Fall, begann
er zu Baldini, sei v
u
llig klar. Es handle sich um eine syphilitische
Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden Masern in stadio
ultimo. Eine Behandlung sei schon deshalb nicht vonn
u
ten, da ein Schnepper
zum Aderlass an dem sich zersetzenden Leib, der einer Leiche
u
hnlicher sei
als einem lebenden Organismus, gar nicht mehr ordnungsgem
u
ß angebracht
werden k
u
nne. Und obwohl der f
u
r den Krankheitsverlauf charakteristische
pestilenzartige Gestank noch nicht wahrzunehmen sei - was allerdings
verwundere und vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ein
kleines Kuriosum darstelle -, k
u
nne am Ableben des Patienten innerhalb der
kommenden achtundvierzig Stunden nicht der geringste Zweifel herrschen, so
wahr er Doktor Procope heiße. Worauf er sich abermals zwanzig Franc
auszahlen ließ f
u
r absolvierten Besuch und erstellte Prognose - f
u
nf
Franc davon r
u
ckzahlbar f
u
r den Fall, dass man ihm den Kadaver mit der
klassischen Symptomatik zu Demonstrationszwecken
u
berließ - und sich
empfahl. Baldini war außer sich. Er klagte und schrie vor
Verzweiflung. Er biss sich in die Finger vor Wut
u
ber sein Schicksal. Wieder
einmal wurden ihm die Pl
u
ne f
u
r den ganz, ganz großen Erfolg kurz vor
dem Ziel vermasselt. Seinerzeit, da waren's Pelissier und seine
Spießgesellen mit ihrem Erfindungsreichtum gewesen. Jetzt war's dieser
Junge mit seinem unersch
u
pflichen Fundus an neuen Ger
u
chen, dieser mit Gold
gar nicht aufzuwiegende kleine Dreckskerl, der ausgerechnet jetzt, in der
gesch
u
ftlichen Aufbauphase, die syphilitischen Blattern bekommen musste und
die eitrigen Masern in stadio ultimo! Ausgerechnet jetzt! Warum nicht in
zwei Jahren? Warum nicht in einem? Bis dahin h
u
tte man ihn auspl
u
ndern
k
u
nnen wie eine Silbermine, wie einen Goldesel. In einem Jahr h
u
tte er
getrost sterben d
u
rfen. Aber nein! Er starb jetzt, Herrgottsakrament, binnen
achtundvierzig Stunden!
F
u
r einen kurzen Moment erwog Baldini den Gedanken, nach Notre-Dame
hin
u
berzupilgern, eine Kerze anzuz
u
nden und von der Heiligen Mutter Gottes
Genesung f
u
r Grenouille herbeizuflehen. Aber dann ließ er den Gedanken
fallen, denn die Zeit dr
u
ngte zu sehr. Er lief um Tinte und Papier und
verscheuchte seine Frau aus dem Zimmer des Kranken. Er wolle selbst die
Wache halten. Dann ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder,
die Notizbl
u
tter auf den Knien, die tintenfeuchte Feder in der Hand, und
versuchte, Grenouille eine parfumistische Beichte abzunehmen. Er m
u
ge doch
um Gottes willen die Sch
u
tze, die er in seinem Innern trage, nicht sang- und
klanglos mit sich nehmen! Er m
u
ge doch jetzt in seinen letzten Stunden ein
Testament zu treuen H
u
nden hinterlassen, damit der Nachwelt nicht die besten
D
u
fte aller Zeiten vorenthalten blieben! Er, Baldini, werde dieses
Testament, diesen Formelkanon der sublimsten aller je gerochnen D
u
fte, treu
verwalten und zum Bl
u
hen bringen. Er werde unsterblichen Ruhm an Grenouilles
Namen heften, ja, er werde - und hiermit schw
u
re er's bei allen Heiligen -
den besten dieser D
u
fte dem K
u
nig selbst zu F
u
ßen legen, in einem
achatenen Flakon mit ziseliertem Gold und eingravierter Widmung >Von
Jean-Baptiste Grenouille, Parfumeur in Paris<. - So sprach, oder besser:
so fl
u
sterte Baldini in Grenouilles Ohr, beschw
u
rend, flehentlich,
schmeichelnd und unausgesetzt.
Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als w
u
ssriges
Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast und ent
u
ußerte sich
dieser ekelhaften S
u
fte, nicht aber seiner Sch
u
tze, seines Wissens, nicht
der geringsten Formel eines Dufts. Baldini h
u
tte ihn erw
u
rgen m
u
gen,
erschlagen h
u
tte er ihn m
u
gen, herausgepr
u
gelt aus dem moribunden K
u
rper
h
u
tte er am liebsten die kostbaren Geheimnisse, wenn's Aussicht auf Erfolg
gehabt... und wenn es seiner Auffassung von christlicher N
u
chstenliebe nicht
so eklatant widersprochen h
u
tte.
Und so s
u
uselte und fl
u
tete er denn weiter in den s
u
ßesten T
u
nen
und umh
u
tschelte den Kranken und tupfte ihm mit k
u
hlen T
u
chern - wiewohl es
ihn grauenhafte
u
berwindung kostete - die schweißnasse Stirn und die
gl
u
henden Vulkane der Wunden, und l
u
ffelte ihm Wein in den Mund, um seine
Zunge zum Sprechen zu bringen, die ganze Nacht hindurch - vergebens. Im
Morgengrauen gab er es auf. Er fiel ersch
u
pft in einen Sessel am anderen
Ende des Zimmers und starrte, nicht einmal mehr w
u
tend, sondern nur noch
stiller Resignation ergeben, auf den kleinen sterbenden K
u
rper Grenouilles
dr
u
ben im Bett, den er weder retten noch berauben konnte, aus dem er nichts
mehr f
u
r sich bergen konnte, dessen Untergang er nur noch tatenlos
mitansehen musste wie ein Kapit
u
n den Untergang des Schiffs, das seinen
ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt.
Da
u
ffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer
Stimme, die in ihrer Klarheit und Festigkeit von bevorstehendem Untergang
wenig ahnen ließ, sprach er: "Sagen Sie, Maitre: Gibt es noch andre
Mittel als das Pressen oder Destillieren, um aus einem K
u
rper Duft zu
gewinnen?"
Baldini, der glaubte, dass die Stimme seiner Einbildung oder dem
Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: "Ja, die gibt es."
"Welche?" fragte es vom Bett her, und Baldini riss die m
u
den Augen auf.
Regungslos lag Grenouille in den Kissen. Hatte die Leiche gesprochen?
"Welche?" fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die Bewegung auf
Grenouilles Lippen. "Jetzt ist es aus", dachte er, "jetzt geht's dahin, das
ist der Fieberwahn oder die Todesagonie." Und er stand auf, ging zum Bett
hin
u
ber und beugte sich
u
ber den Kranken. Der hatte die Augen ge
u
ffnet und
sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an, mit dem er ihn bei
der ersten Begegnung fixiert hatte.
"Welche?" fragte er.
Da gab Baldini seinem Herzen einen Stoß - er wollte einem
Sterbenden den letzten Willen nicht versagen - und antwortete: "Es gibt
deren drei, mein Sohn: Die enfleurage
u
chaud, die enfleurage
u
froid und
die enfleurage
u
l'huile. Sie sind dem Destillieren in vieler Hinsicht
u
berlegen, und man bedient sich ihrer zur Gewinnung der feinsten aller
D
u
fte: des Jasmins, der Rose und der Orangenbl
u
te."
"Wo?" fragte Grenouille.
"Im S
u
den", antwortete Baldini. "Vor allem in der Stadt Grasse."
"Gut", sagte Grenouille.
Und damit schloss er die Augen. Baldini richtete sich langsam auf. Er
war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizbl
u
tter zusammen, auf die er keine
einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen
tagte es schon. Er war hundem
u
de. Man h
u
tte einen Priester kommen lassen
sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein fl
u
chtiges Zeichen des
Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief
nur sehr fest und tr
u
umte tief und zog seine S
u
fte in sich zur
u
ck. Schon
begannen die Bl
u
schen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu
versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf
einer Woche war er genesen.
Am liebsten w
u
re er gleich weggegangen nach S
u
den, dorthin, wo man die
neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber
daran war nat
u
rlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das
heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erkl
u
rte ihm Baldini - nachdem er
seine anf
u
ngliche Freude
u
ber Grenouilles Wiederauferstehung
u
berwunden
hatte -, strenggenommen war er noch weniger als ein Nichts, denn zum
ordentlichen Lehrling geh
u
rten tadellose, n
u
mlich eheliche Abkunft,
standesgem
u
ße Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er alles nicht
besitze. Wenn er, Baldini, ihm dennoch eines Tages zum Gesellenbrief
verhelfen wolle, so nur in Anbetracht von Grenouilles nicht allt
u
glicher
Begabung, eines tadellosen k
u
nftigen Verhaltens und wegen seiner, Baldinis,
unendlichen Gutherzigkeit, die er, auch wenn sie ihm oft zum Schaden
gereicht habe, niemals verleugnen k
u
nne.
Es hatte freilich mit der Einl
u
sung dieses Versprechens der
Gutm
u
tigkeit gute Weile, n
u
mlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erf
u
llte
sich Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Tr
u
ume. Er gr
u
ndete
die Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven
Parfums bei Hofe durch, bekam k
u
nigliches Privileg. Seine feinen
Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach
Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt,
wo man doch weiß Gott genug eigene D
u
fte besaß. In den feinen
Kontoren der Londoner City duftete es ebenso nach Baldinis Parfums wie am
Hofe von Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im Schl
u
sschen des
Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit
abgefunden hatte, sein Alter in bitterer Armut bei Messina zu verbringen,
mit siebzig Jahren zum unumstritten gr
u
ßten Parfumeur Europas
aufgestiegen und zu einem der reichsten B
u
rger von Paris.
Anfang des Jahres 1756 - er hatte sich unterdessen das Nebenhaus auf
dem Pont au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte
Haus war nun buchst
u
blich bis unters Dach mit Duftstoffen und Spezereien
vollgestopft - er
u
ffnete er Grenouille, dass er nun gewillt sei, ihn
freizusprechen, allerdings nur unter drei Bedingungen: Erstens d
u
rfe er
s
u
mtliche unter Baldinis Dach entstandenen Parfums k
u
nftig weder selbst
herstellen noch ihre Formel an Dritte weitergeben; zweitens m
u
sse er Paris
verlassen und d
u
rfe es zu Baldinis Lebzeiten nicht wieder betreten; und
drittens habe er
u
ber die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen
zu bewahren. Dies alles solle er beschw
u
ren bei s
u
mtlichen Heiligen, bei der
armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre.
Grenouille, der weder eine Ehre hatte noch an Heilige oder gar an die
arme Seele seiner Mutter glaubte, schwor. Er h
u
tte alles geschworen. Er
h
u
tte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen l
u
cherlichen
Gesellenbrief haben, der es ihm erm
u
glichte, unauff
u
llig zu leben und
unbehelligt zu reisen und Anstellung zu finden. Das andere war ihm
gleichg
u
ltig. Was waren das auch schon f
u
r Bedingungen! Paris nicht mehr
betreten? Wozu brauchte er Paris! Er kannte es ja bis in den letzten
stinkenden Winkel, er f
u
hrte es mit sich, wohin immer er ging, er
besaß Paris, seit Jahren. - Keinen von Baldinis Erfolgsd
u
ften
herstellen, keine Formeln weitergeben? Als ob er nicht tausend andere
erfinden k
u
nnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte
ja gar nicht. Er hatte ja gar nicht vor, in Konkurrenz zu Baldini oder zu
irgendeinem anderen der b
u
rgerlichen Parfumeure zu treten. Er war nicht
darauf aus, mit seiner Kunst das große Geld zu machen, nicht einmal
leben wollte er von ihr, wenn's anders m
u
glich war zu leben. Er wollte
seines Innern sich ent
u
ußern, nichts anderes, seines Innern, das er
f
u
r wunderbarer hielt als alles, was die
u
ußere Welt zu bieten hatte.
Und deshalb waren Baldinis Bedingungen f
u
r Grenouille keine Bedingungen.
Im Fr
u
hjahr zog er los, an einem Tag im Mai, fr
u
hmorgens. Er hatte von
Baldini einen kleinen Rucksack bekommen, ein zweites Hemd, zwei Paar
Str
u
mpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und f
u
nfundzwanzig Franc.
Das sei weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini, zumal
Grenouille f
u
r die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld
bezahlt habe. Verpflichtet sei er zu zwei Franc Weggeld, zu sonst gar
nichts. Aber er k
u
nne eben seine Gutm
u
tigkeit so wenig verleugnen wie die
tiefe Sympathie, die sich im Lauf der Jahre in seinem Herzen f
u
r den guten
Jean-Baptiste angesammelt habe. Er w
u
nsche ihm viel Gl
u
ck auf seiner
Wanderschaft und ermahne ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht
zu vergessen. Damit brachte er ihn an die T
u
r des Dienstboteneingangs, wo er
ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn.
Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder
nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte
u
berhaupt immer
vermieden, ihn zu ber
u
hren, aus einer Art frommem Ekel, so, als best
u
nde die
Gefahr, dass er sich anstecke an ihm, sich besudele. Er sagte nur kurz
adieu. Und Grenouille nickte und duckte sich weg und ging davon. Die
Straße war menschenleer.
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Baldini schaute ihm nach, wie er die Br
u
cke hinunterhatschte, zur Insel
hin
u
ber, klein, geb
u
ckt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten
aussehend wie ein alter Mann. Dr
u
ben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine
Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich
erleichtert.
Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich
eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und
ausgepl
u
ndert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie
einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein
Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf
die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war
riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervosit
u
t und
schlechtes Gewissen. Tats
u
chlich war in all den Jahren kein Tag vergangen,
an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen w
u
re, er
m
u
sse auf irgendeine Weise daf
u
r bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen
eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder
u
ngstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses
gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche daf
u
r zu bezahlen! Wenn's mir
nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge
zudr
u
cken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens
oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also w
u
re es nur gerecht,
wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen
schon, wenn es
u
berhaupt eines ist? H
u
chstens darin, dass ich mich ein wenig
außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung
eines Ungelernten exploitiere und seine F
u
higkeit als meine eigne ausgebe.
H
u
chstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der
handwerklichen Tugend abgewichen bin. H
u
chstens darin, dass ich heute tue,
was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betr
u
gen
ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und
auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat.
Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst,
der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung f
u
r die
Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen.
Vielleicht richtet sich die g
u
ttliche F
u
gung
u
berhaupt nicht auf mich,
sondern
gegen
Pelissier! Das k
u
nnte sehr wohl m
u
glich sein! Wie anders
n
u
mlich w
u
re Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich
erh
u
hte? Mein Gl
u
ck w
u
re infolgedessen das Mittel g
u
ttlicher Gerechtigkeit,
und als solches d
u
rfte ich nicht nur, ich m
u
sste es akzeptieren, ohne Scham
und ohne die geringste Reue...
So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn
er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem
Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silberm
u
nzen in seinen
Geldschrank z
u
hlte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe
seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gl
u
ck nicht schlafen konnte.
Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der
unheimliche Gast war fort und w
u
rde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber
blieb und war f
u
r alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine
Brust und sp
u
rte durch den Stoff des Rocks das B
u
chlein
u
ber seinem Herzen.
Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen
von Parfumeuren jemals w
u
rden realisieren k
u
nnen. Wenn er heute alles
verl
u
re, so k
u
nnte er allein mit diesem wunderbaren B
u
chlein binnen
Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr
verlangen!
Die Morgensonne fiel
u
ber die Giebel der gegen
u
berliegenden H
u
user gelb
und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach S
u
den die
Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu
angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus
einem
u
berbordenden Gef
u
hl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame
hin
u
berzupilgern, ein Goldst
u
ck in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen
anzuz
u
nden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel
Gl
u
ck
u
berh
u
uft und vor Rache verschont hatte.
Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am
Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte,
wurde das Ger
u
cht laut, die Engl
u
nder h
u
tten Frankreich den Krieg erkl
u
rt.
Das war zwar an und f
u
r sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just
dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob
er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um
Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im
Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London f
u
rs erste zu stornieren.
Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee:
Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen
Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren
unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen
Erfolg - das stand fest - ihn f
u
r den Wegfall des Englandgesch
u
fts mehr als
entsch
u
digen w
u
rde. Mit diesem s
u
ßen Gedanken in seinem dummen alten
Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der
Druck des Formelb
u
chleins angenehm sp
u
rbar machte, entschlief Maitre Baldini
und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.
In der Nacht n
u
mlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit
geb
u
hrender Verz
u
gerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach s
u
mtliche
H
u
user auf s
u
mtlichen Br
u
cken der Stadt Paris auf k
u
niglichen Befehl hin
abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change
auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich
zusammen. Zwei H
u
user st
u
rzten in den Fluss, so vollst
u
ndig und so
pl
u
tzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Gl
u
cklicherweise
handelte es sich nur um zwei Personen, n
u
mlich um Giuseppe Baldini und seine
Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang
genommen. Chenier, der erst in den fr
u
hen Morgenstunden leicht angetrunken
nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja
nicht mehr da -, erlitt einen nerv
u
sen Zusammenbruch. Er hatte sich
dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine
Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und
nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Gesch
u
ft,
Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das
vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben h
u
tte!
Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die
B
u
chlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe
Baldini, Europas gr
u
ßtem Parfumeur, zur
u
ckblieb, war ein sehr
gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen
Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach
Le Havre
u
berschwebte.
Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini st
u
rzte, befand sich
Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der
großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich
weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und
sauberer. Sie d
u
nnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter
f
u
r Meter Hunderte, Tausende verschiedener Ger
u
che in rasendem Wechsel,
sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der
Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen
u
ber
das Land, langsam sich bl
u
hend, langsam schwindend, kaum je abrupt
unterbrochen.
Grenouille empfand diese Simplizit
u
t wie eine Erl
u
sung. Die
gem
u
chlichen D
u
fte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben
musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues,
Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum
ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu
m
u
ssen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei str
u
mte nat
u
rlich nichts
durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass
dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles,
was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben
lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Ankl
u
nge von so etwas wie
Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Gl
u
ck erlebte, atmete er
lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem
hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem m
u
rderischen
Schrei. Aber von dieser Einschr
u
nkung abgesehen, die bei ihm eine
konstitutionelle Beschr
u
nkung war, f
u
hlte sich Grenouille, je weiter er
Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging
er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer
geraden K
u
rperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein
gew
u
hnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch.
Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris
lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf
der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den
Straßen und Pl
u
tzen wimmelte es von ihnen, und die H
u
user waren
vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die D
u
cher. Es gab kaum einen
Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein
Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch.
Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang
wie gewitterschw
u
le Luft bedr
u
ckt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt
klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es
sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkr
u
mmen m
u
sse. Es war aber
nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der
menschenleeren Welt, ließ sich leben.
Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische
Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen
auf die N
u
he der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des
Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner urspr
u
nglichen
Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit
nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er
machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Ch
u
teauneuf
auf die Loire und
u
berquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst.
Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend,
landeinw
u
rts.
Er mied jetzt nicht mehr nur die St
u
dte, er mied auch die D
u
rfer. Er
war wie berauscht von der sich immer st
u
rker ausd
u
nnenden, immer
menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, n
u
herte er sich
einer Siedlung oder einem alleinstehenden Geh
u
ft, kaufte Brot und verschwand
wieder in den W
u
ldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen
mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht
mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das
erste Gras m
u
hten.
u
ngstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe
wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich
querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden
entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere
Handwerksburschen und Herumtreiber, f
u
rchtete, kontrolliert und nach
Papieren gefragt und wom
u
glich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden - er
wusste nicht einmal, dass Krieg war -, sondern einzig und allein, weil ihn
vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und
ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse
zu gehen, allm
u
hlich verblasste; der Plan l
u
ste sich sozusagen in der
Freiheit auf, wie alle anderen Pl
u
ne und Absichten. Grenouille wollte nicht
mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen.
Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tags
u
ber verkroch er
sich ins Unterholz, schlief unter B
u
schen, im Gestr
u
pp, an m
u
glichst
unzug
u
nglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune
Pferdedecke
u
ber K
u
rper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge
verkeilt und abw
u
rts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste
fremde Geruch seine Tr
u
ume st
u
rte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte
nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass
auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer
vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst
wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen
reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und
setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fr
u
her,
als er noch tags
u
ber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen
geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der
Landschaft, das Blendende, die Pl
u
tzlichkeit und die Sch
u
rfe des Sehens mit
den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen.
Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des
Gel
u
ndes. Es
u
berzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte f
u
r eine
Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts
regte als der Wind, der manchmal wie ein Schatten
u
ber die grauen W
u
lder
fiel, und in der nichts lebte als die D
u
fte der nackten Erde, war die
einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie
u
hnelte der Welt seiner
Seele.
So zog er in s
u
dliche Richtung. Ungef
u
hr in s
u
dliche Richtung, denn er
folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der
ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang
traf er keinen Menschen. Und er h
u
tte sich im beruhigenden Glauben wiegen
k
u
nnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen
Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt h
u
tte.
Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es
Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zur
u
ckgezogen wie die
Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im
Schlaf d
u
nsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und
durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie dr
u
ngte und die sich
scheinbar selbst
u
berlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an
die reinere Luft gew
u
hnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein
Menschengeruch, der pl
u
tzlich, v
u
llig unerwartet, n
u
chtens daherflatterte,
scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner
Hirtenunterkunft oder einer K
u
hlerkate oder einer R
u
uberh
u
hle verriet. Und
er fl
u
chtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener
werdenden Geruch des Menschlichen. So f
u
hrte ihn seine Nase in immer
abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den
Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der gr
u
ßtm
u
glichen
Einsamkeit entgegen.
Dieser Pol, n
u
mlich der menschenfernste Punkt des ganzen K
u
nigreichs,
befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa f
u
nf Tagesreisen s
u
dlich von
Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb
du Cantal.
Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war
umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestr
u
pp
bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte
Z
u
hne aufragten und ein paar von Br
u
nden verkohlte B
u
ume. Selbst am
helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der
u
rmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher
getrieben h
u
tte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie
in ihrer gottverlassenen
u
de nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der
weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in
die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen,
als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand
gesucht und gefunden h
u
tte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer
erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben w
u
re. In
meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches
warmbl
u
tiges Tier, bloß ein paar Flederm
u
use und ein paar K
u
fer und
Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als
der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine
Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in
immer noch reinere L
u
fte, und er drehte sich im Kreise und ließ den
Blick seiner Nase
u
ber das gewaltige Panorama des vulkanischen
u
dlands
streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die
S
u
mpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er
gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach
Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein
und hartem Gras entgegentrug; nach S
u
den schließlich, wo die Ausl
u
ufer
des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der
Truyere.
u
berall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche
Menschenferne, und zugleich h
u
tte jeder Schritt in jede Richtung wieder
gr
u
ßere Menschenn
u
he bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine
Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt
seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die
Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die
Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argw
u
hnte
er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken.
Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche
Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene
Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der d
u
rren Gr
u
ser, und sonst
nichts.
Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch.
Er war auf sein Gl
u
ck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange
gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, w
u
hrend die Sonne stieg, seine
Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen
menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer H
u
tte, dem Rauch eines
Feuers, einem
Zaun,
einer Br
u
cke, einer Herde. Er hielt die H
u
nde an die
Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines
Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag
u
ber verharrte er in der
gl
u
hendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich
auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen
allm
u
hlich einem immer st
u
rker werdenden Gef
u
hl der Euphorie: Er war dem
verhassten Odium entkommen! Er war tats
u
chlich vollst
u
ndig allein! Er war
der einzige Menschauf der Welt!
Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbr
u
chiger nach
wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch
begr
u
ßt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit.
Er schrie vor Gl
u
ck. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte
mit den F
u
ßen auf den Boden, warf die Arme in die H
u
he, tanzte im
Kreis, br
u
llte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die F
u
uste,
sch
u
ttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land
und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als h
u
tte er sie pers
u
nlich vom
Himmel verjagt. Er f
u
hrte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die
Nacht hinein.
Die n
u
chsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten -
denn das stand f
u
r ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht
mehr verlassen w
u
rde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in
einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem d
u
nnen Film am
Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang
leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf f
u
r einen Tag gestillt. Er fand
auch Nahrung, n
u
mlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem
er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu
aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach
b
u
rgerlichen Maßst
u
ben v
u
llig undiskutable Ern
u
hrungsweise verdross
ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er
sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und
K
u
se ern
u
hrt, sondern, wenn er Hunger versp
u
rte, alles zusammengefressen,
was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts
weniger als ein Gourmet. Er hatte es
u
berhaupt nicht mit dem Genuss, wenn
der Genuss in etwas anderem als dem reinen k
u
rperlosen Geruch bestand. Er
hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und w
u
re zufrieden gewesen, sein
Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres.
Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen nat
u
rlichen Stollen, der in
vielen engen Windungen in das Innere des Berges f
u
hrte, bis er nach etwa
dreißig Metern an einer Versch
u
ttung endete. Dort, am Ende des
Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein ber
u
hrten,
und so niedrig, dass er nur geb
u
ckt stehen konnte. Aber er konnte sitzen,
und wenn er sich kr
u
mmte, konnte er sogar liegen. Das gen
u
gte seinem
Bed
u
rfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unsch
u
tzbare Vorz
u
ge:
Am Ende des Tunnels herrschte selbst tags
u
ber stockfinstere Nacht, es war
totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige K
u
hle. Grenouille roch
sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es
u
berfiel ihn beinahe ein Gef
u
hl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz
nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er
einen Altar, und legte sich darauf. Er f
u
hlte sich himmlisch wohl. Er lag im
einsamsten Berg Frankreichs f
u
nfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem
eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gef
u
hlt - schon gar
nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen,
hier w
u
rde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste
nicht, wem er danken sollte f
u
r so viel Gl
u
ck. In der folgenden Zeit ging er
nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines
Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu
jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter
Steinplatten oder in kleine H
u
hlen zur
u
ckgezogen, wo er sie mit seiner Nase
aufsp
u
rte.
Zum Gipfel hinauf stieg er w
u
hrend der ersten Wochen wohl noch ein paar
Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine l
u
stige
Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er
Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen
ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie m
u
glich in seine Gruft
zur
u
ckzukehren, wenn er die f
u
rs schiere
u
berleben allern
u
tigsten
Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er
eigentlich. Das heißt, er saß weit
u
ber zwanzig Stunden am Tag
in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener
Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges,
hatte den R
u
cken gegen das Ger
u
ll gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen
geklemmt, und gen
u
gte sich selbst.
Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: B
u
ßer,
Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in W
u
sten
zur
u
ck, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch
in H
u
hlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas
spektakul
u
rer - in K
u
fige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den
L
u
ften schweben. Sie tun das, um Gott n
u
her zu sein. Sie kasteien sich mit
der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein
gottgef
u
lliges Leben zu f
u
hren. Oder sie warten monate- oder jahrelang
darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine g
u
ttliche Mitteilung zukomme, die
sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen.
Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das
geringste im Sinn. Er b
u
ßte nicht und wartete auf keine h
u
here
Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergn
u
gen hatte er sich
zur
u
ckgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner
eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie
seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass
sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie
nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.
Schauplatz dieser Ausschweifungen war - wie k
u
nnte es anders sein -
sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Ger
u
che
eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu
bringen, beschwor er zun
u
chst die fr
u
hesten, die allerentlegensten: den
feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig
verdorrte Odeur ihrer H
u
nde; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den
hysterischen, heißen m
u
tterlichen Schweiß der Amme Bussie; den
Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den M
u
rdergeruch seiner Mutter.
Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es str
u
ubten sich seine Haare vor
wohligem Entsetzen.
Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht
gen
u
gend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen
geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen,
fleischigen H
u
ute und der Gerbbr
u
hen, oder er imaginierte den versammelten
Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schw
u
len lastenden Hitze des
Hochsommers.
Und dann brach mit einem Mal - das war der Sinn der
u
bung - mit
orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er
her
u
ber diese Ger
u
che, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu
beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan
zerst
u
ubte er das Geluder und ers
u
ufte es in einer riesigen reinigenden
Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war
seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch,
zitterte vor Erregung, sein K
u
rper krampfte sich in woll
u
stigem Behagen und
w
u
lbte sich auf, so dass er f
u
r einen Moment mit dem Scheitel an die Decke
des Stollens stieß, um dann langsam zur
u
ckzusinken und liegen zu
bleiben, gel
u
st und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser
eruptive Akt der Extinktion aller widerw
u
rtigen Ger
u
che, wirklich zu
angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge
seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gef
u
hl
rechtschaffener Ersch
u
pfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften
Taten folgt.
Er durfte nun eine Weile lang guten Gewissens ruhen. Er streckte sich
aus; k
u
rperlich, so gut es eben ging im engen steinernen Gelass. Innerlich
jedoch, auf den reingefegten Matten seiner Seele , da streckte er sich
bequem der vollen L
u
nge nach und d
u
ste dahin und ließ sich feine D
u
fte
um die Nase spielen: ein w
u
rziges L
u
ftchen etwa, wie von Fr
u
hlingswiesen
hergetragen; einen lauen Maienwind, der durch die ersten gr
u
nen
Buchenbl
u
tter weht; eine Brise vom Meer, herb wie gesalzene Mandeln. Es war
sp
u
ter Nachmittag, als er sich erhob - sozusagen sp
u
ter Nachmittag, denn es
gab nat
u
rlich keinen Nachmittag oder Vormittag oder Abend oder Morgen, es
gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine Fr
u
hlingswiesen und
keine gr
u
nen Buchenbl
u
tter... es gab
u
berhaupt keine Dinge in Grenouilles
innerem Universum, sondern nur die D
u
fte von Dingen. (Darum ist es eine
fa
u
on de parler,
von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine
ad
u
quate freilich und die einzig m
u
gliche, denn unsere Sprache taugt nicht
zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sp
u
ter Nachmittag, will
sagen ein Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles Seele, wie er im S
u
den am
Ende der Siesta herrscht, wenn die mitt
u
gliche L
u
hmung langsam abf
u
llt von
der Landschaft und das zur
u
ckgehaltne Leben wieder beginnen will. Die
wutentbrannte Hitze - Feindin der sublimen D
u
fte - war verflogen, das
D
u
monenpack vernichtet. Die inneren Gefilde lagen blank und weich in der
lasziven Ruhe des Erwachens und warteten, dass der Wille ihres Herrn
u
ber
sie k
u
me.
Und Grenouille erhob sich - wie gesagt - und sch
u
ttelte den Schlaf aus
seinen Gliedern. Er stand auf, der große innere Grenouille, wie ein
Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gr
u
ße, herrlich
war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die
Runde, stolz und hoheitsvoll:
Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem
einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verw
u
stet, wann
es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet, von ihm ins Unermessliche erweitert
und mit dem Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling. Hier galt
nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen
Grenouille. Und nachdem die
u
blen Gest
u
nke der Vergangenheit hinweggetilgt
waren, wollte er nun, dass es dufte in seinem Reich. Und er ging mit
m
u
chtigen Schritten
u
ber die brachen Fluren und s
u
te Duft der
verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos
weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise
verschleudernd oder einzeln an eigens ausgew
u
hlten Pl
u
tzen versenkend. Bis
in die entlegensten Regionen seines Reiches eilte der Große
Grenouille, der rasende G
u
rtner, und bald war kein Winkel mehr, in den er
kein Duftkorn geworfen h
u
tte.
Und als er sah, dass es gut war und dass das ganze Land von seinem
g
u
ttlichen Grenouillesamen durchtr
u
nkt war, da ließ der Große
Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es
begann all
u
berall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus,
dass es das Herz erfreute. Schon wogte es
u
ppig auf den Plantagen, und in
den verborgenen G
u
rten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Bl
u
ten
platzten schier aus ihrer H
u
lle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt
dem Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines L
u
chelns
u
ber das Land, worauf sich mit einem Schlag die millionenfache Pracht der
Bl
u
ten erschloss, von einem Ende des Reichs bis zum anderen, zu einem
einzigen bunten Teppich, gekn
u
pft aus Myriaden von k
u
stlichen Duftbeh
u
ltern.
Und der Große Grenouille sah, dass es gut war, sehr, sehr gut. Und er
blies den Wind seines Odems
u
ber das Land. Und die Bl
u
ten, liebkost,
verstr
u
mten Duft und vermischten ihre Myriaden D
u
fte zu einem st
u
ndig
changierenden und doch in st
u
ndigem Wechsel vereinten universalen
Huldigungsduft an Ihn, den Großen, den Einzigen, den Herrlichen
Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem
schnuppernd wieder ein, und der Geruch des Opfers war ihm angenehm. Und er
ließ sich herab, seine Sch
u
pfung mehrmals zu segnen, was ihm von
dieser mit Jauchzen und Jubilieren und abermaligen herrlichen
Duftausst
u
ßen gedankt wurde. Unterdessen war es Abend geworden, und
die D
u
fte verstr
u
mten sich weiter und mischten sich in der Bl
u
ue der Nacht
zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der D
u
fte
bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk.
Der Große Grenouille aber war etwas m
u
de geworden und g
u
hnte und
sprach: "Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gef
u
llt mir
sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen. Ich will
mich zur
u
ckziehen und mir zum Abschluss dieses arbeitsreichen Tages in den
Kammern meines Herzens noch eine kleine Begl
u
ckung g
u
nnen." Also sprach der
Große Grenouille und segelte, w
u
hrend das einfache Duftvolk unter ihm
freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Fl
u
geln von der goldenen
Wolke herab
u
ber das n
u
chtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz.
Ach, es war angenehm, heimzukehren! Das Doppelamt des R
u
chers und
Weltenerzeugers strengte nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen
Brut stundenlang feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der
g
u
ttlichen Sch
u
pfungs- und Repr
u
sentationsverpflichtungen m
u
de, sehnte sich
der Große Grenouille nach h
u
uslichen Freuden.
Sein Herz war ein purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen W
u
ste,
getarnt hinter D
u
nen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben
steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend
Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons, darunter einen mit
einem einfachen purpurnen Kanapee, auf welchem Grenouille, der nun nicht
mehr der Große Grenouille war, sondern Grenouille ganz privat oder
einfach der liebe Jean-Baptiste, sich von der M
u
hsal des Tages auszuruhen
pflegte.
In den Kammern des Schlosses aber standen Regale vom Boden bis hinauf
an die Decke, und darin befanden sich alle Ger
u
che, die Grenouille im Laufe
seines Lebens gesammelt hatte, mehrere Millionen. Und in den Kellern des
Schlosses, da ruhten in F
u
ssern die besten D
u
fte seines Lebens. Sie wurden,
wenn sie gereift waren, auf Flaschen gezogen und lagen dann in
kilometerlangen feuchtk
u
hlen G
u
ngen, geordnet nach Jahrgang und Herkunft,
und es waren ihrer so viele, dass ein Leben nicht reichte, sie alle zu
trinken.
Und als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein
chez soi,
im purpurnen Salon auf seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die Stiefel,
wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -, klatschte er in die H
u
nde und
rief seine Diener herbei, die unsichtbar, unf
u
hlbar, unh
u
rbar und vor allem
unriechbar, also vollst
u
ndig imagin
u
re Diener waren, und befahl ihnen, in
die Kammern zu gehen und aus der großen Bibliothek der Ger
u
che diesen
oder jenen Band zu besorgen und in den Keller zu steigen und ihm zu trinken
zu holen. Es eilten die imagin
u
ren Diener, und in peinigender Erwartung
krampfte sich Grenouilles Magen zusammen. Es war ihm pl
u
tzlich zumute wie
einem Trinker, den am Tresen die Angst bef
u
llt, man k
u
nnte ihm aus
irgendeinem Grund das bestellte Glas Schnaps verweigern. Was, wenn die
Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den F
u
ssern
verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht? Er
brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war s
u
chtig danach, er
w
u
rde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bek
u
me.
Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was
du begehrst. Schon fliegen die Diener herbei. Sie tragen auf unsichtbarem
Tablett das Buch der Ger
u
che, sie tragen in weißbehandschuhten
unsichtbaren H
u
nden die kostbaren Flaschen, sie setzen sie ab, ganz
behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden.
Und alleine gelassen, endlich - mal wieder! - allein, greift
Jean-Baptiste nach den ersehnten Ger
u
chen,
u
ffnet die erste Flasche, schenkt
sich ein Glas voll bis zum Rand, f
u
hrt es an die Lippen und trinkt. Trinkt
das Glas k
u
hlen Geruchs in einem Zug leer, und es ist k
u
stlich! Es ist so
erl
u
send gut, dass dem lieben Jean-Baptiste vor Wonne das Wasser in die
Augen schießt und er sich sofort das zweite Glas dieses Dufts
einschenkt: eines Dufts aus dem Jahr 1752, aufgeschnappt im Fr
u
hjahr, vor
Sonnenaufgang auf dem Pont Royal, mit nach Westen gerichteter Nase, woher
ein leichter Wind kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom
teerigen Geruch der K
u
hne mischten, die am Ufer lagen. Es war der Duft der
ersten zu Ende gehenden Nacht, die er, ohne Grimals Erlaubnis, in Paris
herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich n
u
hernden
Tages, des ersten Tagesanbruchs, den er in Freiheit erlebte. Dieser Geruch
hatte ihm damals die Freiheit verheißen. Er hatte ihm ein anderes
Leben verheißen. Der Geruch jenes Morgens war f
u
r Grenouille ein
Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank t
u
glich davon.
Nachdem er das zweite Glas geleert hatte, fiel alle Nervosit
u
t, fielen
Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erf
u
llte ihn eine herrliche
Ruhe. Er presste seinen R
u
cken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug
ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den
Ger
u
chen seiner Kindheit, von den Schulger
u
chen, von den Ger
u
chen der
Straßen und Winkel der Stadt, von Menschenger
u
chen. Und angenehme
Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Ger
u
che,
die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las
Grenouille im Buch der ekligen Ger
u
che, und wenn der Widerwille das
Interesse
u
berwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein
anderes.
Nebenher trank er ohne Pause von den edlen D
u
ften. Nach der Flasche mit
dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gef
u
llt war mit
dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem
trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und
bl
u
tenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno
1753.
Er war nun m
u
chtig angef
u
llt von D
u
ften. Die Glieder lagen immer
schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er
noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen,
war ihm das Buch l
u
ngst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend
nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste,
geleert zu haben: Es war der Duft des M
u
dchens aus der Rue des Marais...
Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf
das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte
und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In sch
u
lerhafter Haltung, die Knie
aneinandergepresst, die F
u
ße dicht an dicht gestellt, auf den linken
Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den
k
u
stlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde
immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er
so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er
ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging
auf den Lichtschein zu. Das M
u
dchen saß und schnitt die Mirabellen
auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks...
Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalit
u
t und vom
Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der
letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich
hin. In seinem Hirn war es pl
u
tzlich so leer wie in den Flaschen. Dann
kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment
zum anderen in einen bet
u
ubenden Schlaf.
Zur gleichen Zeit schlief auch der
u
ußere Grenouille auf seiner
Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren
Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen
nicht weniger ersch
u
pft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe
Person.
Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon
seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den
fr
u
hlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im
Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und
ihm war spei
u
bel vor Hunger und Durst und fr
u
stelig und elend wie einem
s
u
chtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem
Stollen.
Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder
die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des
Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig,
raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den
Steinen. Und selbst die zartesten Ger
u
che wirkten streng und beizend auf
seine weltentw
u
hnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie
ein Krebs, der sein Muschelgeh
u
use verlassen hat und nackt durchs Meer
wandert.
Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein,
zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in
der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar
Fetzen Moos von den Steinen, w
u
rgte sie in sich hinein, hockte sich hin,
schiss w
u
hrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -,
und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier w
u
re und
droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zur
u
ck zu seiner H
u
hle
bis ans Ende des Stollens, wo die Pferdedecke lag. Hier war er endlich
wieder sicher.
Er lehnte sich zur
u
ck gegen die Sch
u
tte von Ger
u
ll, streckte die Beine
aus und wartete. Er musste seinen K
u
rper jetzt ganz still halten, ganz
still, wie ein Gef
u
ß, das von zu viel Bewegung
u
berzuschwappen droht.
Allm
u
hlich gelang es ihm, den Atem zu z
u
geln. Sein aufgeregtes Herz schlug
ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und pl
u
tzlich fiel
die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfl
u
che
u
ber sein Gem
u
t. Er schloss
die Augen. Die dunkle T
u
re in sein Inneres tat sich auf, und er trat ein.
Die n
u
chste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann.
So ging es Tag f
u
r Tag, Woche f
u
r Woche, Monat f
u
r Monat. So ging es
sieben ganze Jahre lang.
W
u
hrend dieser Zeit herrschte in der
u
ußeren Welt Krieg, und zwar
Weltkrieg. Man schlug sich in Schlesien und Sachsen, in Hannover und
Belgien, in B
u
hmen und Pommern. Die Truppen des K
u
nigs starben in Hessen und
Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern
sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem Typhus erlagen. Der Krieg kostete
einer Million Menschen das Leben, den K
u
nig von Frankreich sein
Kolonialreich und alle beteiligten Staaten so viel Geld, dass sie sich
schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden.
Grenouille w
u
re einmal in dieser Zeit, im Winter, fast erfroren, ohne
es zu merken. F
u
nf Tage lag er im purpurnen Salon, und als er im Stollen
erwachte, konnte er sich vor K
u
lte nicht mehr bewegen. Er schloss sofort
wieder die Augen, um sich zu Tode zu schlafen. Doch dann kam ein
Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn.
Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich
bis zu den Flechten durchzuw
u
hlen. Da ern
u
hrte er sich von steifgefrorenen
Flederm
u
usen.
Einmal lag ein toter Rabe vor der H
u
hle. Den aß er. Das waren die
einzigen Vorkommnisse, die er von der
u
ußeren Welt in den sieben
Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten lebte er nur in seinem Berg, nur im
selbstgeschaffenen Reich seiner Seele. Und er w
u
re bis zu seinem Tode dort
geblieben (denn es mangelte ihm an nichts), wenn nicht eine Katastrophe
eingetreten w
u
re, die ihn aus dem Berg vertrieben und in die Welt
zur
u
ckgespieen h
u
tte.
Die Katastrophe war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und
kein Stolleneinsturz. Sie war
u
berhaupt keine
u
ußere Katastrophe,
sondern eine innere, und daher besonders peinlich, denn sie blockierte
Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie geschah im Schlaf. Besser gesagt im
Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie.
Er lag auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn standen
die leeren Flaschen. Er hatte enorm viel getrunken, zum Abschluss gar zwei
Flaschen vom Duft des rothaarigen M
u
dchens. Wahrscheinlich war das zu viel
gewesen, denn sein Schlaf, wiewohl von todes
u
hnlicher Tiefe, war diesmal
nicht traumlos, sondern von geisterhaften Traumschlieren durchzogen. Diese
Schlieren waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs. Zuerst zogen sie
nur in d
u
nnen Bahnen an Grenouilles Nase vorbei, dann wurden sie dichter,
wolkenhaft. Es war nun, als st
u
nde er inmitten eines Moores, aus dem der
Nebel stieg. Der Nebel stieg langsam immer h
u
her. Bald war Grenouille
vollkommen umh
u
llt von Nebel, durchtr
u
nkt von Nebel, und zwischen den
Nebelschwaden war kein bisschen freie Luft mehr. Er musste, wenn er nicht
ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel war, wie gesagt, ein
Geruch. Und Grenouille wusste auch, was f
u
r ein Geruch. Der Nebel war sein
eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel.
Und nun war das Entsetzliche, dass Grenouille, obwohl er wusste, dass
dieser Geruch
sein
Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich,
vollst
u
ndig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen!
Als ihm das klargeworden war, schrie er so f
u
rchterlich laut, als w
u
rde
er bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Schrei zerschlug die W
u
nde des
Purpursalons, die Mauern des Schlosses, er fuhr aus dem Herzen
u
ber die
Gr
u
ben und S
u
mpfe und W
u
sten hinweg, raste
u
ber die n
u
chtliche Landschaft
seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den
gewundenen Stollen, hinaus in die Welt, weithin
u
ber die Hochebene von
Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem
eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als m
u
sse er den unriechbaren
Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode ge
u
ngstigt,
schlotterte am ganzen K
u
rper vor schierem Todesschrecken. H
u
tte der Schrei
nicht den Nebel zerrissen, dann w
u
re er an sich selber ertrunken - ein
grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zur
u
ckdachte. Und w
u
hrend er
noch schlotternd saß und versuchte, seine konfusen ver
u
ngstigten
Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz sicher: Er w
u
rde sein
Leben
u
ndern, und sei es nur deshalb, weil er einen so furchtbaren Traum
kein zweites Mal tr
u
umen wollte. Er w
u
rde das zweite Mal nicht
u
berstehen.
Er warf sich die Pferdedecke
u
ber die Schultern und kroch hinaus ins Freie.
Draußen war gerade Vormittag, ein Vormittag Ende Februar. Die Sonne
schien. Das Land roch nach feuchtem Stein, Moos und Wasser. Im Wind lag
schon ein wenig Duft von Anemonen. Er hockte sich vor der H
u
hle auf den
Boden. Das Sonnenlicht w
u
rmte ihn. Er atmete die frische Luft ein. Es
schauderte ihn immer noch, wenn er an den Nebel zur
u
ckdachte, dem er
entronnen war, und es schauderte ihn vor Wohligkeit, als er die W
u
rme auf
dem R
u
cken sp
u
rte. Es war doch gut, dass diese
u
ußere Welt noch
bestand, und sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken das Grauen,
wenn er am Ausgang des Tunnels keine Welt mehr vorgefunden h
u
tte! Kein
Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch diesen entsetzlichen Nebel,
innen, außen,
u
berall...
Allm
u
hlich wich der Schock. Allm
u
hlich lockerte sich der Griff der
Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu f
u
hlen. Gegen Mittag hatte er
seine Kaltbl
u
tigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der
linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerr
u
cken hindurch. Er
roch die feuchte, anemonenw
u
rzige Fr
u
hlingsluft. Von seinen Fingern roch er
nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er sp
u
rte
die W
u
rme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen
u
rmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste,
dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er
jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den
F
u
ßen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging,
hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen
meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine
Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er
nicht in Panik, sondern sagte sich, k
u
hl
u
berlegend, das folgende: "Es ist
nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass
ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus
tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch
abgestumpft ist. K
u
nnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon,
von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entw
u
hnung zu ihm
zur
u
ckkehren, so w
u
rde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen k
u
nnen."
Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von
seinen Kleidern noch
u
briggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus.
Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch
und durch getr
u
nkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor
den Eingang der H
u
hle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit
sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich
an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt
die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten K
u
rper
pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszul
u
ften, sich so sehr mit
Westwind - und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen -
vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen K
u
rpers
u
berwog und sich
somit ein Duftgef
u
lle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern
herstellen m
u
ge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage w
u
re. Und
um m
u
glichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den
Oberk
u
rper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und
streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er
ins Wasser springt.
In dieser
u
ußerst l
u
cherlichen Haltung verharrte er mehrere
Stunden lang, wobei sich seine lichtentw
u
hnte madenweiße Haut trotz
der noch schwachen Sonne langustenrot f
u
rbte. Gegen Abend stieg er wieder
zur H
u
hle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den
letzten Metern hielt er sich die Nase zu und
u
ffnete sie erst wieder, als er
sie dicht
u
ber den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schn
u
ffelprobe, wie
er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie
etappenweise wieder ausstr
u
men. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit
seinen beiden H
u
nden eine Glocke
u
ber den Kleidern, in die er wie einen
Kl
u
ppel seine Nase steckte. Er stellte alles m
u
gliche an, um seinen eigenen
Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er
war entschieden nicht darin. Tausend andre Ger
u
che waren darin. Der Geruch
von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch der Wurst, die er
vor Jahren in der N
u
he von Sully gekauft hatte, war noch deutlich
wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten
sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in
dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht.
Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand
nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang
gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass
er fror, denn in ihm war eine Gegenk
u
lte, n
u
mlich Angst. Es war nicht
dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese gr
u
ßliche Angst
des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzusch
u
tteln galt und
der er hatte entfliehen k
u
nnen. Was er jetzt empfand, war die Angst,
u
ber
sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt.
Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er
musste - und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war - ohne Zweifel wissen,
ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort.
Er ging zur
u
ck in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn
v
u
llige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele
tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung,
roch jede niederh
u
ngende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein.
Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung
an den klaustrophobischen Traum anzuk
u
mpfen, die wie eine Flutwelle in ihm
hoch und h
u
her schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das
heißt, er bek
u
mpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem
Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er
am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Ger
u
llversch
u
ttung anstieg,
fielen beide
u
ngste von ihm ab. Er f
u
hlte sich ruhig, sein Kopf war ganz
klar und seine Nase gesch
u
rft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte
die H
u
nde
u
ber die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen
steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der
Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er pr
u
fte
genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb
er hocken. Er hatte ein untr
u
gliches Ged
u
chtnis und wusste genau, wie es vor
sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter,
salziger K
u
hle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den
Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt.
Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe
nickend. Dann drehte er sich um und ging, zun
u
chst geb
u
ckt, und als die H
u
he
des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie.
Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren
vermodert), legte sich die Pferdedecke
u
ber die Schultern und verließ
noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in s
u
dlicher Richtung.
Er sah f
u
rchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen,
der d
u
nne Bart bis zum Nabel. Seine N
u
gel waren wie Vogelkrallen, und an
Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den K
u
rper zu
bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab.
Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der
Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt
selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen,
um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn f
u
r einen entkommenen
Galeerenstr
u
fling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern
eine Mischung aus einem Menschen und einem B
u
ren, eine Art Waldwesen. Einer,
der fr
u
her zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angeh
u
rige
eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen
Ozeans liege. Man f
u
hrte ihn dem B
u
rgermeister vor. Dort wies er zum
Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf
und erz
u
hlte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten
Worte, die er nach siebenj
u
hriger Pause von sich gab -, aber gut
verst
u
ndlich, dass er auf seiner Wanderschaft von R
u
ubern
u
berfallen,
verschleppt und sieben Jahre lang in einer H
u
hle gefangengehalten worden
sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen
gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen
Korbes ern
u
hrt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne
zu wissen, warum, und ohne seine Entf
u
hrer oder Retter je gesehen zu haben.
Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter
als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen r
u
uberische
u
berf
u
lle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den
Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der B
u
rgermeister
anstandslos zu Protokoll und erstattete
u
ber den Vorfall Bericht an den
Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des
Parlaments in Toulouse.
Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den
R
u
cken gekehrt, sich auf seine G
u
ter zur
u
ckgezogen und dort den
Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk
u
ber
dynamische National
u
konomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf
Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einf
u
hrung einer
umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den
u
rmsten am
h
u
rtesten traf und ihn somit zur st
u
rkeren Entfaltung seiner
wirtschaftlichen Aktivit
u
ten zwang. Durch den Erfolg des B
u
chleins
ermuntert, verfasste er ein Traktat
u
ber die Erziehung von Knaben und
M
u
dchen im Alter zwischen f
u
nf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der
experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die
u
bertragung von
Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles
Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu z
u
chten, eine Art Euterblume. Nach
anf
u
nglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines K
u
ses aus
Grasmilch bef
u
higten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als
>von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet
wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise
u
ber die Felder verspr
u
hten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die
Besch
u
ftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an
der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde
u
berhaupt und an ihrer
Beziehung zur Biosph
u
re geweckt.
Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet,
st
u
rzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay
u
ber die Zusammenh
u
nge zwischen Erdn
u
he und Vitalkraft. Seine These war,
dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln
k
u
nne, da die Erde selbst st
u
ndig ein Verwesungsgas verstr
u
me, ein
sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkr
u
fte lahme und
u
ber kurz
oder lang vollst
u
ndig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen
bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, w
u
chsen also von
ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb tr
u
gen sie ihre wertvollsten
Teile himmelw
u
rts: das Korn die
u
hre, die Blume ihre Bl
u
te, der Mensch den
Kopf; und deshalb m
u
ssten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur
Erde hinkr
u
mme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch
den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in
Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer H
u
hle
- also v
u
llig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er
außer sich vor Entz
u
cken und ließ Grenouille sofort zu sich in
sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer gr
u
ndlichen Untersuchung
unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie best
u
tigt: Das fluidum
letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein
f
u
nfundzwanzigj
u
hriger K
u
rper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen
aufwies. Einzig die Tatsache - so erkl
u
rte Taillade-Espinasse -, dass
Grenouille w
u
hrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen,
vermutlich Brot und Fr
u
chte, zugef
u
hrt worden seien, habe seinen Tod
verhindert. Nun k
u
nne der fr
u
here Gesundheitszustand nur wiederhergestellt
werden durch die gr
u
ndliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von
ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen
solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und
wenn Grenouille bereit w
u
re, sich als wissenschaftliches
Demonstrationsobjekt zur Verf
u
gung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von
seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein
gutes St
u
ck Geld zukommen lassen...
Zwei Stunden sp
u
ter saßen sie im Wagen. Obwohl sich die
Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die
vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis
ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen,
pers
u
nlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel-
und Federbr
u
chen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner
Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten
u
ffentlichkeit zu
pr
u
sentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal
verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm
getr
u
nkten Decke vollst
u
ndig umh
u
llt, dazusitzen. Zu essen bekam er w
u
hrend
der Reise rohes Wurzelgem
u
se. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die
Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.
In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den
Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an s
u
mtliche
Mitglieder der medizinischen Fakult
u
t, des Botanikervereins, der
Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der
Freimaurerloge und der
u
brigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt
nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sp
u
ter - genau
eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich
Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universit
u
t von
Montpellier einer vielhundertk
u
pfigen Menge als die wissenschaftliche
Sensation des Jahres pr
u
sentiert.
In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden
Beweis f
u
r die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. W
u
hrend er ihm
nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erkl
u
rte er den verheerenden
Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles K
u
rper ausge
u
bt habe: Da sehe
man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasver
u
tzung; dort auf der Brust
ein riesiges gl
u
nzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der
Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkr
u
ppelung des Skeletts, die als
Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren
Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgesch
u
digt,
wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Sch
u
ssel zu F
u
ßen
des Demonstranten f
u
r jedermann zug
u
nglich befinde, zweifelsfrei erwiesen
habe. Zusammenfassend k
u
nne daher gesagt werden, dass die L
u
hmung der
Vitalkr
u
fte aufgrund siebenj
u
hriger Verseuchung durch >fluidum letale
Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen
u
ußere Erscheinung im
u
brigen bereits signifikant maulwurfhafte Z
u
ge
aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen
bezeichnet werden m
u
sse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und
f
u
r sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit
Vitaldi
u
t innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die
Anzeichen f
u
r eine vollst
u
ndige Heilung jedermann in die Augen springen
werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der
dann freilich als g
u
ltiger Beweis f
u
r die Richtigkeit der letalen
Erdfluidumstheorie angesehen werden m
u
sse, binnen Wochenfrist zu
u
berzeugen.
Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte
Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem
Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten
Narben und Verkr
u
ppelungen sah er tats
u
chlich so beeindruckend f
u
rchterlich
aus, dass ihn jedermann f
u
r halb verwest und unrettbar verloren hielt,
obwohl er selbst sich durchaus gesund und kr
u
ftig f
u
hlte. Manche der Herren
beklopften ihn fachm
u
nnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und
Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem
H
u
hlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch
streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf
solche Fragen nur mit einem gepressten R
u
cheln, wobei er mit beiden H
u
nden
hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch
dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei.
Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und
verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er
ihn im Beisein einiger ausgew
u
hlter Doktoren der medizinischen Fakult
u
t in
den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern
gefertigten Verschlag, der mittels eines weit
u
ber das Dach hinausreichenden
Ansaugekamins mit letalgasfreier H
u
henluft durchflutet wurde, welche durch
eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In
Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die
Tag und Nacht daf
u
r sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren
nicht zur Ruhe kamen. Und w
u
hrend Grenouille auf diese Weise von einem
st
u
ndigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in st
u
ndlichem
Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges
Luftschleusent
u
rchen di
u
tetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten:
Taubenbr
u
he, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst,
Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyren
u
enwein, Gemsenmilch und
Eischaumcreme von H
u
hnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.
F
u
nf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und
Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten
und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in B
u
dern von lauwarmem
Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit
Nuss
u
lseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen
wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehenn
u
gel, reinigte seine Z
u
hne mit
feingeschl
u
mmtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, k
u
rzte und k
u
mmte seine Haare,
coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und
Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und
weißen R
u
schen an den Manschetten, seidene Str
u
mpfe, Rock, Hose und
Weste aus blauem Samt und sch
u
ne Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren
rechter geschickt den verkr
u
ppelten Fuß kaschierte. H
u
chsteigenh
u
ndig
legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges
Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den
Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich
edle W
u
lbung. Dann st
u
ubte er ihn mit seinem pers
u
nlichen Parfum ein, einer
ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zur
u
ck und brauchte
lange Zeit, sein Entz
u
cken in Worte zu fassen.
"Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin
ersch
u
ttert
u
ber meine Genialit
u
t. Ich habe an der Richtigkeit meiner
fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; nat
u
rlich nicht; sie aber in
praktizierter Therapie so herrlich best
u
tigt zu finden, ersch
u
ttert mich.
Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine
geradezu g
u
ttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich ger
u
hrt bin! - Treten Sie vor
diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in
Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders
außergew
u
hnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin
ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und
bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!"
Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt
hatte.
Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in
einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich,
mit weißem Hemd und Seidenstr
u
mpfen, und er duckte sich ganz
instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der
feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder
aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und
fixierten sich.
Was Grenouille am meisten verbl
u
ffte, war die Tatsache, dass er so
unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders
aus, nicht gut, aber auch nicht besonders h
u
ßlich. Er war ein wenig
klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig
ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn
er jetzt hinunter auf die Straße ginge, w
u
rde kein Mensch sich nach
ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst w
u
rde ein solcher, wie er jetzt war,
irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er w
u
rde riechen,
dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig r
u
che wie der Herr im
Spiegel und er selbst, der davorstand.
Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend
auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders
gef
u
hlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, f
u
hlte er sich kein
bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem K
u
rper
aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte
Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den
schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und pl
u
tzlich wusste er, dass es nicht
die Taubenbr
u
he und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen
normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar
Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade.
Er
u
ffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm
zublinzelte und wie ein kleines L
u
cheln um seine karmesinroten Lippen
strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht g
u
nzlich
unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel,
diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz
ohne sei; zumindest schien ihm, als k
u
nnte sie w
u
rde man ihre Maske nur
vervollkommnen - eine Wirkung auf die
u
ußere Welt tun, wie er,
Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut h
u
tte. Er nickte der Gestalt zu
und sah, dass sie, w
u
hrend sie wieder nickte, verstohlen die N
u
stern
bl
u
hte...
Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die n
u
tigsten
Posen, Gesten und Tanzschritte f
u
r den bevorstehenden gesellschaftlichen
Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und
st
u
rzte scheinbar vollkommen entkr
u
ftet und wie von Erstickung bedroht auf
einem Diwan nieder.
Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie
nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und w
u
hrend die Diener eilten,
kniete er an Grenouilles Seite nieder, f
u
chelte ihm mit seinem
veilchenduftgetr
u
nkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn
regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele
auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend m
u
glich, noch bis
u
bermorgen
hinzuwarten, da sonst das
u
berleben der letalen Fluidaltheorie aufs
u
ußerste gef
u
hrdet sei.
Grenouille wand und kr
u
mmte sich, keuchte,
u
chzte, fuchtelte mit seinen
Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr
dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke
des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft,
"nicht dieses Parfum! Es t
u
tet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das
Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden
Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall
abebben und erz
u
hlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur
eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber
jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere.
Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und f
u
r sich lieblichen
Blume, ihm so stark zusetze, k
u
nne er sich nur dadurch erkl
u
ren, dass das
Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt
enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal
fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon
gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz bl
u
merant
gef
u
hlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei
ihm gar gewesen, als stoße man ihn zur
u
ck in das entsetzliche stickige
Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich
dagegen emp
u
rt, anders k
u
nne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch
die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft
geschenkt worden sei, st
u
rbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal
dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm
zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber
zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein w
u
rde, wenn es
ihm der Marquis gestatte, zur vollst
u
ndigen Austreibung des Veilchenduftes
ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte,
aerierte Note, die haupts
u
chlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und
Orangenbl
u
tenwasser, Eukalyptus, Fichtennadel
u
l und Zypressen
u
l bestehe.
Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar
Tropfen nur an Hals und Wangen - und er w
u
re ein f
u
r allemal gefeit gegen
eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben
u
bermannt habe...
Was wir hier der Verst
u
ndlichkeit halber in ordentlicher indirekter
Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbst
u
ndiger, von vielen Hustern
und Keuchern und Atemn
u
ten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den
Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der
Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik
u
berzeugte ihn die feine Argumentation seines Sch
u
tzlings, die ganz im Sinne
der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Nat
u
rlich das Veilchenparfum!
Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war
er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine
Ahnung, dass er sich Tag f
u
r Tag durch diesen Duft dem Tode n
u
herbrachte.
Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das
H
u
morrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von
dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme
Mensch, das H
u
uflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht.
Er war ger
u
hrt. Am liebsten w
u
re er zu ihm gegangen, h
u
tte ihn aufgehoben
und an sein aufgekl
u
rtes Herz gedr
u
ckt. Aber er f
u
rchtete, noch immer nach
Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl,
alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu l
u
ften,
seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in
seiner S
u
nfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber
hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt.
Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in
j
u
ngster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen
war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in
der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erkl
u
rte sich
im Hinblick auf die Gesch
u
ftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la
Taillade-Espinasse, dessen Seifen-,
u
l- und Duftstofflieferant er war, zu
dem außergew
u
hnlichen Schritt bereit, sein Atelier f
u
r eine Stunde dem
in der S
u
nfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen
abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkl
u
ren, wollte gar nicht wissen,
wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich
schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine
gute Stunde, w
u
hrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar
Gl
u
ser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein
Veilchenwasser nicht mehr riechen k
u
nne.
Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so
u
ppig ausgestattet
wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Bl
u
ten
u
len,
W
u
ssern und Gew
u
rzen h
u
tte ein durchschnittlicher Parfumeur keine
großen Spr
u
nge machen k
u
nnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem
ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe f
u
r seine Zwecke
durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte
kein Prestigew
u
sserchen zusammenmischen wie damals f
u
r Baldini, so eines,
das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre
machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenbl
u
tend
u
ftchen, wie dem Marquis
versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die g
u
ngigen Essenzen von Neroli,
Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich
herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des
Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorl
u
ufig auch nur ein schlechtes
Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht
besaß. Freilich
den
Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie
es
das
menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das
besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualger
u
chen
kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es
gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples
u
brigens: ein schweißig-fettes, k
u
sigs
u
uerliches, ein im ganzen
reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen
anhaftete und
u
ber welchem erst in feinerer Vereinzelung die W
u
lkchen einer
individuellen Aura schwebten.
Diese Aura aber, die h
u
chst komplizierte, unverwechselbare Chiffre
des
pers
u
nlichen
Geruchs, war f
u
r die meisten Menschen ohnehin nicht
wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie
u
berhaupt
besaßen, und taten
u
berdies alles, um sie unter Kleidern oder unter
modischen Kunstger
u
chen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive
Menschend
u
nstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und f
u
hlten
sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde
von ihnen schon als ihresgleichen angesehen.
Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein
seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch
nicht wie ein Duft, sondern wie
ein Mensch, der duftet.
Wenn man dieses
Parfum in einem dunklen Raum gerochen h
u
tte, so h
u
tte man geglaubt, es stehe
da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch,
es verwendet h
u
tte, so w
u
re dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei
Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstr
u
ses Doppelwesen, wie eine
Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich
verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem
die Wellen zittern.
Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungen
u
gend, wie er selber
wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu t
u
uschen -, suchte sich
Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da
war ein H
u
ufchen Katzendreck hinter der Schwelle der T
u
r, die zum Hof
f
u
hrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes L
u
ffelchen und gab es
zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die
Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes
St
u
ckchen K
u
se, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon
ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und str
u
mte einen beißend
scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des
Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte
es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem H
u
rn und
angesengter Schweineschwarte, fein gebr
u
selt. Dazu gab er ein relativ hohes
Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ
digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Br
u
he roch
verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausd
u
nstung
mit einem F
u
cherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als st
u
nde man
an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la
Lingerie, wo sich die D
u
fte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und
von den
u
berf
u
llten H
u
usern trafen.
u
ber diese grauenvolle Basis, die an und f
u
r sich eher kadaverhaft als
menschen
u
hnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von
u
lig-frischen
D
u
ften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch
ein Bouquet von feinen Bl
u
ten
u
len wie Geranium, Rose, Orangenbl
u
te und
Jasmin zugleich z
u
gelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verd
u
nnung
mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze
Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte
sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das
Ekelhafte war vom Duft der Blumen gesch
u
nt, ja beinahe interessant geworden,
und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das
geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von
Leben von dem Parfum auszugehen.
Grenouille f
u
llte es auf zwei Flakons, die er verst
u
pselte und zu sich
steckte. Dann wusch er die Flaschen, M
u
rser, Trichter und L
u
ffel sorgf
u
ltig
mit Wasser, rieb sie mit Bittermandel
u
l ab, um alle geruchlichen Spuren zu
verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch
ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen
und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von
dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein
klein wenig Zibet und
u
l von Zedernholz. F
u
r sich genommen roch es v
u
llig
anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte
ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gew
u
hnlicher
Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch verm
u
hlte, so
w
u
rde es von dem, das Grenouille ausschließlich f
u
r sich geschaffen
hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein.
Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gef
u
llt hatte, zog er
sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte
er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht,
auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und
verließ die Werkstatt.
Als er die Straße betrat, bekam er pl
u
tzlich Angst, denn er
wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch
verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerw
u
rtig stinke.
Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht
ebenfalls als stinkend empf
u
nden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke
zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es
schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu
erproben.
Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter,
wo die Gerber und die Stoff
u
rber ihre Ateliers besaßen und ihr
stinkendes Gesch
u
ft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an
einem Hauseingang vor
u
berkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen
saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer
großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen.
Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vor
u
bergingen,
keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal
geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es
war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in
der Atmosph
u
re schlug, kein Schatten, sozusagen, den er
u
ber das Gesicht der
andern Menschen h
u
tte werfen k
u
nnen. Nur wenn er direkt mit jemandem
zusammengestoßen war, im Gedr
u
nge oder urpl
u
tzlich an einer
Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung
gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zur
u
ck, starrte
ihn, Grenouille, f
u
r ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es
eigentlich nicht geben d
u
rfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar
da,
auf
irgendeine Weise nicht pr
u
sent war - und suchte dann das Weite und hatte
seiner augenblicks wieder vergessen...
Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, sp
u
rte und sah Grenouille
deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein
heftiges Gef
u
hl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen aus
u
bte.
Als er an einer Frau vor
u
berging, die
u
ber einen Brunnenrand gebeugt stand,
bemerkte er, wie sie f
u
r einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da
sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein
Mann, der mit dem R
u
cken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine
ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus -
nicht
u
ngstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie
seitlich aus den Hauseing
u
ngen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn
stießen, erschraken sie nicht, sondern schl
u
pften wie
selbstverst
u
ndlich an ihm vorbei, als h
u
tten sie eine Vorahnung von seiner
sich n
u
hernden Person gehabt.
Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart
seiner neuen Aura pr
u
ziser einzusch
u
tzen, und wurde selbstsicherer und
kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei,
spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zuf
u
llig den Arm
eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an,
den er
u
berholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann,
der noch gestern von Grenouilles pl
u
tzlicher Erscheinung wie vom Donner
ger
u
hrt gewesen w
u
re, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung
an, l
u
chelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter.
Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom
Saint-Pierre. Die Glocken l
u
uteten. Zu beiden Seiten des Portals dr
u
ngten
sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen.
Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er dr
u
ngte, bohrte
sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten
standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er
ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der
drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit
der Duft ungehindert von seinem K
u
rper abstr
u
men k
u
nne... und seine Freude
war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar
nichts, dass all diese M
u
nner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn
gepresst standen, sich so leicht betr
u
gen ließen und seinen aus
Katzenscheiße, K
u
se und Essig zusammengepantschten Gestank als den
Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut
in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten.
An seinen Knien sp
u
rte er ein Kind, ein kleines M
u
dchen, das zwischen
den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer F
u
rsorge,
und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen k
u
nne. Die Mutter duldete es
nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergn
u
gen.
So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge,
ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedr
u
ckt. Und w
u
hrend die
Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom dr
u
hnenden Glockengel
u
ut und
vom Jubel der Menschen,
u
ber die ein Regen von M
u
nzen herabprasselte, brach
in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein b
u
ses
Triumphgef
u
hl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von
Geilheit, und er hatte M
u
he, es nicht wie Gift und Galle
u
ber all diese
Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien:
dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er
sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie
sich von ihm bel
u
gen und betr
u
gen ließen; weil sie nichts waren, und
er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte
sich Luft und schrie mit den
u
ndern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die
Braut! Es lebe das herrliche Paar!"
Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich
aufzul
u
sen begann, gab er das Kind seiner Mutter zur
u
ck und ging in die
Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des
Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei
R
u
ucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine
erstickende Decke
u
ber die zarteren Ger
u
che der Menschen legte, die eben
noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem
Chor.
Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit
u
ber ihn. Keine
trunkene, wie er sie damals im Sch
u
ße des Berges bei seinen einsamen
Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und n
u
chterne Zufriedenheit,
wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er
f
u
hig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie,
den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut
getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte t
u
uschen lassen. Er
wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft
verbessern konnte. Er w
u
rde einen Duft kreieren k
u
nnen, der nicht nur
menschlich, sondern
u
bermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich
gut und lebenskr
u
ftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn,
Grenouille, den Tr
u
ger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste.
Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen,
nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn,
bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entz
u
cken sollten sie, schreien, weinen
vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter
Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur
ihn,
Grenouille, zu riechen bekamen!
Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen
Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und
u
ber wirkliche
Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen
konnten die Augen zumachen vor der Gr
u
ße, vor dem Schrecklichen, vor
der Sch
u
nheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder bet
u
renden
Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war
ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich
seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging
der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch
u
ber Zuneigung
und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Ger
u
che beherrschte,
der beherrschte die Herzen der Menschen.
Ganz gel
u
st saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre
und l
u
chelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste,
Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen,
und keine verr
u
ckte Grimasse
u
berzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen.
So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum
u
berhaupt
er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch
b
u
se sei. Und er l
u
chelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz
unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der gl
u
cklich ist.
Eine Weile lang blieb er so sitzen, in and
u
chtiger Ruhe, und atmete die
weihrauchsatte Luft in tiefen Z
u
gen ein. Und wieder ging ein heiteres
Schmunzeln
u
ber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie
l
u
cherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich
verstr
u
men ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den
Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verf
u
lscht mit Lindenholz und
Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er
war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betr
u
ger, nicht anders als
Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!
Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entz
u
ckt von dem neuen Parfum.
Es sei, so sagte er, selbst f
u
r ihn als Entdecker des letalen Fluidums,
verbl
u
ffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebens
u
chliches und
fl
u
chtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder
erdentr
u
ckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines
Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer
Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bl
u
hend aus wie nur irgendein
gesunder Mensch seines Alters, ja, man k
u
nne sagen, dass er - mit allen
Einschr
u
nkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen
Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Pers
u
nlichkeit gewonnen habe.
Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel
u
ber vitale Di
u
tetik
seiner demn
u
chst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem
Vorfall Mitteilung machen. Zun
u
chst wolle er sich nun aber selbst mit dem
neuen Duft parfumieren.
Grenouille h
u
ndigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen
Bl
u
tenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich
hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er
jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen,
als w
u
chsen ihm bl
u
tene Fl
u
gel; und wenn er nicht irre, so lasse der
gr
u
ßliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren;
alles in allem f
u
hle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre
verj
u
ngt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein
fluidaler Bruder", hinzuf
u
gend, es handle sich dabei keineswegs um eine
gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu
universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle
Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von
Grenouille l
u
ste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten
angewidert, fast wie von seinesgleichen l
u
ste - , in B
u
lde eine
internationale suprast
u
ndische Loge zu gr
u
nden, deren Ziel es sei, das
fluidum letale vollst
u
ndig zu
u
berwinden, um es in k
u
rzester Zeit durch
reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten
Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich
die Rezeptur f
u
r das Bl
u
tenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen
zu sich und schenkte Grenouille f
u
nfzig Louisdor.
P
u
nktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag pr
u
sentierte der
Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Sch
u
tzling abermals in der Aula der
Universit
u
t. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht
allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche
Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften H
u
hlenmenschen sehen
wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, haupts
u
chlich Vertreter des
>Freundeskreises der botanischen Universit
u
tsg
u
rten< und Mitglieder
des >Vereins zur F
u
rderung der Agrikultur<, all ihre Anh
u
nger
mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem
Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Ged
u
chtnis zu rufen,
ließ Taillade-Espinasse zun
u
chst Zeichnungen kursieren, die den
H
u
hlenmenschen in seiner ganzen H
u
ßlichkeit und Verkommenheit zeigten.
ann ließ er den neuen Grenouille hereinf
u
hren, im sch
u
nen samtblauen
Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die
Art, wie er ging, aufrecht n
u
mlich und mit zierlichen Schritten und
elegantem H
u
ftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm,
sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin l
u
chelnd nickte, ließ
alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen
Universit
u
tsg
u
rten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Ver
u
nderung, zu
u
berw
u
ltigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor
Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt
wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine
fast and
u
chtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum
Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine
sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erl
u
uterte dann, mit
welchen mechanischen und di
u
tetischen Mitteln er es aus dem K
u
rper des
Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte
schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch
u
berw
u
ltigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und
gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das b
u
se Fluidum zu bek
u
mpfen und
sich dem guten vitalen Fluidum zu
u
ffnen. Hierbei breitete er die Arme aus
und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten M
u
nner taten es ihm
gleich, und die Frauen weinten.
Grenouille stand auf dem Podest und h
u
rte nicht zu. Er beobachtete mit
gr
u
ßter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel
realeren: seines eignen. Er hatte sich, den r
u
umlichen Erfordernissen der
Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes
strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, m
u
chtig von ihm ab. Er
sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden
Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die
letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im
Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den ver
u
nderte sie sichtbar. Im Banne
seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die
Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gef
u
hl. Wer ihn zun
u
chst
nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge
an; wer zur
u
ckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch
gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich
jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gel
u
stes Gesicht; und selbst
in den Gesichtern der
u
ngstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten,
die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin
noch mit geh
u
riger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfl
u
ge von
Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des
Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel
aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die
fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das
gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universit
u
tsstadt des
franz
u
sischen S
u
dens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die
gr
u
ßte Stunde seines Lebens.
Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter
die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm
Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon
etwas ahnte.
Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche
Ber
u
hmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach
seinem H
u
hlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer
wieder musste er die Geschichte von den R
u
ubern erz
u
hlen, die ihn
verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der
Leiter. Und jedesmal schm
u
ckte er sie pr
u
chtiger aus und erfand neue Details
hinzu. So bekam er wieder eine gewisse
u
bung im Sprechen - freilich eine
sehr beschr
u
nkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und,
was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der L
u
ge.
Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erz
u
hlen, was er
wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen
zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem k
u
nstlichen Geruch
inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse
Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte.
Sie dr
u
ckte sich sogar k
u
rperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein
Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er
angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht
stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde
in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonl
u
we oder souver
u
ner
Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von
ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als nat
u
rliche Bescheidenheit
oder allenfalls als eine leichte angeborene Sch
u
chternheit gedeutet wurde
und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anr
u
hrenden Eindruck machte
- man hatte damals in mond
u
nen Kreisen ein Faible f
u
rs Nat
u
rliche und f
u
r
eine Art ungehobelten Charmes.
Anfang M
u
rz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags
in aller Fr
u
h, kaum dass die Tore ge
u
ffnet waren, bekleidet mit einem
unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt
erworben hatte, und einem sch
u
bigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte.
Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem
Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen
Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und
Bein, sie h
u
tten zwar alle m
u
glichen Leute die Stadt verlassen gesehen,
nicht aber jenen bekannten H
u
hlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt
aufgefallen w
u
re. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille
habe Montpellier mit seinem Einverst
u
ndnis verlassen, um in
Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim
u
rgerte er sich
allerdings f
u
rchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine
Tournee durch das ganze K
u
nigreich zu unternehmen, um Anh
u
nger f
u
r seine
Fluidaltheorie zu werben.
Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete
sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel
u
ber das fluidum letale Taillade im >Journal des S
u
avans< und sogar im
>Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte
Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 gr
u
ndete er die
erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder
z
u
hlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss
er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt
f
u
r seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen
Unterst
u
tzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen,
welche die Heilung des H
u
hlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den
Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe
unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou
begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und f
u
r den h
u
chsten
Berg der Pyren
u
en galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann
wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei
Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er
verk
u
ndigte, p
u
nktlich am Heiligen Abend als kregler J
u
ngling von zwanzig
Jahren wieder herabzusteigen.
Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen
Siedlung am Fuße des f
u
rchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch
focht nichts an. In der Eisesk
u
lte seine Kleider von sich werfend und laute
Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was
von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel
erhobenen H
u
nden und singend im Schneesturm verschwand.
Am Heiligen Abend warteten die J
u
nger vergebens auf die Wiederkunft des
Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als J
u
ngling.
Auch im Fr
u
hsommer des n
u
chsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die
Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou
erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsst
u
ck, kein
K
u
rperteil, kein Kn
u
chelchen.
Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging
bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen
Vitalfluidum verm
u
hlt, sich in es und es in sich aufgel
u
st und schwebe
fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend
u
ber den Gipfeln der Pyren
u
en, und
wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr
lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19.
Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen
Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch
angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyren
u
en, namentlich
in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im
Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
Dort z
u
nden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der
Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um
ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen
und um das ewige Leben zu erlangen.
W
u
hrend Grenouille f
u
r die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich
sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben
Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die St
u
dte nicht
mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte
Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte
er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt s
u
dwestlich von Aigues-Mortes, wo
er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille
verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff,
das ihn weiter die K
u
ste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sp
u
ter war er
in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu
Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinw
u
rts nach Norden f
u
hrte, die
H
u
gel hinauf.
Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein
mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher
Sch
u
ssel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden H
u
geln und
schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten
Feldern, G
u
rten und Olivenhainen
u
berzogen war. Es lag ein v
u
llig eignes,
sonderbar intimes Klima
u
ber dieser Sch
u
ssel. Obwohl das Meer so nah war,
dass man es von den H
u
gelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts
Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille
Abgeschiedenheit, ganz so, als w
u
re man viele Tagesreisen von der K
u
ste
entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf
denen noch der Schnee lag und noch lange liegen w
u
rde, war hier nichts
Rauhes oder Karges zu sp
u
ren und kein kalter Wind. Der Fr
u
hling war weiter
vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie
eine gl
u
serne Glocke. Aprikosen- und Mandelb
u
ume bl
u
hten, und die warme Luft
durchzog der Duft von Narzissen.
Am anderen Ende der großen Sch
u
ssel, vielleicht zwei Meilen
entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine
Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pomp
u
sen
Eindruck. Da war kein m
u
chtiger Dom, der die H
u
user
u
berragte, bloß
ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend
pr
u
chtiges Geb
u
ude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und
dort quollen die H
u
user
u
ber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten
zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen.
Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden,
als sei er es m
u
de, k
u
nftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand
entgegenzusetzen - aber nicht aus Schw
u
che, sondern aus L
u
ssigkeit oder
sogar aus einem Gef
u
hl von St
u
rke. Er sah aus, als habe er es nicht n
u
tig zu
prunken. Er beherrschte die große duftende Sch
u
ssel zu seinen
F
u
ßen, und das schien ihm zu gen
u
gen.
Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt
Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und
Handelsmetropole f
u
r Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und
u
le. Giuseppe
Baldini hatte ihren Namen immer mit schw
u
rmerischer Verz
u
ckung
ausgesprochen. Ein Rom der D
u
fte sei die Stadt, das gelobte Land der
Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht
zu Recht den Namen Parfumeur.
Grenouille sah mit sehr n
u
chternem Blick auf die Stadt Grasse. Er
suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im
Angesicht des Nestes, das da dr
u
ben an den H
u
ngen klebte. Er war gekommen,
weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu
lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte
sie f
u
r seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche,
betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden
sp
u
ter, gegen Mittag, war er in Grasse.
Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux
Aires. Der Platz war der L
u
nge nach von einem Bach durchschnitten, an dem
die Gerber ihre H
u
ute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen
auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der G
u
ste der
Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch
vertraut, ihm gab er ein Gef
u
hl von Sicherheit. In allen St
u
dten suchte er
immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus
der Sph
u
re des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des
Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
Den ganzen Nachmittag
u
ber durchstreifte er die Stadt. Sie war
unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers,
das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten B
u
chen
und Rinnsalen stadtabw
u
rts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit
Schlamm
u
berschwemmte. Die H
u
user standen in manchen Vierteln so dicht, dass
f
u
r die Durchl
u
sse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und
sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und
selbst auf den Pl
u
tzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die
Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst
die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben
Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend
Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unz
u
hlige kleinere Destillen,
Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben H
u
ndler,
die D
u
fte en gros vertrieben.
Dies waren nun allerdings Kaufleute, die
u
ber wahre
Duftstoffgroßkontore verf
u
gten. Anzusehen war es ihren H
u
usern oftmals
kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen b
u
rgerlich
bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften
Kellern, an F
u
ssern von
u
l, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an
Ballons von Bl
u
tenw
u
ssern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an
S
u
cken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gew
u
rzen... - Grenouille roch
es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern -, das waren Reicht
u
mer,
wie sie F
u
rsten nicht besaßen. Und wenn er sch
u
rfer hinroch, durch die
zur Straße gelegenen prosaischen Gesch
u
fts- und Lagerr
u
ume hindurch,
dann entdeckte er, dass auf der R
u
ckseite dieser kleinkarierten B
u
rgerh
u
user
sich Geb
u
ulichkeiten der luxuri
u
sesten Art befanden. Um kleine, aber
reizende G
u
rten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von
Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-f
u
rmig
nach S
u
den gebaut, die eigentlichen Fl
u
gel der Anwesen aus:
sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgem
u
cher in den
Obergeschossen, pr
u
chtige mit exotischem Holz get
u
felte Salons zu ebener
Erde und Speises
u
le, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen
tats
u
chlich, wie Baldini erz
u
hlt hatte, mit goldenem Besteck von
porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen
bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach
schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen st
u
rker danach als alles, was
Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht
gerochen hatte.
Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er l
u
ngere Zeit stehen. Das
Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die
Stadt in ihrer ganzen L
u
nge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht
außergew
u
hnlich anzusehen, wohl etwas breiter und beh
u
biger an der
Front als die Nachbargeb
u
ude, aber durchaus nicht imposant. Vor der
Toreinfahrt stand ein Wagen mit F
u
ssern, die
u
ber eine Pritsche entladen
wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor,
kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der
Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegen
u
berliegenden Straßenseite
und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht.
Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Ger
u
che, die ihm
von dem Geb
u
ude gegen
u
ber zuflogen. Da waren die Ger
u
che der F
u
sser, Essig
und Wein, dann die hundertf
u
ltigen schweren Ger
u
che des Lagers, dann die
Ger
u
che des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener
Schweiß, und schließlich die Ger
u
che eines Gartens, der auf der
anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren
D
u
fte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in d
u
nnen Streifen
u
ber
den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte
Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron... - aber da schien
noch etwas anderes zu sein, etwas m
u
rderisch Gutes, was in diesem Garten
duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht -
oder doch nur ein einziges Mal - in die Nase bekommen hatte... Er musste
n
u
her an diesen Duft heran.
Er
u
berlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen
eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen
und dem Kontrollieren der F
u
sser besch
u
ftigt, dass er sicher aufgefallen
w
u
re. Er entschloss sich, die Straße zur
u
ckzugehen, um eine Gasse oder
einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses
entlangf
u
hrte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue
Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem
Verlauf der Stadtmauer bergabw
u
rts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst
schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer st
u
rker.
Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte
an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zur
u
cktrat,
konnte er
u
ber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenb
u
ume sehen.
Wieder schloss er die Augen. Die D
u
fte des Gartens fielen
u
ber ihn her,
deutlich und klar konturiert wie die farbigen B
u
nder eines Regenbogens. Und
der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille
wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu
Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zur
u
ck in die Mitte des
K
u
rpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen
tun. Zu pl
u
tzlich war diese Geruchsattacke gekommen. F
u
r einen Augenblick,
f
u
r einen Atemzug lang, f
u
r die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit
verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt
jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort,
n
u
mlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem
Garten her
u
berwehte, war der Duft des rothaarigen M
u
dchens, das er damals
ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb
ihm Tr
u
nen der Gl
u
ckseligkeit in die Augen - und dass es nicht wahr sein
konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.
Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die
Mauer st
u
tzen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich
dort versammelnd und seinen Geist bez
u
hmend, begann er, den fatalen Duft in
k
u
rzeren, weniger riskanten Atemz
u
gen einzuziehen. Und er stellte fest, dass
der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen M
u
dchens zwar extrem
u
hnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von
einem rothaarigen M
u
dchen, daran war kein Zweifel m
u
glich. Grenouille sah
dieses M
u
dchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor
sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte
sich und k
u
hlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man
sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten
Person
u
brigens von v
u
llig unsignifikantem Geruch. Es hatte
blendendweiße Haut. Es hatte gr
u
nliche Augen. Es hatte Sommersprossen
im Gesicht, am Hals und an den Br
u
sten... das heisst - Grenouille stockte
f
u
r einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die
Geruchserinnerung an das M
u
dchen aus der Rue des Marais zur
u
ckzudr
u
ngen -...
das heißt, dieses M
u
dchen hatte noch gar keine Br
u
ste im wahren Sinne
des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ans
u
tze von Br
u
sten. Es hatte unendlich
zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht
erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,... seit
diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende H
u
ubchen von
Br
u
stchen. Mit einem Wort: Das M
u
dchen war noch ein Kind. Aber was f
u
r ein
Kind!
Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass
Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die gr
u
n
aufschießenden Blumen vor ihrer Bl
u
te. Diese aber, diese fast noch
geschlossene Bl
u
te hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von
niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen
hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstr
u
ubend himmlisch, dass, wenn sie
sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben w
u
rde, sie ein Parfum verstr
u
men
w
u
rde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt
besser, dachte Grenouille, als damals das M
u
dchen aus der Rue des Marais -
nicht so kr
u
ftig, nicht so volumin
u
s, aber feiner, facettenreicher und
zugleich nat
u
rlicher. In ein bis zwei Jahren aber w
u
rde dieser Geruch
gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch
Frau, w
u
rde entziehen k
u
nnen. Und die Leute w
u
rden
u
berw
u
ltigt sein,
entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses M
u
dchens, und sie w
u
rden nicht
wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen
gebrauchen k
u
nnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben,
w
u
rden sie sagen, es sei, weil dieses M
u
dchen Sch
u
nheit besitze und Grazie
und Anmut. Sie w
u
rden in ihrer Beschr
u
nktheit seine ebenm
u
ßigen Z
u
ge
r
u
hmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, w
u
rden sie
sagen, seien wie Smaragde und die Z
u
hne wie Perlen und ihre Glieder
elfenbeinglatt - und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie
w
u
rden sie zur Jasmink
u
nigin k
u
ren, und sie w
u
rde gemalt werden von bl
u
den
Portr
u
tisten, ihr Bild w
u
rde begafft werden, man w
u
rde sagen, sie sei die
sch
u
nste Frau Frankreichs. Und J
u
nglinge werden n
u
chtelang zu
Mandolinenkl
u
ngen heulend unter ihrem Fenster sitzen... dicke reiche alte
M
u
nner auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln... und
Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon
tr
u
umen, nur einen Tag lang so verf
u
hrerisch auszusehen wie sie. Und sie
werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in
Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose
u
ußere
Sch
u
nheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er
w
u
rde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.
Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, t
u
ppische
Weise haben wie damals den Duft des M
u
dchens aus der Rue des Marais. Den
hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zerst
u
rt. Nein, den Duft
des M
u
dchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie
eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das
geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es
zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer
seltenen Blume zu rauben.
Er stand auf. And
u
chtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder
eine Schl
u
ferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe,
niemand ihn h
u
re, niemand auf seinen k
u
stlichen Fund aufmerksam werde. So
floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo
sich das M
u
dchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants
wieder Einlass fand. Im Schatten der H
u
user blieb er stehen. Der stinkende
Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn
u
berfallen hatte, zu b
u
ndigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder
vollkommen ruhig geworden. F
u
rs erste, dachte er, w
u
rde er nicht mehr in die
N
u
he des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht n
u
tig. Es erregte ihn
zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie
gedeihen w
u
rde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem
Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit st
u
rzen. Er musste seine
Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen F
u
higkeiten vervollkommnen, um
f
u
r die Zeit der Ernte ger
u
stet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.
Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve,
entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.
Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im
vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte
schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Gesch
u
ft allein
mit Hilfe eines Gesellen f
u
hrte.
Madame Arnulfi, nachdem sie lange
u
ber die schlechten Zeiten und
u
ber
ihre prek
u
re wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erkl
u
rte, dass sie sich
zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten k
u
nne, andrerseits aber
wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie
außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht w
u
rde
beherbergen k
u
nnen, andrerseits aber
u
ber eine kleine Kabane auf ihrem
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine zehn Minuten von hier -
verf
u
ge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not w
u
rde n
u
chtigen
k
u
nnen; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung
f
u
r das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz
außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gew
u
hren - mit einem
Wort: Madame Arnulfi war - was Grenouille freilich schon l
u
ngst gerochen
hatte - eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Gesch
u
ftssinn. Und da
es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche
und den
u
brigen d
u
rftigen Bedingungen zufrieden erkl
u
rte, wurden sie schnell
einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot,
von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu
teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen
nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses
H
u
nen geradezu l
u
cherlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von
Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als
wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen
m
u
glichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und
gab mit einem Nicken sein Einverst
u
ndnis.
Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen H
u
ndedruck, ein
kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schl
u
ssel f
u
r die Kabane, einen
fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und
in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am n
u
chsten Tag trat er seine
Arbeit bei Madame Arnulfi an.
Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf
eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der
großen Sch
u
ssel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit
denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bl
u
ten wurden schon in aller
Fr
u
h geliefert, k
u
rbeweise in das Atelier gesch
u
ttet, zehntausendfach, in
volumin
u
sen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen
verfl
u
ssigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer
cremigen Suppe, in die er, w
u
hrend Grenouille unaufh
u
rlich mit einem
besenlangen Spatel r
u
hren musste, scheffelweise die frischen Bl
u
ten
sch
u
ttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie f
u
r eine Sekunde auf der
Oberfl
u
che und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterr
u
hrte und
das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon
erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch
u
ber sie, dass
ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer
eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertr
u
nkte; denn - Grenouille
gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entz
u
cken - je mehr Bl
u
ten er in
seinem Kessel unterr
u
hrte, desto st
u
rker duftete das Fett. Und zwar waren es
nicht etwa die toten Bl
u
ten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das
Fett selbst, das sich den Duft der Bl
u
ten angeeignet hatte.
Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch
große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu
befreien und f
u
r frische Bl
u
tenbereit zu machen. Dann scheffelten und
r
u
hrten und seihten sie weiter, den ganzen Tag
u
ber ohne Pause, denn das
Gesch
u
ft duldete keine Verz
u
gerung, bis gegen Abend der ganze Bl
u
tenhaufen
durch den Fettkessel gewandert war. Die Abf
u
lle wurden - damit auch nichts
verloren ginge - mit kochendem Wasser
u
berbr
u
ht und in einer Spindelpresse
bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes
u
l abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Bl
u
ten, war
im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich
grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett.
Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte,
fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verfl
u
ssigt und mit neuen
Bl
u
ten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fr
u
h bis sp
u
t. Die Arbeit
war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den H
u
nden und
Schmerzen im R
u
cken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl
dreimal so kr
u
ftig wie er war, l
u
ste ihn kein einziges Mal beim R
u
hren ab,
sondern begn
u
gte sich, die federleichten Bl
u
ten nachzusch
u
tten, auf das
Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken
zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos r
u
hrte er die Bl
u
ten ins
Fett, von morgens bis abends, und sp
u
rte w
u
hrend des R
u
hrens die Anstrengung
kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter
seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bl
u
ten
und der Absorption ihres Duftes.
Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun ges
u
ttigt sei und
keinen weiteren Duft mehr absorbieren k
u
nne. Sie l
u
schten das Feuer, seihten
die schwere Suppe zum letzten Mal ab und f
u
llten sie in Tiegel aus Steingut,
wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte.
Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare
Produkt zu pr
u
fen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualit
u
t
und Quantit
u
t in ihren B
u
chern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel
h
u
chstpers
u
nlich verschlossen, versiegelt und in die k
u
hlen Tiefen ihres
Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren
Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und
Parfumhandelsh
u
usern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den
Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote
machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich - oder verkaufte
nicht. Parfumierte Pomade, k
u
hl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die
Preise jetzt zu w
u
nschen
u
brigließen, wer weiß, vielleicht
kletterten sie im Winter oder n
u
chsten Fr
u
hjahr in die H
u
he. Auch war zu
u
berlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffers
u
cken zu verkaufen, mit andern
kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder
sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte -
riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall
u
ußerst
eintr
u
glich. Diese verschiedenen M
u
glichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam
gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil
ihrer Sch
u
tze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf
eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck
gewonnen, der Pomademarkt sei
u
bers
u
ttigt und werde sich in absehbarer Zeit
nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach
Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu
unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln.
Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in
verschlossenen T
u
pfen aufs Vorsichtigste erw
u
rmt, mit feinstem Weingeist
versetzt und vermittels eines eingebauten R
u
hrwerks, welches Grenouille
bediente, gr
u
ndlich durchgemischt und ausgewaschen. Zur
u
ck in den Keller
verbracht, k
u
hlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom
erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden.
Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensit
u
t,
w
u
hrend die zur
u
ckbleibende Pomade den gr
u
ßten Teil ihres Duftes
verloren hatte. Abermals also war der Bl
u
tenduft auf ein anderes Medium
u
bergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach
gr
u
ndlicher Filtrage durch Gazet
u
cher, in denen auch die kleinsten Kl
u
mpchen
Fett zur
u
ckgehalten wurden, f
u
llte Druot den parfumierten Alkohol in einen
kleinen Alambic und destillierte ihn
u
ber dezentestem Feuer langsam ab. Was
nach der Verfl
u
chtigung des Alkohols in der Blase zur
u
ckblieb, war eine
winzige Menge blass gef
u
rbter Fl
u
ssigkeit, die Grenouille wohlbekannt war,
die er aber in dieser Qualit
u
t und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei
Runel gerochen hatte: Das schiere
u
l der Bl
u
ten, ihr blanker Duft,
hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pf
u
tze Essence Absolue.
Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft
intensiv, scharf und beizend. Und doch gen
u
gte schon ein Tropfen davon,
aufgel
u
st in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes
Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen.
Die Ausbeute war f
u
rchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons f
u
llte
die Fl
u
ssigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von
hunderttausend Bl
u
ten nicht
u
briggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie
waren ein Verm
u
gen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch,
wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach
Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend sch
u
nen Blick
beim Anschauen dieser Fl
u
schchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie
sie nahm und mit f
u
gig geschliffenen Glaspfropfen verst
u
pselte, hielt sie
den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit
auch nach dem Verst
u
pseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise
entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit fl
u
ssigem Wachs und umkapselte
sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschn
u
rte. Dann
stellte sie sie in ein wattegef
u
ttertes K
u
stchen und brachte sie im Keller
hinter Schloss und Riegel.
Im April mazerierten sie Ginster und Orangenbl
u
te, im Mai ein Meer von
Rosen, deren Duft die Stadt f
u
r einen ganzen Monat in einen
cremigs
u
ßen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein
Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft f
u
hrte er all die
untergeordneten T
u
tigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber w
u
hrend er
scheinbar stumpfsinnig r
u
hrte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt
putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von
den wesentlichen Dingen des Gesch
u
fts, nichts von der Metamorphose der
D
u
fte. Genauer als Druot es je vermocht h
u
tte, mit seiner Nase n
u
mlich,
verfolgte und
u
berwachte Grenouille die Wanderung der D
u
fte von den Bl
u
ttern
der Bl
u
ten
u
ber das Fett und den Alkohol bis in die k
u
stlichen kleinen
Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark
erhitzte, er roch, wann die Bl
u
te ersch
u
pft, wann die Suppe mit Duft
ges
u
ttigt war, er roch, was im Innern der Mischgef
u
ße geschah und zu
welchem pr
u
zisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und
gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne
seine unterw
u
rfige Attit
u
de abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei
das Fett jetzt wom
u
glich zu heiß geworden; er glaube fast, man k
u
nne
demn
u
chst abseihen; er habe es irgendwie im Gef
u
hl, als sei der Alkohol im
Alambic jetzt verdunstet... Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft
intelligent, aber auch nicht v
u
llig dumpfk
u
pfig war, bekam mit der Zeit
heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr,
wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade "so glaubte" oder
"irgendwie im Gef
u
hl" hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder
besserwisserisch
u
ußerte, was er glaubte oder im Gef
u
hl hatte, und
weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi -
Druots Autorit
u
t und seine pr
u
ponderante Stellung als des ersten Gesellen
auch nur ironisch in Zweifel gezogen h
u
tte, sah Druot keinen Anlass,
Grenouilles Ratschl
u
gen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit
immer mehr Entscheidungen ganz offen zu
u
berlassen.
Immer h
u
ufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur r
u
hrte,
sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, w
u
hrend Druot auf einen
Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, f
u
r ein Glas Wein, oder
hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich
auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit
verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu
perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit
diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade
ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die
gemeinsam mit Druot erzeugte.
Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der
Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem
Parfum, dass ihre Bl
u
ten nicht nur vor Sonnenaufgang gepfl
u
ckt werden
mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten.
W
u
rme verminderte ihren Duft, das pl
u
tzliche Bad im heißen
Mazerationsfett h
u
tte ihn v
u
llig zerst
u
rt. Diese edelsten aller Bl
u
ten
ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie
ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden
sie auf mit k
u
hlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in
u
lgetr
u
nkte T
u
cher geh
u
llt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst
nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das
benachbarte Fett und
u
l abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und
streute frische Bl
u
ten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal
wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende
u
l
aus den T
u
chern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die
Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die
Qualit
u
t aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste
oder eines Huile Antique de Tubereuse
u
bertraf die jedes anderen Produkts
der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim
Jasmin schien es, als habe sich der s
u
ßhaftende, erotische Duft der
Bl
u
te auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun
v
u
llig naturgetreu zur
u
ck -
cum grano salis
freilich. Denn Grenouilles Nase
erkannte selbstverst
u
ndlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der
Bl
u
te und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der
Eigengeruch des Fetts - es mochte so rein sein, wie es wollte -
u
ber dem
Duftbild des Originals, milderte es, schw
u
chte das Eklatante sanft ab,
machte vielleicht sogar seine Sch
u
nheit f
u
r gew
u
hnliche Menschen
u
berhaupt
erst ertr
u
glich... In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das
raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte D
u
fte einzufangen. Ein besseres
gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht gen
u
gte, Grenouilles Nase
vollkommen zu
u
berzeugen, so wusste er doch, dass sie zur D
u
pierung einer
Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie
beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung
u
berfl
u
gelt und ihm
dies auf die bew
u
hrte, unterw
u
rfig diskrete Weise klargemacht. Druot
u
berließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die
geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren
und ihr Mischverh
u
ltnis zu bestimmen - eine f
u
r Druot immer h
u
chst diffizile
und gef
u
rchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach
Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade
ruinieren. Er
u
berließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im
Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Bl
u
tenwechsels, den S
u
ttigungsgrad der
Pomade zu bestimmen,
u
berließ ihm bald alle prek
u
ren Entscheidungen,
die er, Druot,
u
hnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungef
u
hr nach
angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner
Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte.
"Er hat eine gl
u
ckliche Hand", sagte Druot, "er hat ein gutes Gef
u
hl
f
u
r die Dinge." Und manchmal dachte er auch: "Er ist ganz einfach viel
begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur." Und zugleich
hielt er ihn f
u
r einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte,
nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es
mit seinen bescheideneren F
u
higkeiten demn
u
chst zum Meister bringen w
u
rde.
Und Grenouille best
u
rkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß
d
u
mmlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts
von seiner eigenen Genialit
u
t, sondern als handle er nur nach den
Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts w
u
re. Auf
diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu.
Die Bl
u
tend
u
fte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn
nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen w
u
nschte oder einen
Sack getrockneter Gew
u
rze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel
zu tun. Oliven gab es noch, Woche f
u
r Woche ein paar K
u
rbe voll. Sie
pressten ihnen das Jungfern
u
l ab und gaben den Rest in die
u
lm
u
hle. Und
Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und
rektifizierte.
Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im
Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen
stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden.
Auch Madame kam selten herunter. Sie besch
u
ftigte sich mit ihren
Verm
u
gensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe f
u
r die
Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer
der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging
kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelm
u
ßigen
Gesellentreffen und Umz
u
gen beteiligte er sich gerade so h
u
ufig, dass er
weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel.
Freundschaften oder n
u
here Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber
peinlich darauf, nicht wom
u
glich als arrogant oder außenseiterisch zu
gelten. Er
u
berließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad
und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu
verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben - freilich nie so
u
bertrieben, dass man sich mit Genuss
u
ber ihn lustig machen oder ihn als
Opfer f
u
r irgendeinen der derben Zunftsp
u
ße gebrauchen h
u
tte k
u
nnen.
Es gelang ihm, als vollst
u
ndig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn
in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.
Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegen
u
ber behauptete er, er
wolle ein Rezept f
u
r K
u
lnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber
experimentierte er mit ganz anderen D
u
ften. Sein Parfum, das er in
Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete,
allm
u
hlich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begn
u
gte er sich
nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den
Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte
seinen Ehrgeiz daran, sich einen pers
u
nlichen Duft oder vielmehr eine
Vielzahl pers
u
nlicher D
u
fte zuzulegen.
Zun
u
chst machte er sich einen Unauff
u
lligkeitsgeruch, ein mausgraues
Duftkleid f
u
r alle Tage, bei dem der k
u
sigs
u
uerliche Duft des Menschlichen
zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke
Schicht von leinenen und wollenen Gew
u
ndern, die
u
ber trockne Greisenhaut
gelegt sind, an die Außenwelt verstr
u
mte. So riechend konnte er sich
bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz
einer Person olfaktorisch zu begr
u
nden, und zugleich so diskret, dass es
niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht
vorhanden und dennoch in seiner Pr
u
senz immer aufs Bescheidenste
gerechtfertigt - ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als
auch bei seinen gelegentlichen G
u
ngen durch die Stadt sehr zupass kam.
Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft
als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte
oder f
u
r sich selbst bei einem H
u
ndler etwas Zibet oder ein paar K
u
rner
Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten
Unauff
u
lligkeit entweder v
u
llig
u
bersah und nicht bediente oder zwar sah,
aber falsch bediente oder w
u
hrend des Bedienens wieder vergaß. F
u
r
solche Anl
u
sse hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges
Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm
eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm
eilig und ihn trieben dringende Gesch
u
fte. Auch mit einer Imitation von
Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs
durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl
t
u
uschend
u
hnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum
ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen.
Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft,
der sich bei Frauen mittleren und h
u
heren Alters bew
u
hrte. Er roch nach
d
u
nner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit - auch wenn
er unrasiert, finsterer Miene und bem
u
ntelt auftrat - wie ein armer blasser
Bub in einem abgewetzten J
u
ckchen, dem geholfen werden musste. Die
Marktweiber, wenn sie seiner anr
u
chig wurden, steckten ihm N
u
sse und trockne
Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei
der Frau des Metzgers, einer an und f
u
r sich unerbittlich strengen Vettel,
durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis
mitnehmen, denn sein Unschuldsduft r
u
hrte ihr m
u
tterliches Herz. Aus diesen
Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die
Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein
und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosph
u
re leisen
Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten
M
u
ndern schl
u
gt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche
Druot sich unwillk
u
rlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich
freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen
hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane
getr
u
ufelt, gen
u
gten, jeden m
u
glichen Eindringling, Mensch oder Tier,
fernzuhalten.
Im Schutz dieser verschiedenen Ger
u
che, die er je nach den
u
ußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu
dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen
unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen
Leidenschaft: der subtilen Jagd nach D
u
ften. Und weil er ein großes
Ziel vor der Nase hatte und noch
u
ber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur
mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor
beim Sch
u
rfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der
allm
u
hlichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei
Baldini aufgeh
u
rt hatte, bei der Gewinnung der D
u
fte lebloser Dinge: Stein,
Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft...
Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kl
u
glich
misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette.
Einen messingnen T
u
rknauf, dessen k
u
hl-schimmliger, belegter Duft ihm
gefiel, umkleidete Grenouille f
u
r ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe,
als er den Talg herunterschabte und pr
u
fte, so roch er, in zwar sehr
geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst
nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart,
entfernt, vom Dunst des Weingeists
u
berschattet und auf der Welt wohl nur
von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das
hieß: zumindest im Prinzip verf
u
gbar. H
u
tte er zehntausend Kn
u
ufe und
w
u
rde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er k
u
nnte einen winzigen
Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass
jedermann die Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase h
u
tte.
Das gleiche gelang ihm mit dem por
u
sen Kalkduft eines Steins, den er
auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und
gewann ein kleines B
u
tzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn
unbeschreiblich erg
u
tzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen
m
u
glichen Gegenst
u
nden aus dem Umkreis seiner H
u
tte abgezogenen Ger
u
chen und
produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes
Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon
verschlossen mit sich f
u
hren und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen
lassen konnte.
Es waren virtuose Duftkunstst
u
cke, die er vollbrachte, wundersch
u
ne
kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst w
u
rdigen
oder
u
berhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entz
u
ckt
von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fr
u
her noch
sp
u
ter Momente eines tats
u
chlich unschuldigen Gl
u
cks wie zu jener Zeit, da
er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder
einzelner Gegenst
u
nde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten
u
ber.
Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und
ertr
u
nkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in St
u
lle, um K
u
he,
Ziegen und Ferkel f
u
r ein paar Stunden mit fettbeschmierten T
u
chern zu
umh
u
llen oder in
u
lige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein
Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in
Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zun
u
chst noch nicht recht
befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein
ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die
Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe
schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer n
u
herte. Die K
u
he sch
u
ttelten
stur die fetten T
u
cher von den Eutern. Einige K
u
fer, die er fing,
produzierten, w
u
hrend er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete,
und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch
hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben,
anders als die Bl
u
ten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen
Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich
partout nicht unterr
u
hren lassen, strampelten und k
u
mpften und erzeugten
dadurch unverh
u
ltnism
u
ßig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß,
die das arme Fett durch
u
bers
u
uerung verdarben. So konnte man nat
u
rlich
nicht vern
u
nftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und
zwar so pl
u
tzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder
sich zu widersetzen. Er musste sie t
u
ten.
Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Dr
u
ben vor dem
Schlachthaus lockte er ihn mit einem St
u
ck Fleisch von seiner Mutter weg bis
in die Werkstatt, und w
u
hrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem
Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit,
den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam
so pl
u
tzlich
u
ber den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Gl
u
cks noch um
seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn l
u
ngst im
Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er
nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetr
u
bten Hundeduft verstr
u
mte.
Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfl
u
ckte Bl
u
ten, waren
rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa
zw
u
lf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar
angenehmen, doch verf
u
lschend riechenden Leichendufts aus dem K
u
rper des
Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg
und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgf
u
ltig
auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab
und f
u
llte diesen Rest in ein winziges Glasr
u
hrchen. Das Parfum roch
deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des
Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die
alte H
u
ndin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in
Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre N
u
stern nicht mehr von dem
R
u
hrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich
und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an
dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende
Seele zu rauben.
Dann, sehr allm
u
hlich und mit
u
ußerster Vorsicht, machte er sich
an die Menschen heran. Er pirschte zun
u
chst aus sicherer Distanz mit
weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu
machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben.
Mit seinem leichten Duft der Unauff
u
lligkeit getarnt, mischte er sich
im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die G
u
ste und
heftete winzige Fetzen
u
l- und fettgetr
u
nkten Stoffs unter B
u
nke und Tische
und in verborgene Nischen. Ein paar Tage sp
u
ter sammelte er sie wieder ein
und pr
u
fte. Tats
u
chlich atmeten sie neben allen m
u
glichen K
u
chend
u
nsten,
Tabaksqualm- und Weinger
u
chen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber
sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems
als ein pers
u
nlicher Geruch. Eine
u
hnliche Massenaura, doch reiner und ins
Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo
Grenouille seine Probef
u
hnchen am 24. Dezember unter den B
u
nken aush
u
ngte
und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen
u
ber
ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus
Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften
H
u
nden, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend
chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des
Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den impr
u
gnierten Fetzchen
abgebildet: schauerlich in seiner nebul
u
sen, unkonturierten,
u
belkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich.
Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der
Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken
eines frisch an Schwindsucht verstorbenen S
u
cklergesellen zu entwenden, in
welchem dieser zwei Monate umh
u
llt gelegen war. Das Tuch war so stark vom
Eigentalg des S
u
cklers durchsogen, dass es dessen Ausd
u
nstungen wie eine
Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden
konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der
S
u
ckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte,
wenngleich durch die eigent
u
mliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen
Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich
als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig
Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten k
u
sigen
F
u
ßen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem
Mundgeruch - kein sch
u
ner Mensch, geruchlich, dieser S
u
ckler, nicht wert,
wie jener kleine Hund, l
u
nger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ
ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane
flattern und schnupperte ihn immer wieder an, begl
u
ckt und tiefbefriedigt
vom Gef
u
hl der Macht, die er
u
ber die Aura eines
u
ndern Menschen gewonnen
hatte. Am n
u
chsten Tag sch
u
ttete er ihn weg.
Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen
Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc daf
u
r, dass sie
einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und
u
lmischungen pr
u
parierte L
u
ppchen
auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von
Lammnierenfett und mehrfach gel
u
utertem Schweins- und Kuhtalg im Verh
u
ltnis
zwei zu f
u
nf zu drei unter Hinzuf
u
hrung geringer Mengen von Jungfern
u
l f
u
r
die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war.
Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich
irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bem
u
chtigen und ihn parfumistisch
zu verarbeiten. So etwas w
u
re immer mit Risiken verbunden gewesen und h
u
tte
keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken
beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht n
u
tig, dass er
es sich erneut bewies.
Des Menschen Duft an und f
u
r sich war ihm auch gleichg
u
ltig. Des
Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er
begehrte, war der Duft
gewisser
Menschen: jener
u
ußerst seltenen
Menschen n
u
mlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.
Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique
Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein
großes Essen f
u
r die Gildenmeister, ein bescheideneres f
u
r die
Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze f
u
r ihr Bett, das sie nun
offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank.
Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei,
behielt das ungeteilte Verm
u
gen, die finanzielle Leitung des Gesch
u
fts und
die Schl
u
ssel zum Keller; Druot erf
u
llte t
u
glich seine sexuellen Pflichten
und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und
einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit f
u
r
unver
u
ndert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft.
Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen,
Veilchenbl
u
te und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im M
u
rz - es
mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein - machte
sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am
anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet,
wusste ziemlich genau, was ihn erwartete... und doch, als er sie dann
erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle
an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er sp
u
rte, wie das Blut in
seinen Adern prickelte vor Gl
u
ck: sie war noch da, die unvergleichlich
sch
u
ne Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet
u
berdauert, stand im Saft,
wuchs, dehnte sich, trieb pr
u
chtigste Bl
u
tenst
u
nde! Ihr Duft war, wie er es
erwartet hatte, kr
u
ftiger geworden, ohne an Feinheit einzub
u
ßen. Was
noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertr
u
pfelt hatte, war nun
gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben
schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser
Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus st
u
rker werdender
Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zw
u
lf Monate, dann w
u
rde
diese Quelle
u
berborden, und er k
u
nnte kommen, sie zu fassen und den wilden
Ausstoß ihres Duftes einzufangen.
Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich
der Garten befand. Obwohl das M
u
dchen offenbar nicht im Garten, sondern im
Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie
eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht
berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war
vom Gl
u
cksgef
u
hl des Liebhabers erf
u
llt, der seine Angebetete von fern
belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen
u
bers Jahr.
Wahrhaftig, Grenouille, der solit
u
re Zeck, das Scheusal, der Unmensch
Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren
konnte, stand an jenem M
u
rztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und
war zutiefst begl
u
ckt von seiner Liebe.
Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das M
u
dchen im Haus
dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes,
und ihn nur als den k
u
nftigen eigenen. Er w
u
rde ihn heimholen
u
bers Jahr,
das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen
Gel
u
bnis, oder Verl
u
bnis, diesem sich selbst und seinem k
u
nftigen Duft
gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte
durch die Porte du Cours in die Stadt zur
u
ck.
Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der
Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte
in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so
eng, so traumhaft nah, als bes
u
ße er ihn schon wirklich, seinen Duft,
seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine
berauschte k
u
stliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gef
u
hl mit
in den Schlaf hin
u
bernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen
schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht h
u
tte, um
einzuschlummern, da verließ es ihn, war pl
u
tzlich weg, und anstatt
seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft, den
ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der
Erinnerung, wo alle D
u
fte unverg
u
nglich sind. Der wirkliche verbraucht sich
an die Welt. Er ist fl
u
chtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird
es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich
werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen
m
u
ssen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen
ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich
werde ihn nicht vergessen k
u
nnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also
werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon
jetzt, f
u
r einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen
werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn
u
berhaupt?"
Dieser Gedanke war Grenouille
u
ußerst unangenehm. Es erschreckte
ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er
ihn bes
u
ße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange w
u
rde er
vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn
er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den
letzten Tropfen aus der Flasche sch
u
tteln, den Flakon mit Weingeist sp
u
len,
damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie
sich sein geliebter Duft f
u
r immer und unwiederbringlich verfl
u
chtigte. Es
w
u
rde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein
qualvolles allm
u
hliches Hinausverdunsten seiner selbst in die
gr
u
ßliche Welt.
Er fr
u
stelte. Es
u
berkam ihn das Verlangen, seine Pl
u
ne aufzugeben,
hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen.
u
ber die verschneiten Berge
wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort
in seine alte H
u
hle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht.
Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er
gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen
und sich in einer H
u
hle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er
allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so
herrlich wie der Duft des M
u
dchens hinter der Mauer. Und wenn er auch
wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden
Verlust w
u
rde entsetzlich teuer bezahlen m
u
ssen, so schienen ihm doch Besitz
und
Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn
verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.
Allm
u
hlich wichen die Zweifel und mit ihnen das Fr
u
steln. Er sp
u
rte,
wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er
sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar m
u
chtiger
als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang,
sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die
Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen,
entschied sich f
u
r das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter
sein w
u
rde. Er legte sich aufs Lager zur
u
ck, wohlig ins Stroh, wohlig unter
die Decke, und kam sich sehr heroisch vor.
Grenouille w
u
re aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein
fatalistisch-heroisches Gef
u
hl lange befriedigt h
u
tte. Dazu besaß er
einen zu z
u
hen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und
einen zu raffinierten Geist. Gut - er hatte sich entschlossen, jenen Duft
des M
u
dchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen
Wochen wieder verl
u
re und an dem Verlust st
u
rbe, so sollte auch das gut
sein. Besser aber w
u
re es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu
besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend m
u
glich
hinauszuz
u
gern. Man m
u
sste ihn haltbarer machen. Man m
u
sste seine
Fl
u
chtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben - ein
parfumistisches Problem.
Es gibt D
u
fte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener
Schrank, ein mit Zimt
u
l getr
u
nktes St
u
ck Leder, eine Amberknolle, ein
K
u
stchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere
- Limetten
u
l, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele
Bl
u
tend
u
fte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein
und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen
Umstand, indem er die allzu fl
u
chtigen D
u
fte durch haftende bindet, ihnen
also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang z
u
geln, wobei die
Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene
Geruch seine Freiheit scheinbar beh
u
lt, und sie doch so eng zu schn
u
ren,
dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunstst
u
ck einmal in
perfekter Weise beim Tuberosen
u
l gelungen, dessen ephemeren Duft er mit
winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und
damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas
u
hnliches nicht auch mit dem Duft des M
u
dchens m
u
glich sein? Weshalb sollte
er diesen kostbarsten und fragilsten aller D
u
fte pur verwenden und
verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ
man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er,
Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffr
u
uber wie Druot und wie die
anderen Mazeratoren, Destillierer und Bl
u
tenquetscher? Oder war er nicht
vielmehr der gr
u
ßte Parfumeur der Welt?
Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon fr
u
her
darauf gekommen war: Nat
u
rlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh
verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein
Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich
eingebunden in andere D
u
fte und sie beherrschend,
sein
Duft strahlte. Ein
Parfum w
u
rde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des
M
u
dchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.
Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als
Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosen
u
l
oder Neroli geeignet, das stand fest. F
u
r ein solches Parfum, f
u
r ein
Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.
Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs
zwischen Grasse und dem
u
stlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche
eines f
u
nfzehnj
u
hrigen M
u
dchens. Es war mit einem Kn
u
ppelhieb auf den
Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem
grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte,
indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so
etwas Sch
u
nes noch nie gesehen - wo er doch eigentlich hatte sagen wollen,
er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.
Tats
u
chlich war das M
u
dchen von exquisiter Sch
u
nheit. Es geh
u
rte jenem
schwerbl
u
tigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und
s
u
ß und ungeheuer klebrig; die mit einer z
u
hfl
u
ssigen Geste, einem
Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum
beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der
eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehns
u
chte und
Seelen von M
u
nnern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und
sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins S
u
mige
verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Br
u
ste wie
aus dem Ei gepellt, und ihr fl
u
chiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar
umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar
selbst freilich war weg. Der M
u
rder hatte es ihr abgeschnitten und
mitgenommen, ebenso wie die Kleider.
Man verd
u
chtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen.
Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften
Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Z
u
hnen von Gehenkten
kleine Puppen. F
u
r ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage.
Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das
letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.
In Ermangelung von Zigeunern verd
u
chtigte man daraufhin italienische
Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, f
u
r sie war es zu fr
u
h
im Jahr, sie w
u
rden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie
konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die
Per
u
ckenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten
M
u
dchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann
die angeblich geilen M
u
nche des Benediktinerklosters - die freilich alle
schon weit
u
ber siebzig waren -, dann die Zisterzienser, dann die
Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charit
u
, dann die K
u
hler, dann
die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis
von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete,
wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei
Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich
freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und
Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der
Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.
Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als
Pfl
u
cker zu verdingen. Die Bauern besch
u
ftigten sie zwar, verboten aber,
eingedenk des Mordes, ihren Frauen und T
u
chtern den Umgang mit ihnen. Sicher
war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter f
u
r den geschehenen Mord
tats
u
chlich nicht verantwortlich waren, so h
u
tten sie doch prinzipiell daf
u
r
verantwortlich sein k
u
nnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut
zu sein.
Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde.
Wieder waren die Opfer bildsch
u
ne M
u
dchen, wieder geh
u
rten sie jenem
schwerbl
u
tigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und
geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern
liegen. Wieder fehlte vom T
u
ter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich
wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das
zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer
Italienerinnen waren, T
u
chter eines Genueser Tagl
u
hners.
Nun legte sich die Furcht
u
ber das Land. Die Leute wussten nicht mehr,
auf wen sie ihre ohnm
u
chtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche,
die die Irren oder den obskuren Marquis verd
u
chtigten, aber so recht wollte
niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und
dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also r
u
ckte man n
u
her
zusammen. Die Bauern
u
ffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem
Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die St
u
dter richteten in jedem Viertel
einen n
u
chtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant verst
u
rkte
die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen n
u
tzten nichts. Wenige Tage
nach dem Doppelmord fand man wieder eine M
u
dchenleiche, ebenso zugerichtet
wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische W
u
scherin aus
dem bisch
u
flichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der
Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden
war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten B
u
rgerschaft gedr
u
ngt, weitere
Maßnahmen ergriffen - sch
u
rfste Kontrollen an den Toren, Verst
u
rkung
der Nachtwachen, Ausgangsverbot f
u
r alle weiblichen Personen nach Einbruch
der Dunkelheit -, verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht
die Leiche eines jungen M
u
dchens gefunden wurde. Und immer waren es solche,
die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die
sch
u
nsten und meist jener dunkle, haftende Typus. - Obwohl der M
u
rder bald
auch nicht mehr den in der einheimischen Bev
u
lkerung vorherrschenden
weichen, weißh
u
utigen und etwas beleibteren M
u
dchenschlag verschm
u
hte.
Sogar br
u
nette, sogar dunkelblonde - sofern sie nicht zu mager waren -
fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er sp
u
rte sie
u
berall auf, nicht mehr nur
im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den H
u
usern.
Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im f
u
nften Stock
erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Ger
u
usch
geh
u
rt, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und
verbellten, hatte angeschlagen. Der M
u
rder schien unfassbar, k
u
rperlos, wie
ein Geist zu sein.
Die Menschen emp
u
rten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste
Ger
u
cht f
u
hrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender H
u
ndler, der Liebespulver
und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es
hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes M
u
dchenhaar. Auf das
Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charit
u
wurden Brandanschl
u
ge ver
u
bt.
Der Tuchh
u
ndler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei
dessen n
u
chtlicher Heimkehr, weil er ihn f
u
r den ber
u
chtigten M
u
dchenm
u
rder
hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden T
u
chter zu
entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille .
Der Polizeilieutenant wurde auf Dr
u
ngen des Stadtrats seines Postens
enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Sch
u
nheiten
von einem
u
rztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand
sich, dass sie alle unber
u
hrt geblieben waren.
Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es
zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die M
u
dchen
missbraucht worden seien. Man h
u
tte dann wenigstens ein Motiv des M
u
rders
gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man v
u
llig ratlos. Und wer an
Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es m
u
ge doch wenigstens das eigene
Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.
Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten
Großb
u
rger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgekl
u
rte und
antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein
lassen und aus den Kl
u
stern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken
gemacht h
u
tten - die stolzen, m
u
chtigen Herren des Stadtrats ließen
sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterw
u
rfig
abgefassten Petition zu bitten, er m
u
ge das m
u
dchenmordende Monster, dessen
die weltliche Macht nicht habhaft werden k
u
nne, verfluchen und mit Bann
belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorg
u
nger im Jahre 1708 mit den
entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und
in der Tat wurde Ende September der Grasser M
u
dchenm
u
rder, der bis dahin
nicht weniger als vierundzwanzig der sch
u
nsten Jungfrauen aus allen
Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie
m
u
ndlich von s
u
mtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von
Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof pers
u
nlich in feierlichen Bann und
Fluch getan.
Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde h
u
rten auf, von einem Tag zum
anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen
Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein M
u
dchenm
u
rder umgehe, der
seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die
Haare in B
u
scheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschl
u
chtigen
Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgef
u
hrten Grasser Morden
standen, war doch alle Welt davon
u
berzeugt, es handle sich um ein und
denselben T
u
ter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass
die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten
Grenoble w
u
tete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und
hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1.
Januar 1766 wurden die verst
u
rkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die
n
u
chtliche Ausgangssperre f
u
r Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher
Schnelligkeit kehrte die Normalit
u
t ins
u
ffentliche und private Leben
zur
u
ck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen,
das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal
in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der
bisch
u
fliche Fluch nicht nur den M
u
rder, sondern auch jede Erinnerung an ihn
verbannt. Und den Menschen war es recht so.
Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der
ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn
es d
u
mmerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er
gl
u
cklich - freilich ohne sich den Grund daf
u
r recht eingestehen zu wollen.
Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er
hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte
in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine
vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalit
u
t, gedachte er eine
neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er
seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten,
sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer
eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger
Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen
u
ber eine k
u
nftige Heirat der
Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube w
u
re, wollte er
selbst seine freierlichen F
u
hler in Richtung der hochangesehenen H
u
user
Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel war und auf
Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er
eine Dynastie gr
u
nden und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen
wollte, welches zu h
u
chstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem
Einfluss f
u
hrte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei S
u
hne, deren einer
sein Gesch
u
ft
u
bernahm, w
u
hrend der andere via juristische Laufbahn und das
Parlament in Aix selbst in den Adel aufr
u
ckte. Solche Ambitionen konnte er
jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn
er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen
Nobilit
u
t verband.
Was ihn
u
berhaupt zu derartig hochfliegenden Pl
u
nen berechtigte, war
sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand verm
u
gendste
B
u
rger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum,
wo er Orangen,
u
l, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei
Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß H
u
user in
Aix, H
u
user auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein
st
u
ndiges Kontor in Genua und das gr
u
ßte Handelslager f
u
r Duftstoffe,
Spezereien,
u
le und Leder Frankreichs.
Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie
war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren
und gr
u
nen Augen. Sie hatte ein so entz
u
ckendes Gesicht, dass Besucher jeden
Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von
ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten
sie Eis mit der Zunge, und dabei den f
u
r solch leckende Besch
u
ftigung
typischen Ausdruck von d
u
mmlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis,
wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er f
u
r
unbestimmte Zeit, f
u
r eine Viertelstunde, f
u
r eine halbe Stunde vielleicht,
die Welt und damit seine Gesch
u
fte vergaß - was ihm sonst nicht einmal
im Schlaf passierte -, sich vollkommen aufl
u
ste in des herrlichen M
u
dchens
Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich
getan hatte. Und neuerdings - er nahm es mit Unbehagen wahr -, abends beim
Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie
lag noch schlafend, wie von Gottesh
u
nden hingelegt, und durch den Schleier
ihres Nachtgewands dr
u
ckten sich die Formen ihrer H
u
ften und ihrer Br
u
ste
ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem
Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner
Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die
Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte
sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht
irgendein Mann, vor dem sie so l
u
ge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne
Bedenken an sie, auf sie, in sie legen k
u
nnte mit all seiner Begehrlichkeit.
Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er
diese grauenvolle Lust in sich erw
u
rgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie
mit keuschem v
u
terlichem Kuss zu wecken.
Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale
Anfechtungen noch nicht
u
ber ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter
damals auf ihn ausge
u
bt hatte, war - so wollte ihm wenigstens scheinen -
noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich
bef
u
rchtet, dass Laure Opfer jenes M
u
rders werden k
u
nnte, der, wie man
wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene
jungfr
u
uliche M
u
dchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses
verst
u
rkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen
und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es
widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren
T
u
chtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten
ver
u
chtlich und unw
u
rdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der,
wie er meinte, seinen Mitb
u
rgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und
Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine
Entschl
u
sse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in
Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump
von Verbrecher. Und so war er w
u
hrend der ganzen schrecklichen Zeit einer
der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit
waren und einen k
u
hlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise,
u
nderte
sich nun. W
u
hrend n
u
mlich die Menschen draußen, als h
u
tten sie den
M
u
rder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige
Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst
ein wie ein h
u
ßliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben,
dass es die Angst war, die ihn bewog, l
u
ngst f
u
llige Reisen hinauszuz
u
gern,
ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzuk
u
rzen, damit er nur
rasch wieder heimkehren k
u
nne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit
Unp
u
ßlichkeit und
u
berarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er
ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in
mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon
der Ruhm ihrer Sch
u
nheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht
schon die H
u
lse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht
schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer
S
u
hne...?
Aber dann, eines Tages im M
u
rz, saß Richis im Salon und sah, wie
Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid,
u
ber das ihr
rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so sch
u
n
gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht
nur zwei Herzschl
u
ge l
u
nger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder
auftauchte - und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschl
u
ge
lang gedacht, er habe sie f
u
r immer verloren.
In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an
dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun
hatte, und er st
u
rzte in ihr Zimmer,
u
berzeugt, sie sei tot, l
u
ge gemordet,
gesch
u
ndet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt.
Er ging zur
u
ck in sein Gemach, schweißnass und bebend vor
Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich
gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem
er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich
war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bisch
u
flichen
Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der M
u
rder jetzt in Grenoble
umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt
u
berhaupt verlassen hatte. Nein,
er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann w
u
rde er
wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der
ermordeten M
u
dchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie
er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr
spezielle Weise, von ausgesuchter Sch
u
nheit gewesen. Niemals h
u
tte er
gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Sch
u
nheit gab. Der M
u
rder
hatte ihm die Augen ge
u
ffnet. Der M
u
rder besaß einen exquisiten
Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf
die gleiche ordentliche Weise ausgef
u
hrt waren, auch die Wahl der Opfer
verriet eine beinahe
u
konomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht,
was
der M
u
rder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die
Sch
u
nheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt
haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der M
u
rder, so absurd das
klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgf
u
ltig
sammelnder. Wenn man sich n
u
mlich - so dachte Richis all die Opfer nicht
mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines h
u
heren Prinzips
vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen
als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen d
u
chte, dann m
u
sste das aus
solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Sch
u
nheit
schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, w
u
re nicht mehr von
menschlicher, sondern von g
u
ttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein
aufgekl
u
rt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen
nicht zur
u
ckschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in
optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)
Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der M
u
rder war solch
ein Sammler von Sch
u
nheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und
sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er
war ein Mann von h
u
chstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der
Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den
kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu
finden gab: auf die Sch
u
nheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk
w
u
re nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Geb
u
udes.
Richis, w
u
hrend er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im
Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich dar
u
ber, wie ruhig er geworden
war. Er fr
u
stelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn
seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer
konkreten Gefahr gewichen: Des M
u
rders Sinn und Trachten war ganz offenbar
auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk f
u
r
diesen letzten kr
u
nenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck
die Morde haben sollten und ob sie einen solchen
u
berhaupt besaßen.
Aber das Wesentliche, n
u
mlich des M
u
rders systematische Methode und sein
ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je l
u
nger er dar
u
ber
nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto gr
u
ßer wurde
seine Hochachtung vor dem M
u
rder - eine Hochachtung freilich, die sogleich
wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zur
u
ckstrahlte, denn immerhin
war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand
dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
Wenn er, Richis, selbst ein M
u
rder w
u
re und von des M
u
rders selben
leidenschaftlichen Ideen besessen, h
u
tte er auch nicht anders vorgehen
k
u
nnen, als jener bisher vorgegangen war, und w
u
rde wie dieser alles
daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen,
der einzigartigen, zu kr
u
nen.
Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der
Lage war, sich gedanklich in die Lage des k
u
nftigen M
u
rders seiner Tochter
zu versetzen, machte ihn dem M
u
rder n
u
mlich haushoch
u
berlegen. Denn der
M
u
rder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der
Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen - und sei's nur, weil er gewiss
nicht ahnen konnte, dass Richis sich l
u
ngst in seine, des M
u
rders Lage
versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Gesch
u
ftsleben auch -
mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man
durchschaut hatte, war man
u
berlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr
aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen
Wassern gewaschen war und eine K
u
mpfernatur besaß. Schließlich
waren ihm der gr
u
ßte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und
das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen,
sondern er hatte sie sich erk
u
mpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren
beizeiten erkannt, die Pl
u
ne der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher
ausgestochen hatte. Und seine k
u
nftigen Ziele, die Macht und Nobilit
u
t
seiner Nachkommenschaft, w
u
rde er ebenso erreichen. Und nicht anders w
u
rde
er die Pl
u
ne jenes M
u
rders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz
an Laure - und w
u
re es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im
Geb
u
ude seiner, Richis', eigenen Pl
u
ne bildete. Er liebte sie, gewiss; aber
er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner h
u
chsten
Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er
fest mit Z
u
hnen und mit Klauen.
Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine n
u
chtlichen
u
berlegungen betreffs Kampf mit dem D
u
mon auf die Ebene einer gesch
u
ftlichen
Auseinandersetzung herabzudr
u
cken, sp
u
rte er, wie frischer Mut, ja
u
bermut
ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das
Gef
u
hl von Verzagtheit und gr
u
mlicher Sorge, das ihn wie einen senilen
Tattergreis gequ
u
lt hatte, weggeblasen der Nebel von d
u
steren Ahnungen, in
dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und
f
u
hlte sich jeder Herausforderung gewachsen.
Erleichtert, vergn
u
gt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband
und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und
Proviant zu packen, da er ged
u
chte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner
Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das
u
brige Personal aus den Betten.
Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem
Leben. In der K
u
che flammten die Feuer auf, durch die G
u
nge huschten die
aufgeregten M
u
gde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergew
u
lben
klapperten die Schl
u
ssel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln,
Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den St
u
llen, es
wurde gez
u
umt, gesattelt, gerannt und geladen - man h
u
tte glauben k
u
nnen,
die austrosardischen Horden seien pl
u
ndernd und sengend im Anmarsch wie anno
1746 und der Hausherr r
u
ste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs!
Der Hausherr saß souver
u
n wie ein Marschall von Frankreich am
Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine
Anweisungen an die st
u
ndig hereinst
u
rzenden Domestiken. Nebenher schrieb er
Briefe an den B
u
rgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen
Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an
diverse Gesch
u
ftspartner.
Gegen sechs Uhr fr
u
h hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu
seinen Pl
u
nen notwendigen Verf
u
gungen getroffen. Er steckte zwei kleine
Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldg
u
rtel um und sperrte den
Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran,
er war pr
u
chtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer
Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter,
bescheidener gekleidet, aber so strahlend sch
u
n, dass das Volk auf der
Straße und an den Fenstern nur Augen f
u
r sie hatte, dass and
u
chtige
Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die M
u
nner ihren Hut zogen -
scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der k
u
niglichen
Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei
Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des ber
u
chtigt
schlechten Zustands der Grenobler Route -, und den Abschluss des Zuges
bildeten ein Dutzend mit allen m
u
glichen Waren beladene Maultiere unter
Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours pr
u
sentierten die Wachen das
Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier
vor
u
bergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang,
winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg
bergw
u
rts entfernte.
Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner
Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als h
u
tten sie einem
archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis
nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das m
u
dchenmordende
Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War
es str
u
flicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es
eine Herausforderung oder eine Bes
u
nftigung der G
u
tter? Sie ahnten nur sehr
undeutlich, dass sie das sch
u
ne M
u
dchen mit den roten Haaren soeben zum
letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf v
u
llig
falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog n
u
mlich keineswegs nach
Grenoble. Der pomp
u
se Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb
Meilen nordwestlich von Grasse, in der N
u
he des Dorfes Saint-Vallier,
ließ er anhalten. Er h
u
ndigte seinem Diener Vollmachten und
Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den
Knechten nach Grenoble zu bringen.
Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er
eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des
Tanneron nach S
u
den. Der Weg war
u
ußerst beschwerlich, aber er
gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen
Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die K
u
ste zu erreichen... Am
folgenden Tag - so Richis' Plan - wollte er sich mit Laure nach den
Lerinischen Inseln
u
bersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das
wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem H
u
uflein
greiser, aber noch durchaus wehrf
u
higer M
u
nche bewirtschaftet, mit denen
Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die
gesamte kl
u
sterliche Produktion an Eukalyptuslik
u
r, Pinienkernen und
Zypressen
u
l. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem
Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgef
u
ngnis der Ile
Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine
Tochter f
u
rs erste unterzubringen. Er selbst w
u
rde unverz
u
glich wieder aufs
Festland zur
u
ckkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes
u
stlich
umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin
hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden
Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon
u
ber die Verehelichung ihrer Kinder
Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht
w
u
rde ablehnen k
u
nnen:
u
bernahme von Schulden in H
u
he von 40000 Livre,
Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher H
u
he sowie diversen L
u
ndereien
und einer
u
lm
u
hle bei Maganosc, eine j
u
hrliche Rente von 3000 Livre f
u
r das
junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn
Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen w
u
rde, und dass das Paar
anschließend Wohnung in Vence nahm.
Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis f
u
r die
Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz
unverh
u
ltnism
u
ßig in die H
u
he trieb. Bei l
u
ngerem Zuwarten h
u
tte er
sie billiger bekommen. Gebettelt h
u
tte der Baron darum, die Tochter des
b
u
rgerlichen Großh
u
ndlers durch seinen Sohn standesm
u
ßig erh
u
hen
zu d
u
rfen, denn der Ruhm von Laures Sch
u
nheit w
u
rde ja noch wachsen, ebenso
wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum!
Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte
M
u
rder war es. Ihm galt es das Gesch
u
ft zu versalzen. Eine verheiratete
Frau, defloriert und wom
u
glich schon geschw
u
ngert, passte nicht mehr in
seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein w
u
re blind geworden, Laure
h
u
tte f
u
r den M
u
rder jeden Wert verloren, sein Werk w
u
re gescheitert. Und
diese Niederlage sollte er zu sp
u
ren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in
Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller
u
ffentlichkeit. Und wenn
er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen w
u
rde, so sollte es
ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und
mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase
weggeschnappt wurde.
Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder m
u
ssen wir Richis' Gesp
u
r
bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat h
u
tte die
Heimf
u
hrung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon f
u
r den
Grasser M
u
dchenm
u
rder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war
der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die
rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von
Saint-Honorat
u
bergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das
unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass
man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend
hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich
von Cannes.
Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ,
befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und
mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in
Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor.
Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten K
u
stchen
vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von
vierundzwanzig Jungfrauen - kostbarste Essenzen, die Grenouille im
vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der K
u
rper, Digerieren von
Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die
f
u
nfundzwanzigste, die k
u
stlichste und wichtigste, wollte er sich heute
holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch
von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols f
u
r diesen
letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es
herrschte Neumond.
Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an
der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der
D
u
mmerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz
der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von
Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sp
u
ter
dann, wenn alles schlief, w
u
rde er, vom Kompass seiner Nase durch die
Dunkelheit gef
u
hrt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er w
u
rde ihn
an Ort und Stelle im fettgetr
u
nkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider
w
u
rde er wie gew
u
hnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist
ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen
ließ. F
u
r die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu
Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und
er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen w
u
rde -, dann
war er
u
bermorgen im Besitz s
u
mtlicher Essenzen f
u
r das beste Parfum der
Welt, und er w
u
rde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er l
u
schte das Feuer,
deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzuk
u
hlen. Der
Wind kam von Westen.
Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die
Atmosph
u
re war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem
vieltausendf
u
dig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. W
u
hrend der
letzten Wochen war dieser duftende Faden so kr
u
ftig geworden, dass
Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich
wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes
Schnuppern nicht mehr aufzusp
u
ren. Grenouille war wie gel
u
hmt vor Schreck.
Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein
anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft
an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine
Ersch
u
tterung zu groß, aber zu Tr
u
nen reichte es, die in seinen
Augenwinkeln schwollen und pl
u
tzlich beiderseits der Nase herabst
u
rzten.
Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause
und erz
u
hlte en passant, heute fr
u
h sei der Zweite Konsul mit zw
u
lf
Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die
Tr
u
nen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours.
Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von
den Stadtger
u
chen unber
u
hrten Westwind fand er tats
u
chlich seinen goldenen
Faden wieder, d
u
nn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings
wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße
nach Grenoble f
u
hrte, sondern eher aus Richtung Cabris - wo nicht gar aus
S
u
dwesten.
Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul
genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach
Cabris? Oder die andere, die s
u
dlich nach Auribeau und La Napoule f
u
hrte? -
Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
Grenouille rannte zur
u
ck durch die Stadt zu seiner Kabane, packte
Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus
Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverz
u
glich auf den Weg -
nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase
wies: nach S
u
den.
Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, f
u
hrte an den Ausl
u
ufern des
Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem
zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau
auftauchte, oben an den Bergkuppen h
u
ngend, roch er, dass er die Fl
u
chtenden
fast eingeholt hatte. Wenig sp
u
ter war er auf gleicher H
u
he mit ihnen. Er
roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten
h
u
chstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den W
u
ldern des
Tanneron. Sie hielten nach S
u
den, aufs Meer zu. Genau wie er.
Gegen f
u
nf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in
das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein
Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er k
u
nne im
Stall n
u
chtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte
aus. Er roch, dass die drei Reiter sich n
u
herten. Er brauchte nur noch zu
warten.
Zwei Stunden sp
u
ter - es d
u
mmerte schon stark kamen sie an. Um ihr
Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen
trugen nun dunkle Gew
u
nder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab
sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die
Lerinischen Inseln
u
bersetzen, der Wirt solle f
u
r ein Boot sorgen, das bei
Sonnenaufgang bereitst
u
nde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere
G
u
ste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza,
der n
u
chtige im Stall.
Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall,
um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zun
u
chst konnte
er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine
Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer
alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief
schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis f
u
r einen
Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von
den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schim
u
re.
Jedenfalls stand f
u
r Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu
r
u
hrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu bef
u
rchten war, und er
entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu st
u
ren, und kehrte ins Haus
zur
u
ck.
Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein.
Er hatte sie
u
ber Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgekl
u
rt, und
er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie
einweihen, sagte er, und sie k
u
nne sich darauf verlassen, dass alles, was er
plane und tue, zu ihrem Besten und zuk
u
nftigen Gl
u
ck ausschlagen werde.
Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle
verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um
sich an ihrer Sch
u
nheit zu erg
u
tzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr
Zimmer, das dem seinen gegen
u
berlag, k
u
sste sie zur Nacht und versperrte die
T
u
re von außen. Dann ging er selbst zu Bett.
Er war mit einem Mal sehr m
u
de von den Anstrengungen des Tages und der
vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der
Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne d
u
stere Ahnungen, wie
sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem L
u
schen der Lampe gequ
u
lt und
wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne
Gest
u
hn, ohne krampfhaftes Zucken oder nerv
u
ses Um- und Umw
u
lzen des
K
u
rpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen,
erquickenden Schlaf.
Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall.
Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und f
u
hlte sich
u
ußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als
Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur
schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und f
u
r
sich schon wegen seines Unauff
u
lligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch
augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte
u
brigens er Richis
u
ußerst pr
u
zise wahrgenommen, olfaktorisch n
u
mlich, und Richis'
Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen.
Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von
ihrer Arglosigkeit
u
berzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so,
wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche
Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Gesch
u
ft - eine Anschauung
u
brigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt h
u
tte.
Mit professioneller Bed
u
chtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er
u
ffnete
den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch
u
ber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu
bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf
an, das Fett hier in dickerer, dort in d
u
nnerer Schicht aufzutragen, je
nachdem, an welche Stelle des K
u
rpers die jeweilige Partie des Tuches zu
liegen k
u
me. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und F
u
ße gaben
gr
u
ßere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, R
u
cken und Ellbogen;
Handfl
u
chen gr
u
ßere als Handr
u
cken; Brauen gr
u
ßere als Lider
etc. - und mussten dementsprechend kr
u
ftiger mit Fett versehen werden.
Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden
K
u
rpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der
befriedigendste, denn es handelte sich um eine k
u
nstlerische Technik, die
Sinne, Phantasie und H
u
nde gleichermaßen besch
u
ftigte und obendrein
den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
Als er das ganze T
u
pfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da
und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, f
u
gte an einer anderen
zu, retuschierte,
u
berpr
u
fte noch einmal die modellierte Fettlandschaft -
mit der Nase
u
brigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Gesch
u
ft spielte
sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund f
u
r
Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht
lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig
Brandungsger
u
usch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das
Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Fl
u
chen
aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste
wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen
dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere M
u
glichkeit,
das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es
ohne allzugroße Behinderung
u
ber den Unterarm gelegt tragen konnte,
steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich
hinaus ins Freie.
Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige
Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des
Forts auf der Ile Sainte-Marguerite,
u
ber eine Meile entfernt, ein winziger
heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter
fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
Grenouille ging zur
u
ußeren Tennenluke, an die eine Leiter
gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei
Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den
u
berstand gegen die
rechte Schulter gepresst,
u
ber den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster
stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer
Treppe, begl
u
ckw
u
nschte er sich zu dem Umstand, den Duft des M
u
dchens hier
in Napoule ernten zu d
u
rfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng
bewachtem Haus, w
u
re alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie
sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
Er dr
u
ckte den Fensterfl
u
gel auf, schl
u
pfte in die Kammer und legte das
Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte,
denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel
umrahmt, ins Kissen gedr
u
ckt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu
idealer Weise dem Keulenschlag pr
u
sentierte.
Das Ger
u
usch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er
hasste es allein deshalb, weil es ein Ger
u
usch war, ein Ger
u
usch in seinem
ansonsten lautlosen Gesch
u
ft. Nur mit zusammengebissenen Z
u
hnen konnte er
dieses ekelhafte Ger
u
usch ertragen, und nachdem es vor
u
ber war, stand er
noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule
gekrampft, als f
u
rchte er, das Ger
u
usch k
u
nne zur
u
ckkehren als
widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zur
u
ck, sondern
die Stille kehrte zur
u
ck in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun
nicht einmal mehr der schl
u
rfende Atem des M
u
dchens ging. Und alsbald l
u
ste
sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine
Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute h
u
tte deuten
k
u
nnen), und sein K
u
rper sank geschmeidig in sich zusammen.
Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger
Betriebsamkeit erf
u
llt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch
auseinander, breitete es locker mit der R
u
ckseite
u
ber Tisch und St
u
hle und
achtete darauf, dass die Fettseite unber
u
hrt blieb. Dann schlug er die
Bettdecke zur
u
ck. Der herrliche Duft des M
u
dchens, der pl
u
tzlich warm und
massiv aufquoll, ber
u
hrte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen,
genießen bis zum Rausch, w
u
rde er ihn sp
u
ter, wenn er ihn erst
wirklich besaß. Jetzt ging es darum, m
u
glichst viel davon einzufangen,
m
u
glichst wenig verstr
u
men zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile
geboten.
Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es
ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es
u
ber ihren nackten K
u
rper.
Dann hob er sie hoch, strich ihr das
u
berh
u
ngende Tuch unter, rollte sie ein
wie ein B
u
cker den Strudel, falzte die Enden, umh
u
llte sie von den Zehen bis
an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er
schnitt es dicht
u
ber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu
einem B
u
ndel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes St
u
ck Tuch
u
ber den geschorenen Sch
u
del, strich das
u
berlappende Ende glatt, tupfte es
mit zartem Fingerdruck fest. Er
u
berpr
u
fte das ganze Paket. Kein Schlitz,
kein L
u
chlein, kein aufgekniffenes F
u
ltlein klaffte mehr, an dem der Duft
des M
u
dchens h
u
tte entweichen k
u
nnen. Sie war perfektverpackt. Es blieb
nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen
graute.
Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans
Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte
Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anispl
u
tzchen, die sie als
Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine F
u
ße auf
den Bettrand, in die N
u
he ihrer F
u
ße, deckte sich mit ihrem Kleid zu
und aß die Anispl
u
tzchen. Er war m
u
de. Aber er wollte nicht schlafen,
denn es geh
u
rte sich nicht, dass man w
u
hrend der Arbeit schlief, auch wenn
die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die N
u
chte, die er
in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den
rußgeschw
u
rzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise
spuckende Ger
u
usch, mit dem das Destillat aus dem K
u
hlrohr in die
Florentinerflasche tr
u
pfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer
sehen m
u
ssen, hatte Destillierwasser nachf
u
llen, die Florentinerflasche
wechseln, das ersch
u
pfte Destilliergut ersetzen m
u
ssen. Und dennoch war ihm
immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden
T
u
tigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn.
Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von
allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Pr
u
fen, Wenden und Betun des
duftenden Pakets nur st
u
rend h
u
tte wirken k
u
nnen selbst hier, so schien
Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf h
u
tte den Geist
des Gelingens gef
u
hrdet.
Es fiel ihm im
u
brigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz
seiner M
u
digkeit.
Dieses
Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig
anderen M
u
dchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten
und auch kein sehns
u
chtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes,
sinnvolles, gewissermaßen ein t
u
tiges Warten. Es tat sich etwas
w
u
hrend dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht
selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er
hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm
unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es w
u
rde von Erfolg gekr
u
nt sein...
Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst,
dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gef
u
hlt, so ruhig,
so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst - auch damals nicht in
seinem Berg - wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in
tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die
einzigen Momente, da sich in seinem d
u
steren Hirn fast heitere Gedanken
bildeten.
Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte
nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten w
u
rde, nicht an das
Parfum aus f
u
nfundzwanzig M
u
dchenauren, nicht an k
u
nftige Pl
u
ne, Gl
u
ck und
Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die
Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen
Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig
riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis,
des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres
großen tausendfach schillernden
u
blen Brodems, er gedachte des
rothaarigen M
u
dchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des d
u
nnen
Winds, der W
u
lder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne - er umging
diese Erinnerung keineswegs -, seiner H
u
hle, der menschenleeren Luft. Er
gedachte auch seiner Tr
u
ume. Und er gedachte all dieser Dinge mit
großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zur
u
ckdachte, dass
er ein vom Gl
u
ck besonders beg
u
nstigter Mensch sei und dass sein Schicksal
ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gef
u
hrt habe
- wie w
u
re es sonst m
u
glich gewesen, dass er hierhergefunden h
u
tte, in diese
dunkle Kammer, ans Ziel seiner W
u
nsche? Er war, wenn er sich's recht
u
berlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
R
u
hrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte
er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du
bist!" So ergriffen war er von sich selbst.
Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz
dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erf
u
llte sein Herz.
Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen
Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine
Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und
der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres.
Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts st
u
rte den Frieden.
Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und ber
u
hrte ganz sacht den
Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben
das Tuch, das ihn umh
u
llte, mit der d
u
nnen Schicht Fett darunter, die sich
mit ihrem Duft tr
u
nkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.
Als die V
u
gel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch
der Morgend
u
mmerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug
das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett
sch
u
lte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben
einige Reste h
u
ngen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die
u
brigen
Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er
zuletzt auch noch den K
u
rper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so
gr
u
ndlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Kr
u
meln von der Haut rieb,
und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst
war sie f
u
r ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Bl
u
tenabfall.
Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein
sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte
alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm
klemmte. Er nahm sich nicht die M
u
he, die Leiche auf dem Bett zuzudecken.
Und obwohl die Nachtschw
u
rze sich schon ins Blaugraue der Morgend
u
mmerung
verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er
keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem
Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war f
u
r
ihn als K
u
rper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als k
u
rperloser Duft. Und
diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.
Leise schwang er sich auf die Br
u
stung des Fensters und stieg die
Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel
klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht
u
ber das Land.
Eine halbe Stunde sp
u
ter schlug die Magd in der K
u
che Feuer. Als sie
vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber
noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs
ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden
Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender
Fr
u
hlingstag begann.
Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum
ersten Mal seit Monaten wirklich pr
u
chtig geschlafen und blieb entgegen
seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, r
u
kelte sich und
seufzte vor Vergn
u
gen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der K
u
che
heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit
u
ffnete und
draußen das sch
u
ne Wetter gewahrte und die frische w
u
rzige Morgenluft
einsog und die Brandung des Meeres h
u
rte, da kannte seine gute Laune keine
Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.
W
u
hrend er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als
er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt
u
ber den Gang an
die Kammert
u
re seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz
leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er l
u
chelte. Er
verstand gut, dass sie noch schlief.
Vorsichtig schob er den Schl
u
ssel ins Loch und drehte den Riegel,
leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im
Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachk
u
ssen wollte, noch einmal, zum
letzten Mal, ehe er sie einem
u
ndern Mann geben musste.
Die T
u
re sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins
Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gef
u
llt, alles
strahlte, und er musste vor Schmerz f
u
r einen Moment die Augen
schließen.
Als er sie wieder
u
ffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und
tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den
er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und
dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Ged
u
chtnisuhr. Alles war mit
einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.
Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im
Grasser Land, als h
u
tte es geheißen "Der K
u
nig ist tot!" oder "Es gibt
Krieg!" oder "Die Piraten sind an der K
u
ste gelandet!", und
u
hnlichen,
schlimmeren Schrecken l
u
ste sie aus. Mit einem Mal war die sorgf
u
ltig
vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all
ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Emp
u
rung, der Wut, den
hysterischen Verd
u
chtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts
in den H
u
usern, sperrten ihre T
u
chter ein, verbarrikadierten sich,
misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde
nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein
halbes Jahr zur
u
ckgesetzt.
L
u
hmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die
pl
u
tzliche R
u
ckkunft der l
u
ngst
u
berwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein
Gef
u
hl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch
versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste B
u
rger
der Stadt, der Zweite Konsul, ein m
u
chtiger, besonnener Mann, dem alle
Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht sch
u
tzen konnte! Wenn
des M
u
rders Hand nicht einmal vor der heiligen Sch
u
nheit Laures
zur
u
ckschreckte - denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die
sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es
da noch f
u
r Hoffnung, dem M
u
rder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest,
denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem M
u
rder aber nicht, wie das
Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar
u
berirdische F
u
higkeiten.
Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel
war. Und so wussten sich viele, vor allem die einf
u
ltigeren Gem
u
ter, keinen
anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand
zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum
Heiligen Krispinius, die G
u
rtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum
Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und T
u
chter mit, beteten
gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie
selbst am Tage nicht mehr,
u
berzeugt, im Schutz der verzweifelten
Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig m
u
gliche Sicherheit vor
dem Ungeheuer zu finden, sofern es
u
berhaupt noch Sicherheit gab.
Andere, gewitztere K
u
pfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon
einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten f
u
r viel
Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen
Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um
sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich
Mitglieder des gehobenen B
u
rgertums und des gebildeten Adels, setzten auf
modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre H
u
user,
hypnotisierten ihre T
u
chter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren
Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen
den Geist des M
u
rders telepathisch zu bannen. Die Korporationen
organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zur
u
ck.
Die M
u
nche aus den f
u
nf Kl
u
stern der Stadt richteten einen permanenten
Bittgottesdienst ein, mit Dauerges
u
ngen, so dass bald an dieser, bald an
jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu h
u
ren war, bei Tag und
bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch.
So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Unt
u
tigkeit, beinahe mit
Ungeduld, des n
u
chsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte
niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der
einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betr
u
fe.
Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich
diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten
Mal, seitdem der M
u
dchenm
u
rder aufgetreten war, kam es zu planvoller und
ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse,
Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament
und Marine.
Der Grund f
u
r dieses solidarische Vorgehen der M
u
chtigen war einerseits
die Bef
u
rchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache,
dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine
systematische Verfolgung des M
u
rders
u
berhaupt erst erm
u
glichten. Der M
u
rder
war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen omin
u
sen
Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule
aufgehalten hatte und am n
u
chsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach
u
bereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein
unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit br
u
unlichem Rock und grobleinenem
Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage
blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht h
u
tten
beschreiben k
u
nnen, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er
sich nicht t
u
usche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches,
Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem
verkr
u
ppelten Fuß.
Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags
zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des M
u
rders in
Richtung Marseille auf - eine an der K
u
ste entlang, die andere
u
ber den Weg
im Landesinnern. Die n
u
here Umgebung von Napoule ließ man von
Freiwilligen durchk
u
mmen. Zwei Kommission
u
re des Grasser Landgerichts
reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen
u
ber den Gerbergesellen
anzustellen. In den H
u
fen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle
auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg
gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche
Beschreibung des T
u
ters erschien f
u
r die, die lesen konnten, an allen
Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kircht
u
ren der D
u
rfer.
Dreimal t
u
glich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten
Klumpfuß best
u
rkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem T
u
ter
um den Teufel selbst, und sch
u
rte deshalb eher die Panik in der Bev
u
lkerung,
als dass man verwertbare Hinweise erhielt.
Erst nachdem der Grasser Gerichtspr
u
sident im Auftrag Richis' eine
Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres f
u
r Hinweise zur
Ergreifung des T
u
ters ausgeschrieben hatte, f
u
hrten Denunziationen zur
Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen
einer tats
u
chlich das Ungl
u
ck hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon
trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu
unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der
Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage
machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der
Wache, an der Porte du Cours wie gew
u
hnlich Dienst tuend, von einem
Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche
Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher
Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner
Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er
weder damals noch sp
u
ter irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das
Individuum h
u
tte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr
erinnern k
u
nnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -, wenn er es
nicht gestern zuf
u
llig wieder gesehen h
u
tte, und zwar hier in Grasse, in der
Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi,
bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die
Werkstatt zur
u
ckkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde sp
u
ter wurde
Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich
wegen der Identifizierung der anderen Verd
u
chtigen in Grasse aufhielten,
erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen
u
bernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser m
u
sse der gesuchte
M
u
rder sein.
Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt,
lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der
Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider
und Haare der anderen vierundzwanzig M
u
dchen zum Vorschein. Die Holzkeule
fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene
Reisesack. Die Indizien waren
u
berw
u
ltigend. Man ließ die
Kirchenglocken l
u
uten. Der Gerichtspr
u
sident gab durch Ausruf und Anschlag
bekannt, dass der ber
u
chtigte M
u
dchenm
u
rder, nach dem man fast ein Jahr lang
gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.
Zun
u
chst glaubten
die
Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie
f
u
r eine Finte, mit der die Beh
u
rden ihre eigene Unf
u
higkeit kaschieren und
die gef
u
hrlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut
erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der M
u
rder sei
nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen
der Menschen gefressen.
Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Pr
u
vot
u
die
Beweisst
u
cke
u
ffentlich ausgestellt wurden - es war ein schauerliches Bild,
die f
u
nfundzwanzig Gew
u
nder mit den f
u
nfundzwanzig Haarb
u
scheln, wie
Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der
Kathedrale gegen
u
ber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die
u
ffentliche
Meinung.
Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie
vor
u
ber. Angeh
u
rige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen
schreiend zusammen. Die
u
brige Menge, teils aus Sensationslust, teils um
v
u
llig
u
berzeugt zu sein, begehrte den M
u
rder zu sehen. Die Rufe nach ihm
wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so
bedrohlich, dass der Pr
u
sident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle
heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der
Pr
u
vot
u
zu pr
u
sentieren.
Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebr
u
ll. Es war mit
einem Mal so vollst
u
ndig still wie an einem heißen Sommertag zur
Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den
Schatten der H
u
user verkriecht. Kein Tritt, kein R
u
uspern, kein Atmen war
mehr zu h
u
ren. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang.
Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort
oben am Fenster, dieses W
u
rstchen, dieses armselige H
u
uflein, dieses Nichts,
u
ber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem M
u
rder einfach
nicht gleich. Niemand h
u
tte zwar sagen k
u
nnen,
wie
er sich den M
u
rder,
diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so
nicht! Und dennoch - obwohl der M
u
rder den Vorstellungen der Leute so gar
nicht entsprach und seine Pr
u
sentation daher, wie man w
u
rde meinen k
u
nnen,
wenig
u
berzeugend h
u
tte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der
Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben
nur er und kein anderer als M
u
rder pr
u
sentiert wurde, eine
u
berzeugende
Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten
im selben Moment, dass es wahr sein m
u
sse.
Freilich, erst als die Wachen das M
u
nnlein wieder zur
u
ck ins Dunkel des
Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenw
u
rtig und
sichtbar, sondern nur noch, wenn auch f
u
r k
u
rzeste Zeit, als Erinnerung,
fast m
u
chte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als
Begriff eines abscheulichen M
u
rders - da erst wich die Verbl
u
ffung der Menge
und schaffte Raum f
u
r eine angemessene Reaktion: Die M
u
nder klappten zu, die
tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen
donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn haben!" Und sie schickten
sich an, die Pr
u
vot
u
zu st
u
rmen, um ihn mit eigenen H
u
nden zu erw
u
rgen, zu
zerreißen und zu zerst
u
ckeln. Die Wachen hatten alle M
u
he, das Tor zu
verrammeln und den Mob zur
u
ckzudr
u
ngen. Grenouille wurde schleunigst in sein
Verlies gebracht. Der Pr
u
sident trat ans Fenster und versprach ein schnelles
und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe
sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt
hatte.
In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille
u
ußerst z
u
gig
vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdr
u
ckend waren, sondern der
Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last
gelegten Morde gestand.
Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende
Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die M
u
dchen gebraucht
und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das
u
berhaupt
bedeuten sollte, "er habe sie gebraucht" - dazu schwieg er. Man
u
berantwortete ihn daraufhin der Folter, h
u
ngte ihn stundenlang an den
F
u
ßen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte
Fußzwingen - ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen
k
u
rperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte,
wenn er abermals befragt wurde, nichts als: "Ich habe sie gebraucht. " Die
Richter hielten ihn f
u
r geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und
beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
Die einzige Verz
u
gerung, die sich noch ergab, war ein juristisches
Gepl
u
nkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule
gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich
bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht
mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den T
u
ter gefasst hatten, in ihrem
Zust
u
ndigkeitsbereich war die
u
berwiegende Anzahl der Morde begangen worden,
und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den M
u
rder einem anderen
Gericht
u
berließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
Am 15. April 1766 wurde das Urteil gef
u
llt und dem Angeklagten in
seiner Zelle verlesen: "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille", so
hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die
Tore der Stadt gef
u
hrt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz
gebunden werden, bei lebendigem Leib zw
u
lf Schl
u
ge mit einer eisernen Stange
erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, H
u
ften und Schultern
zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis
zu seinem Tode." Die
u
bliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem
Zerschmettern mittels eines Fadens zu erw
u
rgen, wurde dem Scharfrichter
ausdr
u
cklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich
u
ber Tage hinziehen
sollte. Die Leiche sei n
u
chtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort
nicht zu kennzeichnen.
Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener
fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte Grenouille; er habe
alles, was er brauche.
Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber
schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der
Verurteilte habe ihn bei der Erw
u
hnung des Namens Gottes so absolut
verst
u
ndnislos angeschaut, als h
u
re er diesen Namen soeben zum ersten Mal,
sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu
versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.
In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den ber
u
hmten
M
u
rder aus der N
u
he zu sehen. Die W
u
rter ließen sie durch die Klappe
an der Zellent
u
re einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein
Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc
bezahlen. Das Motiv war aber eher entt
u
uschend. Der Gefangene, an Fuß-
und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und
schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf
Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt
verwehrt, und die W
u
rter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich
u
ber dies Verbot hinwegzusetzen. Man f
u
rchtete, der Gefangene k
u
nne von
einem Angeh
u
rigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen
Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es h
u
tte vergiftet sein
k
u
nnen. W
u
hrend der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus
der Gesindek
u
che des bisch
u
flichen Palastes, welches der
Gef
u
ngnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er
freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten,
und wenn der W
u
rter an die T
u
rklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus
der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen
sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart m
u
de, dass er
nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben
wollte.
Unterdessen wurde der Cours f
u
r die Hinrichtung vorbereitet.
Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei
Meter hoch, mit Gel
u
nder und einer soliden Treppe - ein so pr
u
chtiges hatte
man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztrib
u
ne f
u
r die Honoratioren
und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten
werden sollte. Die Fensterpl
u
tze in den H
u
usern links und rechts der Porte
du Cours und im Geb
u
ude der Wache waren l
u
ngst zu exorbitanten Preisen
vermietet. Sogar in der etwas seitw
u
rts gelegenen Charit
u
hatte der Gehilfe
des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn
an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverk
u
ufer mischten kannenweise
Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gef
u
ngnis
genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze
des M
u
rders in vielen hundert Exemplaren, fliegende H
u
ndler str
u
mten zu
Dutzenden in die Stadt, die B
u
cker buken Gedenkpl
u
tzchen.
Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen
Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere
vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an
Tierkadavern seine Hiebe zu
u
ben. Zw
u
lf Schl
u
ge durfte er nur f
u
hren, und
mit diesen mussten die zw
u
lf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass
wertvolle Teile des K
u
rpers, wie etwa Brust oder Kopf, besch
u
digt w
u
rden -
ein diffiziles Gesch
u
ft, das gr
u
ßtes Fingerspitzengef
u
hl erforderte.
Die B
u
rger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag
vor. Dass nicht gearbeitet werden w
u
rde, verstand sich von selbst. Die
Frauen b
u
gelten ihr Feiertagshabit, die M
u
nner staubten ihre R
u
cke aus und
ließen sich die Stiefel gl
u
nzend putzen. Wer eine Milit
u
rcharge oder
ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer
Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle
Tracht an, mit Orden, Sch
u
rpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter
Per
u
cke. Die Gl
u
ubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu
versammeln, die Satansj
u
nger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die
gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris',
Villeneuves und Fontmichels. In den K
u
chen wurde schon gebacken und
gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in
der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.
Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede
Zur
u
stung f
u
r den "Tag der Befreiung", als welchen das Volk den
Hinrichtungstag des M
u
rders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel.
Die pl
u
tzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel
gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen,
alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der
Pr
u
sentation des T
u
ters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale
beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerw
u
rtigen Defilee der
Sensationsl
u
sternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der
Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause
bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man m
u
ge ihm
die Dinge als Reliquien
u
berlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures
Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett,
breitete die roten Haare
u
bers Kissen und setzte sich davor und
verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese
sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule vers
u
umt hatte.
Er war so erf
u
llt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er
nicht weinen konnte.
Auch vor dem M
u
rder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als
Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet w
u
rde. Erst bei der
Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zw
u
lf
Schl
u
ge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er
ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren
lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen h
u
tte, nach ein paar Stunden, dann
wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutger
u
st und sich neben ihn setzen und
Wache halten, n
u
chtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in
die Augen schauen, dem M
u
rder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die
Augen tr
u
ufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf
hineinsch
u
tten wie eine brennende S
u
ure, so lange, bis das Ding verreckt
war...
Danach? Was er danach tun w
u
rde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder
sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn
zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm v
u
llig
gleichg
u
ltig. Dar
u
ber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als d
u
chte er
dar
u
ber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts nat
u
rlich.
Nichts, was er jetzt schon wissen k
u
nnte.
Die Hinrichtung war auf f
u
nf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen
kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Pl
u
tze. Sie brachten
St
u
hle und Trittb
u
nkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder.
Als gegen Mittag die Landbev
u
lkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen
herbeistr
u
mte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuank
u
mmlinge
auf den terrassenf
u
rmig ansteigenden G
u
rten und Feldern jenseits des Platzes
und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die H
u
ndler machten
bereits gute Gesch
u
fte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie
bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen
zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasmink
u
nigin, mehr als zur
gr
u
ßten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die
H
u
nge hinauf standen sie. Sie hingen in den B
u
umen, sie hockten auf den
Mauern und D
u
chern, sie dr
u
ngten sich zu zehnt, zu zw
u
lft in den
Fenster
u
ffnungen. Nur im Zentrum des Cours, gesch
u
tzt vom Barrikadenzaun,
wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier
Platz f
u
r die Trib
u
ne und f
u
r das Schafott, das sich pl
u
tzlich ganz klein
ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die B
u
hne eines Puppentheaters. Und
eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die
Rue Droite hinein.
Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall
rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gef
u
gte Andreaskreuz zum
Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitsh
u
he, indem sie es mit
vier schweren Tischlerb
u
cken unterst
u
tzten. Ein Tischlergeselle nagelte es
fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der
Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat,
das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von
jener Seite einen imaginierten Schlag f
u
hrte, brach regelrechter Jubel aus.
Um vier begann sich die Trib
u
ne zu f
u
llen. Es gab viel feine Leute zu
bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, sch
u
ne Damen,
große H
u
te, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land
war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angef
u
hrt
von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Str
u
mpfe,
schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung
des Gerichtspr
u
sidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl,
in leuchtend violettem Ornat und gr
u
nem H
u
tchen. Wer noch bedeckt war, nahm
sp
u
testens jetzt die M
u
tze ab. Es wurde feierlich.
Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten
Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles
wartete. Papon und seine Knechte standen auf der B
u
hne des Schafotts wie
angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb
u
ber dem Esterei. Aus dem
Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenbl
u
ten
herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
Endlich, als man schon meinte, die Spannung k
u
nne nicht l
u
nger
andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei
oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, h
u
rte man in der Stille
Pferdegetrappel und das Knirschen von R
u
dern.
Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweisp
u
nniger Wagen
gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und
erschien, nun f
u
r jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum
Richtplatz f
u
hrte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorf
u
hrung
bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu
k
u
nnen glaubte.
u
blich war sie durchaus nicht. Das Gef
u
ngnis lag kaum f
u
nf
Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze
Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bew
u
ltigte, so
h
u
tte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen
Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und
Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil.
Man war zufrieden, dass
u
berhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der
Kutsche f
u
r einen gelungenen Einfall,
u
hnlich wie im Theater, wo man es
sch
u
tzt, wenn ein bekanntes St
u
ck auf
u
berraschend neue Weise pr
u
sentiert
wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so
außergew
u
hnlich abscheulichen Verbrecher geb
u
hrte eine
außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordin
u
ren
Straßenr
u
uber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran
w
u
re nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das
Andreaskreuz zu f
u
hren - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Trib
u
ne. Die Lakaien sprangen
ab,
u
ffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der
Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich
Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße
Seidenstr
u
mpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand
f
u
hrte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas
u
hnliches wie ein Wunder,
n
u
mlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerh
u
rtes und Unglaubliches,
dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben w
u
rden, wenn
sie
u
berhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen w
u
ren, was nicht der
Fall war, da sie sich sp
u
ter allesamt sch
u
mten,
u
berhaupt daran beteiligt
gewesen zu sein.
Es war n
u
mlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf
den umliegenden H
u
ngen sich von einem Moment zum anderen von dem
unersch
u
tterlichen Glauben durchtr
u
nkt f
u
hlten, der kleine Mann im blauen
Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, k
u
nne
unm
u
glich ein M
u
rder
sein. Nicht dass sie an seiner Identit
u
t zweifelten! Da stand derselbe
Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Pr
u
vot
u
gesehen hatten und den sie, w
u
ren sie damals seiner habhaft geworden, in
w
u
tendem Hass gelyncht h
u
tten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund
erdr
u
ckender Beweise und eigenen Gest
u
ndnisses rechtskr
u
ftig verurteilt
worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch
vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch -
er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein M
u
rder sein.
Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das
wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverk
u
ufer, von
der Marquise bis zur kleinen W
u
scherin, vom Pr
u
sidenten des Gerichts bis zum
Gassenjungen.
Auch Papon wusste es. Und seine F
u
uste, die den Eisenstab umklammert
hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken
Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er w
u
rde
diesen Stab nicht heben k
u
nnen, niemals im Leben w
u
rde er die Kraft
aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er
f
u
rchtete den Moment, da er heraufgef
u
hrt w
u
rde, er schlotterte, er musste
sich auf seinen m
u
rderischen Stab st
u
tzen, um nicht vor Schw
u
che in die Knie
zu sinken, der große, starke Papon!
Nicht anders erging es den zehntausend M
u
nnern und Frauen und Kindern
und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine M
u
dchen,
die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es
u
berkam sie ein m
u
chtiges
Gef
u
hl von Zuneigung, von Z
u
rtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit,
ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen M
u
rdermann, und sie konnten,
sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich
nicht wehren kann, wie ein lange zur
u
ckgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch
aufsteigt und alles Widerst
u
ndliche wunderbar zersetzt, alles verfl
u
ssigt
und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und
Seele aufgel
u
st, nur noch von amorpher Fl
u
ssigkeit, und einzig ihr Herz
sp
u
rten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es,
eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf
Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.
Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am ge
u
ffneten
Schlag der Kutsche und r
u
hrte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die
Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener v
u
llig
prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah
u
blich
ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte
weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis
ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der
Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige M
u
nner, deren
Aufgabe es gewesen w
u
re, den Verurteilten jetzt aufs Blutger
u
st zu f
u
hren
und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr
zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre H
u
te ab, setzten sie wieder
auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, l
u
sten sich,
fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die H
u
nde,
zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.
Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer
Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang
seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick
Grenouilles die F
u
uste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne;
und andere, die vor sehns
u
chtigem Verlangen nach dem herrlichen J
u
ngling -
denn so erschien er ihnen - sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da
waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich
wieder niederließen und wieder aufsprangen, m
u
chtig schnaufend und die
F
u
uste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie
schon zogen, den Stahl wieder zur
u
ckstießen, dass es in den Scheiden
nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel
richteten und ihre H
u
nde zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der
Bischof, der, als sei ihm
u
bel, mit dem Oberk
u
rper vorn
u
berklappte und die
Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das gr
u
ne H
u
tchen vom Kopfe kollerte;
und dabei war ihm gar nicht
u
bel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in
seinem Leben in religi
u
sem Entz
u
cken, denn ein Wunder war geschehen vor
aller Augen, der Herrgott h
u
chstpers
u
nlich war dem Henker in den Arm
gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein M
u
rder
schien - o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß
war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen
Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung
des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingl
u
ubigkeit! Und nun tat
der Herr ein Wunder! O welch herrliche Dem
u
tigung, welch s
u
ße
Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gez
u
chtigt zu werden.
Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser
dem unheimlichen Gef
u
hlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgel
u
st
hatte. Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgef
u
hl und R
u
hrung versp
u
rt
hatte, der war nun von nackter Begehrlichkeit erf
u
llt, wer zun
u
chst
bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann
im blauen Rock f
u
r das sch
u
nste, attraktivste und vollkommenste Wesen, das
sie sich denken konnten: Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person,
den Satansgl
u
ubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgekl
u
rten
als das H
u
chste Wesen, den jungen M
u
dchen als ein M
u
rchenprinz, den M
u
nnern
als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle f
u
hlten sie sich von ihm an
ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen
Zentrum getroffen. Es war, als besitze der Mann zehntausend unsichtbare
H
u
nde und als habe er jedem der zehntausend Menschen, die ihn umgaben, die
Hand aufs Geschlecht gelegt und liebkose es auf just jene Weise, die jeder
einzelne, ob Mann oder Frau, in seinen geheimsten Phantasien am st
u
rksten
begehrte.
Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der
verabscheuungsw
u
rdigsten Verbrechers seiner Zeit zum gr
u
ßten Bacchanal
ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen
hatte: Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entbl
u
ßten unter
hysterischen Schreien ihre Br
u
ste, warfen sich mit hochgezogenen R
u
cken auf
die Erde. M
u
nner stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem
aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von
unsichtbaren Fr
u
sten steifgefrorenen Glieder aus der Hose, fielen
u
chzend
irgendwohin, kopulierten in unm
u
glichster Stellung und Paarung, Greis mit
Jungfrau, Tagl
u
hner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit
Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom
s
u
ßen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und
Gest
u
hn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch.
Grenouille stand und l
u
chelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die
ihn sahen, als l
u
chle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten,
bezauberndsten und zugleich verf
u
hrerischsten L
u
cheln der Welt. Aber es war
in Wirklichkeit kein L
u
cheln, sondern ein h
u
ßliches, zynisches
Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine
ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren ohne
Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung,
aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme menschliche Seele einzig aus
Widerborstigkeit und der Kraft des Ekels, klein, gebuckelt, hinkend,
h
u
ßlich, gemieden, ein Scheusal innen wie außen - er hatte es
erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt!
Geliebt! Verehrt! Verg
u
ttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den
g
u
ttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege
gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er
sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich
recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch
gr
u
ßer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender
und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er
verdankte sie niemandem - keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten
einem gn
u
digen Gott - als einzig
sich selbst.
Er war in der Tat sein eigener
Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in
den Kirchen hauste. Vor ihm lag ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und
winselte vor Vergn
u
gen. Die Reichen und M
u
chtigen, die stolzen Herren und
Damen erstarben in Bewunderung, indes das Volk im weiten Rund, darunter
V
u
ter, M
u
tter, Br
u
der, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem
Namen Orgien feierten. Ein Wink von ihm, und alle w
u
rden ihrem Gott
abschw
u
ren und ihn, den Großen Grenouille anbeten.
Ja, er
war
der Große Grenouille! Jetzt trat's zutage. Er war's,
wie einst in seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit.
Er erlebte in diesem Augenblick den gr
u
ßten Triumph seines Lebens.
Und er wurde ihm f
u
rchterlich. Er wurde ihm f
u
rchterlich, denn er
konnte keine Sekunde davon genießen. In dem Moment, da er aus der
Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das
vor den Menschen beliebt macht, mit dem Parfum, an dem er zwei Jahre lang
gearbeitet hatte, dem Parfum, das zu besitzen er sein Leben lang ged
u
rstet
hatte... in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte
und wie mit Windeseile sich verbreitend es die Menschen um ihn her
gefangennahm, - in diesem Moment stieg der ganze Ekel vor den Menschen
wieder in ihm auf und verg
u
llte ihm seinen Triumph so gr
u
ndlich, dass er
nicht nur keine Freude, sondern nicht einmal das geringste Gef
u
hl von
Genugtuung versp
u
rte. Was er sich immer ersehnt hatte, dass n
u
mlich die
u
ndern Menschen ihn liebten, wurde ihm im Augenblick seines Erfolges
unertr
u
glich, denn er selbst liebte sie nicht, er hasste sie. Und pl
u
tzlich
wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung
f
u
nde, im Hassen und Gehasstwerden.
Aber der Hass, den er f
u
r die Menschen empfand, blieb von den Menschen
ohne Echo. Je mehr er sie in diesem Augenblick hasste, desto mehr
verg
u
tterten sie ihn, denn sie nahmen von ihm nichts wahr als seine
angemaßte Aura, seine Duftmaske, sein geraubtes Parfum, und dies in
der Tat war zum Verg
u
ttern gut.
Er h
u
tte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die
stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land
seiner rabenschwarzen Seele die fremden Ger
u
che vertilgt hatte. Und er
w
u
nschte sich, dass sie merkten, wie sehr er sie hasste, und dass sie ihn
darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gef
u
hls willen
widerhassten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja urspr
u
nglich
vorgehabt hatten. Er wollte sich
ein
Mal im Leben ent
u
ußern. Er wollte
ein Mal im Leben sein wie andere Menschen auch und sich seines Innern
ent
u
ußern: wie sie ihrer Liebe und ihrer dummen Verehrung, so er
seines Hasses. Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren
Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine
Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gef
u
hl, den Hass.
Aber daraus wurde nichts. Daraus konnte nichts werden. Und heute schon
gar nicht. Denn er war ja maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er
trug unter dieser Maske kein Gesicht, sondern nichts als seine totale
Geruchlosigkeit. Da wurde ihm pl
u
tzlich
u
bel, denn er f
u
hlte, dass die Nebel
wieder stiegen.
Wie damals in der H
u
hle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner
Phantasie stiegen mit einem Mal die Nebel, die entsetzlichen Nebel seines
eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie
damals wurde ihm unendlich bang und angst, und er glaubte, ersticken zu
m
u
ssen. Anders als damals aber war dies kein Traum und kein Schlaf, sondern
die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in einer
H
u
hle, sondern stand auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen.
Und anders als damals half hier kein Schrei, der ihn erwachen ließe
und befreite, und half keine Flucht zur
u
ck in die gute, warme, rettende
Welt. Denn dies, hier und jetzt,
war
die Welt, und dies, hier und jetzt, war
sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt.
Die f
u
rchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner
Seele, indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verz
u
ckungen
u
chzte. Ein Mann kam auf ihn zugelaufen. Von der vordersten Reihe der
Honoratiorentrib
u
ne war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer
Hut vom Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem schwarzem Rock
u
ber den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein r
u
chender Engel. Es ar Richis.
Er wird mich t
u
ten, dachte Grenouille. Er ist der einzige, der sich
nicht von meiner Maske t
u
uschen l
u
sst. Er kann sich nicht t
u
uschen lassen.
Der Duft seiner Tochter klebt an mir, so verr
u
terisch deutlich wie Blut. Er
muss mich erkennen und t
u
ten. Er muss es tun.
Und er breitete seine Arme aus, um den heranst
u
rzenden Engel zu
empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich
prickelnden Schlag gegen die Brust zu sp
u
ren und die Klinge, die durch alle
Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz
hinein - endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er
selbst! Er f
u
hlte sich fast schon erl
u
st.
Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein r
u
chender
Engel, sondern ein ersch
u
tterter, kl
u
glich schluchzender Richis, und umfing
ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als f
u
nde er sonst
keinen Halt in einem Meer von Gl
u
ckseligkeit. Kein befreiender
Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein
Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' tr
u
nennasse Wange an der seinen
klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: "Vergib mir, mein Sohn,
mein lieber Sohn, vergib mir!"
Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die
u
ußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer
tobenden Fl
u
ssigkeit wie kochende, sch
u
umende Milch. Sie
u
berfluteten ihn,
pressten mit unertr
u
glichem Druck gegen die innere Schalenwand seines
K
u
rpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen
fliehen, aber wohin... Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht
an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das
Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre
Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren wegger
u
umt worden. Eine Kerze brannte
auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster h
u
rte er von Ferne den
Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben
dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und
streichelte sie.
Noch bevor er die Augen aufschlug, pr
u
fte Grenouille die Atmosph
u
re. Im
Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder
die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein
Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort
roch er sein Parfum. Es hatte sich ver
u
ndert. Die Spitzen waren etwas
schw
u
cher geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch
herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er f
u
hlte sich
sicher. Er wusste, dass er noch f
u
r Stunden unangreifbar war, und
u
ffnete
die Augen.
Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem
Blick, Z
u
rtlichkeit, R
u
hrung und die hohle, d
u
mmliche Tiefe des Liebenden.
Er l
u
chelte und dr
u
ckte Grenouilles Hand fester und sagte: "Es wird
jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen
haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich
will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich
als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr
u
hnlich. Du bist sch
u
n wie sie, deine
Haare, dein Mund, deine Hand... Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten,
deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir,
als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn
wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?"
Grenouille sch
u
ttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor
Gl
u
ck. "Dann wirst du mein Sohn werden?" stammelte er und fuhr von seinem
Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles
zweite Hand zu pressen. "Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater
haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen.
Nicke nur!"
Grenouille nickte. Da brach Richis das Gl
u
ck wie roter Schweiß
aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und k
u
sste ihn auf
den Mund.
"Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!" sagte er, als er sich wieder
aufgerichtet hatte. "Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen
bist." Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet
hatte: "Du machst mich sehr, sehr gl
u
cklich."
Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den
Menschen abgeschaut hatte, die l
u
cheln. Dann schloss er die Augen. Er
wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ,
wie es die Schl
u
fer tun. Er sp
u
rte Richis' liebenden Blick auf seinem
Gesicht. Einmal sp
u
rte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu
k
u
ssen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich
wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus
der Kammer.
Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Ger
u
usch mehr
h
u
rte. Als er dann aufstand, d
u
mmerte es schon. Er kleidete sich an und
machte sich davon, leise
u
ber den Flur, leise die Stiege hinab und durch den
Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man
u
ber die
Stadtmauersehen,
u
ber die Sch
u
ssel des Grasser Landes, bei klarem Wetter
wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein d
u
nner Nebel, ein Dunst eher,
u
ber
den Feldern, und die D
u
fte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose,
waren wie gewaschen, rein, simpel, tr
u
stlich einfach. Grenouille durchquerte
den Garten und stieg
u
ber die Mauer.
Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschend
u
nste k
u
mpfen,
ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die H
u
nge glichen einem
riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den
Ausschweifungen des n
u
chtlichen Festes ersch
u
pften Gestalten herum, manche
nackt, manche halb entbl
u
ßt und halb bedeckt von Kleidern, unter die
sie sich wie unter ein St
u
ck Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem
Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße
und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an
denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch
aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Gel
u
chter auf. Es mag
auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von
Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der
u
ber die
verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast.
Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder
war vorbei.
Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach
Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche
Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne
aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er l
u
ngst verschwunden.
Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die
nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und spei
u
bel in Magen und
Gem
u
t. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach
den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten,
suchten sittsame Frauen nach ihren M
u
nnern und Kindern, sch
u
lten sich
wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte,
Nachbarn, Gatten pl
u
tzlich in peinlichster
u
ffentlicher Nacktheit gegen
u
ber.
Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollst
u
ndig
unerkl
u
rlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen
Vorstellungen, dass sie es buchst
u
blich im Augenblick seines Stattfindens
aus ihrem Ged
u
chtnis l
u
schten und sich infolgedessen auch sp
u
ter wahrhaftig
nicht mehr daran zur
u
ckerinnern konnten. Andere, die ihren
Wahrnehmungsapparat nicht so souver
u
n beherrschten, versuchten, wegzuschauen
und wegzuh
u
ren und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande
war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine
Angeh
u
rigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauff
u
llig wie
m
u
glich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.
Die Leute in der Stadt kamen, wenn
u
berhaupt, erst gegen Abend aus den
H
u
usern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man gr
u
ßte sich
nur fl
u
chtig beim Begegnen, sprach nur
u
ber das Belangloseste.
u
ber die
Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So
hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so
schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie
schien das Einvernehmen unter den Grasser B
u
rgern besser als in jener Zeit.
Man lebte wie in Watte.
Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem
befassen, was geschehen war. Die Kontinuit
u
t des
u
ffentlichen Lebens, die
Unverbr
u
chlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen.
Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite
Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese
verschw
u
rerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima
und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur
Erw
u
hnung getan worden w
u
re, "die Trib
u
ne und das Schafott auf dem Cours
unverz
u
glich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden
zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand
versetzen zu lassen". Hierf
u
r wurden hundertsechzig Livre bewilligt.
Gleichzeitig tagte das Gericht in der Pr
u
vot
u
. Der Magistrat kam ohne
Aussprache
u
berein, den "Fall G." als erledigt zu betrachten, die Akten zu
schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren
gegen einen bislang unbekannten M
u
rder von f
u
nfundzwanzig Jungfrauen im
Grasser Raum zu er
u
ffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die
Untersuchungen unverz
u
glich aufzunehmen.
Schon am n
u
chsten Tag wurde er f
u
ndig. Aufgrund eindeutiger
Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue
de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare
s
u
mtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anf
u
nglichen Leugnen
ließen sich die Richter nicht t
u
uschen. Nach vierzehnst
u
ndiger Folter
gestand er alles und bat sogar um eine m
u
glichst baldige Hinrichtung, die
ihm schon f
u
r den folgenden Tag gew
u
hrt wurde. Man kn
u
pfte ihn im
Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Trib
u
nen, im
Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines
Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod
eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverz
u
glich
beisetzen. Damit war der Fall erledigt.
Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollst
u
ndig,
dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beil
u
ufig nach
dem ber
u
chtigten Grasser M
u
dchenm
u
rder erkundigten, nicht einen einzigen
vern
u
nftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft h
u
tte erteilen k
u
nnen. Nur
ein paar Narren aus der Charit
u
, notorische Geisteskranke, plapperten noch
irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours,
dessentwegen sie h
u
tten ihre Zimmer r
u
umen m
u
ssen.
Und bald hatte sich das Leben g
u
nzlich normalisiert. Die Leute
arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Gesch
u
ften nach
und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den
vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die
Stadt stand wieder sch
u
big und stolz an den H
u
ngen
u
ber dem fruchtbaren
Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.
Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den St
u
dten
aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand
abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gr
u
ser,
Pilze, Bl
u
ten, tote V
u
gel, W
u
rmer. Er durchzog die Provence,
u
berquerte in
einem gestohlenen Kahn die Rhone s
u
dlich von Orange, folgte dem Lauf der
Ard
u
che bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden.
In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich
liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den k
u
hlen Wind,
der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine
Sehnsucht mehr nach dem H
u
hlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht
und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die
des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte
u
berhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das
wollte er.
Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den
kleinen gl
u
sernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fl
u
schchen war noch fast
voll. F
u
r den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen
verbraucht. Der Rest w
u
rde gen
u
gen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er
wollte, k
u
nnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von
Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich
vom K
u
nig die F
u
ße k
u
ssen zu lassen; dem Papst einen parfumierten
Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor
K
u
nigen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf
Erden - falls man sich als Gott
u
berhaupt noch salbte...
All das k
u
nnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht
dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die st
u
rker war als die Macht
des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die
un
u
berwindliche Macht, den Menschen Liebe einzufl
u
ßen. Nur eines
konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen
machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein
Gott - wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals w
u
sste,
wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein
Parfum.
Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn
er sie an seine Nase f
u
hrte und schnupperte, dann wurde ihm wehm
u
tig, und
f
u
r ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch.
Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand
weiß, wie gut es
gemacht
ist. Die andern sind nur seiner Wirkung
untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie
wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen
Sch
u
nheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und
zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der
einzige, f
u
r den es sinnlos ist.
Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer
stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige M
u
dchen spielte, und ihr
Duft zu mir her
u
berwehte... oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn
ihr sp
u
terer Duft existierte ja noch gar nicht - vielleicht war das, was ich
damals empfand, demjenigen
u
hnlich, was die Menschen auf dem Cours
empfanden, als ich sie mit meinem Parfum
u
berschwemmte...? Aber dann verwarf
er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich
den Duft begehrte, nicht das M
u
dchen. Die Menschen aber glaubten, sie
begehrten
mich,
und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.
Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine St
u
rke, und
er war auch schon im Orleanais.
Er
u
berquerte die Loire bei Sully. Einen Tag sp
u
ter hatte er den Duft
von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue
Saint-Jacques fr
u
hmorgens um sechs.
Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem
Jahr. Die tausendf
u
ltigen Ger
u
che und Gest
u
nke quollen wie aus tausend
aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gem
u
se an den
Marktst
u
nden erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In
den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu
fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag
von Grenouilles Geburt.
Er ging
u
ber den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen
und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinh
u
user l
u
ngs der
Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gel
u
nde des Friedhofs lag wie
ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerw
u
hlt, zerfurcht, von Gr
u
ben
durchzogen, von Sch
u
deln und Gebeinen
u
bers
u
t, ohne Baum, Strauch oder
Grashalm, eine Schutthalde des Todes.
Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so
schwer, dass selbst die Totengr
u
ber sich verzogen hatten. Sie kamen erst
nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein
Gruben f
u
r die Toten des n
u
chsten Tages auszuheben.
Nach Mitternacht erst - die Totengr
u
ber waren schon gegangen - belebte
sich der Ort mit allem m
u
glichen Gesindel, Dieben, M
u
rdern, Messerstechern,
Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde
angez
u
ndet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre.
Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen
mischte, nahmen sie ihn zun
u
chst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an
ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das best
u
rkte sie sp
u
ter in
der Meinung, es m
u
sse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder
sonst etwas
u
bernat
u
rliches gehandelt haben. Denn
u
blicherweise reagierten
sie h
u
chst empfindlich auf die N
u
he eines Fremden.
Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei pl
u
tzlich einfach
dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fl
u
schchen
in der Hand, das er entst
u
pselte. Dies war das erste, woran sich alle
erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fl
u
schchen entst
u
pselte. Und
dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fl
u
schchens
u
ber und
u
ber
besprenkelt und sei mit einem Mal von Sch
u
nheit
u
berg
u
ssen gewesen wie von
strahlendem Feuer.
F
u
r einen Moment wichen sie zur
u
ck aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen.
Aber im selben Moment sp
u
rten sie schon, dass das Zur
u
ckweichen mehr wie ein
Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in
Begeisterung. Sie f
u
hlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein
rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein
Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie
h
u
tte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe
untersp
u
lte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm.
Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen
und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht
mehr alle, sie begannen zu dr
u
cken, zu schieben und zu dr
u
ngeln, jeder
wollte dem Zentrum am n
u
chsten sein.
Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis
in sich zusammen. Sie st
u
rzten sich auf den Engel, fielen
u
ber ihn her,
rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn ber
u
hren, jeder wollte einen Teil von
ihm haben, ein Federchen, ein Fl
u
gelchen, einen Funken seines wunderbaren
Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie
zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Z
u
hne in sein Fleisch, wie die
Hy
u
nen fielen sie
u
ber ihn her.
Aber so ein Menschenk
u
rper ist ja z
u
h und l
u
sst sich nicht so einfach
auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die gr
u
ßte M
u
he. Und
so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und
u
xte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die
Knochen. In k
u
rzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und
ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein St
u
ck, zog sich, von
woll
u
stiger Gier getrieben, zur
u
ck und fraß es auf. Eine halbe Stunde
sp
u
ter war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden
verschwunden.
Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer
zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein
wenig auf, spie ein Kn
u
chelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste
mit dem Fuß einen
u
briggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die
Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht,
einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niedertr
u
chtiges Verbrechen
hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen
Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie
und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch
gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten
Anflug von schlechtem Gewissen versp
u
rten. Im Gegenteil! Es war ihnen,
wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren
finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf
ihren Gesichtern lag ein m
u
dchenhafter, zarter Glanz von Gl
u
ck. Daher
vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen
zu sehen.
Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten
sie l
u
cheln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten
Mal etwas aus Liebe getan.
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Текст проверил Илья Франк