Книго


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     Патрик Зюскинд.  Парф На немецком языке. 1998
     

, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru

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     Im achtzehnten Jahrhundert lebte in  Frankreich ein Mann,  der  zu  den
genialsten   und   abscheulichsten   Gestalten  dieser   an   genialen   und
abscheulichen Gestalten nicht armen  Epoche geh

u

rte.  Seine  Geschichte soll
hier  erz

u

hlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn  sein
Name im  Gegensatz  zu  den  Namen  anderer genialer Scheusale,  wie etwa de
Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten
ist,  so   sicher   nicht  deshalb,  weil   Grenouille  diesen   ber

u

hmteren
Finsterm

u

nnern an Selbst

u

berhebung, Menschenverachtung, Immoralit

u

t, kurz an
Gottlosigkeit  nachgestanden h

u

tte, sondern  weil  sich sein Genie und  sein
einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschr

u

nkte, welches in der Geschichte keine
Spuren hinterl

u

sst: auf das fl

u

chtige Reich der Ger

u

che.
     Zu der  Zeit, von der wir  reden,  herrschte in den St

u

dten ein f

u

r uns
moderne Menschen kaum  vorstellbarer Gestank.  Es stanken die  Straßen
nach Mist, es stanken die Hinterh

u

fe nach Urin, es stanken die Treppenh

u

user
nach  fauligem Holz und nach  Rattendreck,  die K

u

chen nach verdorbenem Kohl
und  Hammelfett; die ungel

u

fteten Stuben  stanken  nach muffigem Staub,  die
Schlafzimmer  nach fettigen Laken,  nach feuchten Federbetten  und  nach dem
stechend  s

u

ßen  Duft  der  Nachtt

u

pfe.  Aus  den  Kaminen  stank  der
Schwefel,  aus  den  Gerbereien   stanken  die   

u

tzenden  Laugen,  aus  den
Schlachth

u

fen  stank  das   geronnene  Blut.   Die  Menschen   stanken  nach
Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach
verrotteten Z

u

hnen,  aus  ihren  M

u

gen nach Zwiebelsaft und  an den K

u

rpern,
wenn sie nicht mehr  ganz jung waren,  nach altem K

u

se und nach saurer Milch
und  nach  Geschwulstkrankheiten.  Es  stanken  die  Fl

u

sse, es stanken  die
Pl

u

tze, es  stanken die  Kirchen,  es  stank  unter den Br

u

cken und  in  den
Pal

u

sten. Der  Bauer stank wie der Priester,  der  Handwerksgeselle  wie die
Meistersfrau, es stank der gesamte  Adel, ja  sogar der K

u

nig stank, wie ein
Raubtier stank er, und die K

u

nigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.
Denn der zersetzenden Aktivit

u

t der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert
noch keine Grenze  gesetzt, und so gab es keine menschliche T

u

tigkeit, keine
aufbauende und keine zerst

u

rende, keine 

u

ußerung des aufkeimenden oder
verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen w

u

re.
     Und nat

u

rlich war in Paris der Gestank am gr

u

ßten, denn Paris war
die gr

u

ßte Stadt  Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es
einen  Ort,  an  dem  der  Gestank  ganz besonders  infernalisch  herrschte,
zwischen  der  Rue  aux  Fers und der  Rue de  la  Ferronnerie, n

u

mlich  den
Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die  Toten
des Krankenhauses Hotel-Dieu  und  der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht,
achthundert Jahre lang  Tag f

u

r Tag  die Kadaver zu Dutzenden  herbeigekarrt
und  in lange Gr

u

ben gesch

u

ttet, achthundert  Jahre lang in den  Gr

u

ften und
Beinh

u

usern Kn

u

chelchen  auf  Kn

u

chelchen  geschichtet. Und erst sp

u

ter,  am
Vorabend  der Franz

u

sischen Revolution,  nachdem  einige  der  Leichengr

u

ben
gef

u

hrlich eingest

u

rzt waren  und  der Gestank des 

u

berquellenden  Friedhofs
die  Anwohner  nicht  mehr zu  bloßen  Protesten,  sondern  zu  wahren
Aufst

u

nden trieb, wurde er  endlich geschlossen und aufgelassen,  wurden die
Millionen Knochen und Sch

u

del in  die Katakomben von Montmartre geschaufelt,
und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz f

u

r Viktualien.
     Hier nun, am allerstinkendsten  Ort des gesamten K

u

nigreichs, wurde  am
17.  Juli   1738   Jean-Baptiste  Grenouille  geboren.  Es  war  einer   der
heißesten  Tage des  Jahres. Die  Hitze lag wie Blei 

u

ber dem Friedhof
und quetschte den nach einer  Mischung aus fauligen Melonen  und verbranntem
H

u

rn  riechenden Verwesungsbrodem in  die benachbarten  Gassen.  Grenouilles
Mutter  stand, als die  Wehen  einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux
Fers  und schuppte Weißlinge,  die  sie  zuvor ausgenommen  hatte. Die
Fische, angeblich  erst am Morgen aus der Seine gezogen,  stanken bereits so
sehr, dass ihr  Geruch den Leichengeruch 

u

berdeckte. Grenouilles Mutter aber
nahm weder den Fisch- noch  den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen
Ger

u

che im h

u

chsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr
Leib,  und  der   Schmerz   t

u

tete  alle  Empf

u

nglichkeit  f

u

r  

u

ußere
Sinneseindr

u

cke. Sie  wollte nur  noch, dass der Schmerz aufh

u

re, sie wollte
die  eklige Geburt  so  rasch als m

u

glich hinter sich  bringen. Es war  ihre
f

u

nfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert,  und
alle  waren  Totgeburten  oder  Halbtotgeburten  gewesen,  denn  das blutige
Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekr

u

se,
das  da schon lag, und lebte auch  nicht viel  mehr,  und abends wurde alles
mitsammen  weggeschaufelt und hin

u

bergekarrt zum Friedhof oder  hinunter zum
Fluss.  So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter,  die noch eine
junge Frau war, gerade  Mitte  zwanzig, die noch ganz h

u

bsch aussah und noch
fast  alle Z

u

hne  im  Munde  hatte  und auf dem  Kopf  noch  etwas  Haar und
außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine
ernsthafte Krankheit;  die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht f

u

nf oder
zehn  Jahre lang,  und  vielleicht  sogar  einmal zu  heiraten und wirkliche
Kinder zu  bekommen  als ehrenwerte Frau  eines verwitweten Handwerkers oder
so...  Grenouilles Mutter w

u

nschte, dass alles schon vor

u

ber w

u

re.  Und  als
die Presswehen einsetzten,  hockte  sie sich  unter ihren  Schlachttisch und
gebar dort,  wie schon vier  Mal zuvor  und nabelte mit dem Fischmesser  das
neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze  und  des  Gestanks, den sie
als  solchen   nicht  wahrnahm,   sondern   nur  als  etwas  Unertr

u

gliches,
Bet

u

ubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges  Zimmer,  in dem zu
viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnm

u

chtig, kippte zur Seite,  fiel unter
dem Tisch hervor mitten  auf die Straße  und  blieb  dort  liegen, das
Messer in der Hand.
     Geschrei, Gerenne,  im  Kreis  steht die glotzende  Menge, man holt die
Polizei.  Immer noch  liegt  dieFrau mit  dem  Messer in der  Hand  auf  der
Straße, la ngsam kommt sie zu sich.
     Was ihr geschehen sei?
     "Nichts."
     Was sie mit dem Messer tue?
     "Nichts."
     Woher das Blut an ihren R

u

cken komme?
     "Von den Fischen."
     Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.
     Da  f

u

ngt, wider  Erwarten,  die  Geburt  unter  dem  Schlachttisch  zu
schreien an. Man schaut nach,  entdeckt unter einem  Schw

u

rm von Fliegen und
zwischen Gekr

u

se und  abgeschlagenen  Fischk

u

pfen das Neugeborene,  zerrt es
heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben,  die Mutter festgenommen.
Und  weil sie gest

u

ndig  ist  und  ohne weiteres zugibt, dass  sie  das Ding
bestimmt w

u

rde haben verrecken lassen, wie sie es im 

u

brigen schon  mit vier
anderen  getan  habe,  macht  man  ihr den  Prozess,  verurteilt  sie  wegen
mehrfachen Kindermords und schl

u

gt ihr ein paar Wochen sp

u

ter auf  der Place
de Greve den Kopf ab.
     Das  Kind hatte zu  diesem Zeitpunkt  bereits  das dritte  Mal die Amme
gewechselt.  Keine  wollte es l

u

nger als ein  paar  Tage behalten. Es sei zu
gierig, hieß es, sauge f

u

r zwei, entziehe den anderen Stillkindern die
Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da  rentables Stillen
bei einem einzigen S

u

ugling unm

u

glich  sei. Der  zust

u

ndige Polizeioffizier,
ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind  schon
zur  Sammelstelle  f

u

r  Findlinge  und  Waisen  in  der   

u

ußeren  Rue
Saint-Antoine  bringen  lassen,  von wo  aus  t

u

glich  Kindertransporte  ins
staatliche  Großfindelheim  von  Rouen  abgingen.  Da  nun aber  diese
Transporte  von  Lasttr

u

gern  vermittels Bastkiepen durchgef

u

hrt  wurden, in
welche  man  aus  Rationalit

u

tsgr

u

nden  bis zu vier  S

u

uglinge  gleichzeitig
steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war;
da  aus  diesem  Grund  die  Kiepentr

u

ger  angehalten  waren,  nur  getaufte
S

u

uglinge  zu bef

u

rdern und nur solche, die  mit einem ordnungsgem

u

ßen
Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste;
da  das  Kind Grenouille aber weder getauft  war  noch 

u

berhaupt einen Namen
besaß,  den  man  ordnungsgem

u

ß  in  den  Transportschein  h

u

tte
eintragen  k

u

nnen;  da  es  ferner  seitens  der Polizei nicht gut  ang

u

ngig
gewesen  w

u

re,  ein  Kind   anonymiter  vor  den  Pforten  der  Sammelstelle
auszusetzen,  was  allein  die Erf

u

llung der  

u

brigen  Formalit

u

ten er

u

brigt
haben w

u

rde...  -  aus einer Reihe  von Schwierigkeiten  b

u

rokratischer  und
verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds
zu  ergeben  schienen, und  weil  im  

u

brigen  die  Zeit dr

u

ngte,  nahm  der
Polizeioffizier La Fosse von seinem urspr

u

nglichen Entschluss wieder Abstand
und gab Anweisung, den Knaben  bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen
Aush

u

ndigung einer Quittung  abzugeben,  damit man ihn dort taufe  und  

u

ber
sein weiteres Schicksal entscheide. Im  Kloster von Saint-Merri in  der  Rue
Saint-Martin wurde  man  ihn  los.  Er  erhielt  die  Taufe  und  den  Namen
Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute  Laune hatte und seine
karitativen Fonds noch nicht ersch

u

pft waren, ließ man das  Kind nicht
nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufp

u

ppeln. Es wurde
zu diesem Behuf  einer  Amme namens Jeanne  Bussie in  der  Rue  Saint-Denis

u

bergeben, welche bis  auf weiteres drei Franc pro Woche f

u

r ihre Bem

u

hungen
erhielt.

     Einige Wochen  sp

u

ter stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb
in  der  Hand vor der Pforte des  Klosters von  Saint-Merri  und  sagte  dem

u

ffnenden Pater  Terrier,  einem  etwa  f

u

nfzigj

u

hrigen kahlk

u

pfigen, leicht
nach  Essig riechenden  M

u

nch  "Da!"  und  stellte  den  Henkelkorb  auf die
Schwelle.
     "Was  ist  das?" sagte Terrier  und  beugte  sich  

u

ber  den  Korb  und
schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
     "Der Bastard der Kinderm

u

rderin aus der Rue aux Fers!"
     Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht
des schlafenden S

u

uglings freigelegt hatte.
     "Gut schaut er aus. Rosig und wohlgen

u

hrt."
     "Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil  er mich  leergepumpt  hat
bis  auf  die Knochen.  Aber  damit ist  jetzt Schluss. Jetzt k

u

nnt  Ihr ihn
selber weiterf

u

ttern mit Ziegenmilch, mit  Brei,  mit R

u

bensaft.  Er  frisst
alles, der Bastard."
     Pater Terrier war ein gem

u

tlicher Mann. In seine Zust

u

ndigkeit fiel die
Verwaltung des kl

u

sterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme
und Bed

u

rftige. Und er erwartete, dass man ihm daf

u

r Danke sagte und ihn des
weiteren nicht bel

u

stigte.  Technische Einzelheiten  waren ihm sehr zuwider,
denn  Einzelheiten  bedeuteten  immer Schwierigkeiten,  und  Schwierigkeiten
bedeuteten  eine St

u

rung seiner  Gem

u

tsruhe,  und  das konnte er  gar  nicht
vertragen. Er 

u

rgerte sich, dass er  die Pforte 

u

berhaupt ge

u

ffnet hatte. Er
w

u

nschte, dass diese Person ihren Henkelkorb  n

u

hme und nach Hause ginge und
ihn in Ruhe ließe mit ihren S

u

uglingsproblemen.
     Langsam richtete  er sich  auf und  sog mit  einem Atemzug den Duft von
Milch  und  k

u

siger Schafswolle  ein, den die Amme  verstr

u

mte.  Es war  ein
angenehmer Duft.
     "Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf
du  hinauswillst.  Ich  kann  mir nur  vorstellen, dass  es  diesem S

u

ugling
durchaus nicht schaden  w

u

rde, wenn er  noch geraume Zeit an  deinen Br

u

sten
l

u

ge."
     "Ihm nicht", schnarrte die Amme  zur

u

ck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich
abgenommen und  dabei gegessen f

u

r drei.  Und  wof

u

r?  F

u

r drei Franc in der
Woche!"
     "Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde:
Es geht also wieder einmal ums Geld."
     "Nein!" sagte die Amme.
     "Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht
es ums Geld. Einmal w

u

nschte ich mir, dass ich  

u

ffnete, und es  st

u

nde  ein
Mensch da, dem  es um etwas  anderes ginge. Jemand, der beispielsweise  eine
kleine Aufmerksamkeit vorbeibr

u

chte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar
N

u

sse.  Es  gibt doch  im Herbst eine  Menge  Dinge,  die  man vorbeibringen
k

u

nnte. Blumen vielleicht.  Oder wenn bloß jemand k

u

me und  freundlich
sagte:  >Gott  zum  Gruße, Pater Terrier,  ich w

u

nsche Ihnen  einen
sch

u

nen Tag!< Aber das werde ich  wohl  nie mehr  erleben.  Wenn  es kein
Bettler ist, dann ist es ein H

u

ndler, und wenn es kein H

u

ndler ist, dann ist
es ein Handwerker, und wenn er kein  Almosen will, dann  pr

u

sentiert er eine
Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich
auf  die  Straße  gehe,  bin  ich  nach drei  Schritten umzingelt  von
Individuen, die Geld wollen!"
     "Nicht von mir", sagte die Amme.
     "Aber ich  sage dir eines: Du bist nicht die  einzige Amme im Sprengel.
Es gibt  Hunderte von erstklassigen Ziehm

u

ttern, die sich darum reißen
werden, diesen entz

u

ckenden S

u

ugling f

u

r  drei Franc pro  Woche an die Brust
zu   legen   oder   ihm   Brei   oder   S

u

fte   oder   sonstige   N

u

hrmittel
einzufl

u

ßen..."
     "Dann gebt ihn einer von denen!"
     "...  Andrerseits  ist  es nicht  gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer
weiß, ob es mit anderer  Milch so gut gedeiht wie mit  deiner. Es  ist
den  Duft  deiner Brust gew

u

hnt,  musst  du  wissen, und den  Schlag  deines
Herzens."
     Und abermals nahm er  einen  tiefen  Atemzug  vom warmen Dunst, den die
Amme  verstr

u

mte,  und  sagte dann,  als er merkte, dass seine  Worte keinen
Eindruck auf sie gemacht hatten:
     "Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache  mit dem Prior
besprechen.  Ich werde  ihm vorschlagen, dir k

u

nftig vier Franc in der Woche
zu geben."
     "Nein", sagte die Amme.
     "Also gut: f

u

nf!"
     "Nein."
     "Wie viel verlangst du  denn noch?" schrie Terrier sie  an. "F

u

nf Franc
sind ein Haufen  Geld f

u

r die untergeordnete Aufgabe,  ein  kleines Kind  zu
ern

u

hren!"
     "Ich will  

u

berhaupt kein Geld", sagte  die Amme. "Ich will den Bastard
aus dem Haus haben."
     "Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem
Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er
schreit nicht, er schl

u

ft gut, und er ist getauft."
     "Er ist vom Teufel besessen."
     Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.
     "Unm

u

glich!  Es ist  absolut  unm

u

glich, dass  ein  S

u

ugling vom Teufel
besessen  ist.  Ein  S

u

ugling  ist kein  Mensch, sondern  ein  Vormensch und
besitzt noch  keine voll  ausgebildete Seele.  Infolgedessen  ist er f

u

r den
Teufel uninteressant. Spricht  er vielleicht schon? Zuckt es in  ihm? Bewegt
er Dinge im Zimmer? Geht ein 

u

bler Gestank von ihm aus?"
     "Er riecht 

u

berhaupt nicht", sagte die Amme.
     "Da  hast du es! Das  ist ein eindeutiges Zeichen.  Wenn  er vom Teufel
besessen w

u

re, m

u

sste er stinken."
     Und  um die  Amme zu beruhigen und seinen  eigenen  Mut unter Beweis zu
stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.
     "Ich rieche nichts Absonderliches", sagte  er,  nachdem  er  eine Weile
geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings,
als ob da etwas aus der Windel r

u

che." Und er hielt ihr den  Korb hin, damit
sie seinen Eindruck best

u

tige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch
und  schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in  der Windel  ist.
Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht."
     "Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht
er  nicht!  Nur  kranke  Kinder  riechen,  das ist doch bekannt. Bekanntlich
riecht ein  Kind, das  Blattern hat, nach  Pferdedung,  und  eines,  welches
Scharlachfieber hat, nach alten  

u

pfeln, und  ein schwinds

u

chtiges Kind, das
riecht nach Zwiebeln.  Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll  es
denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?"
     "Nein", sagte  die Amme. "Meine Kinder  riechen so,  wie Menschenkinder
riechen sollen."
     Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zur

u

ck, denn er
f

u

hlte,  wie  die ersten  Wallungen von Wut  

u

ber  die Widerborstigkeit  der
Person  in  ihm aufstiegen.  Es  war  nicht auszuschließen, dass er im
Fortgang  des Disputes  beide  Arme zur  freieren Gestik ben

u

tigte,  und  er
wollte nicht, dass der S

u

ugling  dadurch Schaden  n

u

hme. Vorerst  allerdings
verknotete  er seine  H

u

nde  hinter  dem  R

u

cken, streckte  der  Amme seinen
spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie
ein Menschenkind, das ja  immerhin auch - daran m

u

chte ich  erinnern,  zumal
wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?"
     "Ja", sagte die Amme.
     "Und  behauptest  ferner,  dass, wenn es  nicht r

u

che, wie du meintest,
dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue  Saint-Denis!
-,  es dann  ein Kind des Teufels  sei?"  Er schwang die Linke hinter seinem
R

u

cken hervor  und  hielt  ihr  drohend  den gebogenen  Zeigefinger  wie ein
Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme 

u

berlegte.  Es war ihr nicht recht, dass
das Gespr

u

ch mit einem  Mal zu einem theologischen Verh

u

r ausartete, bei dem
sie nur unterliegen konnte.
     "Das will ich nicht  gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die
Sache etwas  mit dem  Teufel zu tun hat  oder  nicht,  das m

u

sst  Ihr selbst
entscheiden, Pater Terrier, daf

u

r  bin ich nicht  zust

u

ndig. Ich  weiß
nur eins: dass mich vor diesem S

u

ugling  graust, weil  er  nicht riecht, wie
Kinder riechen sollen."
     "Aha",  sagte  Terrier  befriedigt und  ließ  seinen  Arm  wieder
zur

u

ckpendeln. "Das mit dem  Teufel nehmen wir also wieder zur

u

ck. Gut. Aber
nun sage  mir gef

u

lligst: Wie  riecht  ein S

u

ugling denn, wenn er so riecht,
wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?"
     "Gut riecht er", sagte die Amme.
     "Was  heisst  >gut<?" br

u

llte Terrier sie an. "Gut riecht vieles.
Ein  Bund  Lavendel  riecht gut.  Suppenfleisch riecht gut.  Die  G

u

rten von
Arabien riechen gut. Wie riecht ein S

u

ugling, will ich wissen?"
     Die Amme z

u

gerte. Sie wusste wohl,  wie S

u

uglinge rochen, sie wusste es
ganz genau, sie hatte doch  schon Dutzende  gen

u

hrt, gepflegt,  geschaukelt,
gek

u

sst...  sie konnte  sie  nachts  mit  der  Nase  finden,  sie  trug  den
S

u

uglingsgeruch selbst jetzt deutlich in  der Nase. Aber sie hatte  ihn noch
nie mit Worten bezeichnet.
     "Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingern

u

geln.
     "Also -",  begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil...
weil, sie  riechen nicht  

u

berall gleich,  obwohl  sie 

u

berall gut  riechen,
Pater, verstehen Sie, also  an den F

u

ßen  zum Beispiel, da riechen sie
wie ein glatter warmer Stein -  nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie
frische Butter, ja genau: wie  frische Butter  riechen  sie.  Und am  K

u

rper
riechen  sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch  gelegt hat.  Und am
Kopf,  da oben,  hinten  auf dem Kopf, wo das  Haar  den  Wirbel macht,  da,
schauen  Sie, Pater,  da, wo bei  Ihnen nichts mehr ist...", und  sie tippte
Terrier,  der  

u

ber diesen Schwall  detaillierter Dummheit  f

u

r einen Moment
sprachlos geworden war  und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze,
"...  hier, genau  hier,  da  riechen sie  am besten.  Da  riechen sie  nach
Karamel, das riecht so s

u

ß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine
Vorstellung! Wenn man sie da  gerochen hat, dann liebt man sie, ganz  gleich
ob es die eignen  oder  fremde sind. Und  so und nicht anders  m

u

ssen kleine
Kinder  riechen. Und wenn sie nicht so  riechen,  wenn sie da oben gar nicht
riechen, noch weniger  als kalte  Luft, so  wie der da, der Bastard, dann...
Sie  k

u

nnen  das  erkl

u

ren,  wie Sie  wollen,  Pater,  aber ich" -  und  sie
verschr

u

nkte  entschlossen die Arme  unter  ihrem Busen  und  warf  einen so
angeekelten Blick auf den Henkelkorb  zu ihren F

u

ßen, als enthielte er
Kr

u

ten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!"
     Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr  sich ein paarmal
mit dem Finger 

u

ber die Glatze, als  wolle  er dort Haare ordnen, legte  den
Finger wie zuf

u

llig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.
     "Wie  Karamel...?"  fragte  er   und  versuchte,  seinen  strengen  Ton
wiederzufinden...  "Karamel! Was weisst  du von Karamel? Hast  du schon  mal
welches gegessen?"
     "Nicht  direkt",  sagte  die  Amme.  "Aber  ich  war  einmal  in  einem
großen Hotel in der  Rue  Saint-Honore  und  habe  zugesehen,  wie  es
gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es
nicht mehr vergessen habe."
     "Jaja. Schon recht",  sagte Terrier und  entfernte den Finger  von  der
Nase. "Bitte  schweige  jetzt!  Es  ist f

u

r  mich 

u

beraus anstrengend,  mich
weiterhin  auf diesem  Niveau mit  dir  zu  unterhalten. Ich stelle fest, du
weigerst dich, aus welchen Gr

u

nden auch immer, den dir anvertrauten S

u

ugling
Jean-Baptiste  Grenouille weiter zu  ern

u

hren,  und  erstattest ihn  hiermit
seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zur

u

ck. Ich finde
das betr

u

blich, aber ich kann es wohl nicht 

u

ndern. Du bist entlassen."
     Damit  packte  er  den Henkelkorb,  nahm  noch  einen Atemzug  von  dem
verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf  das Tor  ins Schloss. Dann
ging er in sein B

u

ro.

     Pater Terrier  war ein gebildeter Mann. Er  hatte  nicht  nur Theologie
studiert,  sondern  auch  die  Philosophen  gelesen  und  besch

u

ftigte  sich
nebenbei mit  Botanik  und Alchemie. Er  hielt einiges  auf die Kraft seines
kritischen  Geistes. Zwar  w

u

re  er  nicht  so weit  gegangen, wie manche es
taten,  die Wunder, die  Orakel  oder die  Wahrheit der  Texte der  Heiligen
Schrift  in  Frage  zu stellen,  auch wenn sie strenggenommen  mit  Vernunft
allein nicht zu erkl

u

ren waren,  ja dieser  sogar  oft direkt widersprachen.
Von  solchen Problemen  ließ er lieber seine Finger,  sie waren ihm zu
ungem

u

tlich  und w

u

rden ihn nur  in die  peinlichste Unsicherheit und Unruhe
st

u

rzen,  wo  man  doch,  gerade um  sich seiner  Vernunft zu  bedienen, der
Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bek

u

mpfte,
waren die  abergl

u

ubischen Vorstellungen des einfachen  Volkes:  Hexerei und
Kartenlesen, Amulettgetrage, b

u

ser Blick,  Beschw

u

rungen, Vollmondhokuspokus
und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen,
dass   solche  heidnischen  Gebr

u

uche   nach   

u

ber  tausendj

u

hriger  fester
Installation der christlichen Religion  immer  noch nicht ausgerottet waren!
Auch   die   meisten   F

u

lle   von   sogenannter   Teufelsbesessenheit   und
Satansb

u

ndelei  erwiesen sich  bei  n

u

herer Betrachtung als  abergl

u

ubisches
Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu  leugnen, seine Macht  zu
bezweifeln  -  so  weit  w

u

rde  Terrier  nicht  gehen;  solche  Probleme  zu
entscheiden,  die  die  Grundfesten  der Theologie  ber

u

hrten,  waren andere
Instanzen berufen als ein kleiner einfacher M

u

nch. Auf der anderen Seite lag
es klar  zutage, dass, wenn eine einf

u

ltige Person wie jene Amme behauptete,
sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im
Spiel haben  konnte.  Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein
sicherer Beweis daf

u

r, dass da nichts Teuflisches  zu entdecken war, denn so
dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme
Jeanne  Bussie  entlarven ließ.  Und noch  dazu mit der Nase! Mit  dem
primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als r

u

che die H

u

lle nach
Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube,
wie in dunkelster heidnischster  Vorzeit, als  die  Menschen noch  wie Tiere
lebten, als sie  noch  keine scharfen  Augen besaßen, die  Farbe nicht
kannten, aber Blut riechen  zu k

u

nnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu
erriechen,  von  kannibalischen  Riesen  und  Werw

u

lfen  gewittert  und  von
Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen G

u

ttern stinkende,
qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht  der  Narr mit  der
Nase< mehr  als mit den  Augen,  und  wahrscheinlich musste das Licht der
gottgegebenen Vernunft noch  tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten
Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.
     "Ach, und das  arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem
Korb und schlummert,  ahnt nichts von den ekligen Verd

u

chtigungen, die gegen
es erhoben werden. Du r

u

chest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt
die  unversch

u

mte  Person  zu  behaupten.  Ja,  was  sagen  wir  denn  dazu?
Duziduzi!"
     Und er  wiegte den Korb  sachte auf den Knien, streichelte dem S

u

ugling
mit dem Finger 

u

ber den  Kopf und sagte von Zeit  zu Zeit "duziduzi", was er
f

u

r einen auf  Kleinkinder z

u

rtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt.
"Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!"
     Nach  einer Weile zog er den  Finger  zur

u

ck, hielt ihn sich  unter die
Nase,  schnupperte, roch  aber nichts  als das  Sauerkraut,  das er  mittags
gegessen  hatte. Er  z

u

gerte  einen  Moment,  blickte sich um,  ob ihn  auch
niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine  dicke Nase hinein. Ganz
knapp,  so  dass  die  d

u

nnen r

u

tlichen Kindshaare  seine N

u

stern kitzelten,
schnoberte er 

u

ber den  Kopf  des S

u

uglings, in der Erwartung, einen  Geruch
aufzusaugen.  Er wusste  nicht so recht,  wie  S

u

uglinge am Kopf zu  riechen
hatten. Nat

u

rlich nicht nach Karamel, so  viel stand fest, denn Karamel  war
ja geschmolzener Zucker, und  wie sollte  ein S

u

ugling, der bisher nur Milch
getrunken hatte, nach geschmolzenem  Zucker  riechen.  Nach Milch k

u

nnte  er
riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren  konnte
er   riechen,  nach  Haut  und  Haaren  und  vielleicht  nach  ein  bisschen
Kinderschweiß. Und  Terrier schnupperte und  stellte sich darauf  ein,
Haut,  Haare und ein  bisschen Kinderschweiß 
zu
 riechen.  Aber er roch
nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein S

u

ugling nicht,
dachte er, so wird das  sein. Ein S

u

ugling, sofern reinlich gehalten, riecht
eben nicht, genausowenig wie er  spricht, l

u

uft oder  schreibt.  Diese Dinge
kommen erst mit dem  Alter. Strenggenommen str

u

mt der Mensch sogar erst Duft
aus,  wenn er pubertiert. So  ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon
Horaz  "Es b

u

ckelt der J

u

ngling, es  duftet erbl

u

hend  die Jungfrau wie eine
weiße  Narzisse..."?-  und  die  R

u

mer  verstanden  etwas  davon!  Der
Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft  - also ein s

u

ndiger Duft. Wie
sollte  also  ein  S

u

ugling,  der doch  noch  nicht  einmal  im  Traume  die
fleischliche  S

u

nde  kennt,  riechen?  Wie sollte er riechen?  Duziduzi? Gar
nicht!
     Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte.
Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke
hervor, klein und rot,  und zuckte manchmal r

u

hrend gegen die Wange. Terrier
l

u

chelte  und  kam  sich  pl

u

tzlich  sehr gem

u

tlich  vor.  F

u

r einen  Moment
gestattete er  sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des
Kindes.  Er w

u

re  kein  M

u

nch  geworden,  sondern ein normaler  B

u

rger,  ein
rechtschaffener Handwerker vielleicht, h

u

tte ein Weib  genommen, ein  warmes
wollig und milchig duftendes Weib, und  h

u

tte mit ihr einen Sohn gezeugt und
hutschte  ihn  nun  hier  auf  seinen  eigenen  Knien,  sein  eigenes  Kind,
duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas
so  Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn  auf den Knien, duziduzi, es
war ein Bild so alt  wie die  Welt und  immer ein neues und richtiges  Bild,
solange die  Welt bestand, ach  ja! Es  wurde Terrier ein  bisschen warm ums
Herz und sentimental im Gem

u

t.
     Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase
bewegte  sich, sie zog sich nach oben und schnupperte.  Sie sog die Luft ein
und schnaubte sie in kurzen St

u

ßen aus,  wie bei  einem unvollkommenen
Niesen. Dann r

u

mpfte sich die Nase, und  das Kind  tat  die Augen  auf.  Die
Augen   waren    von   unbestimmter   Farbe,   zwischen   austerngrau    und
opalweiß-cremig,  von einer  Art schleimigem  Schleier  

u

berzogen  und
offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck,
dass sie ihn gar nicht gewahrten.  Anders die Nase. W

u

hrend die matten Augen
des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu
fixieren, und Terrier hatte das sehr  sonderbare Gef

u

hl, als sei dieses Ziel
er,  seine  Person, Terrier selbst.  Die  winzigen  Nasenfl

u

gel um die  zwei
winzigen  L

u

cher  mitten  im  Gesicht  des  Kindes  bl

u

hten  sich  wie  eine
aufgehende  Bl

u

te. Oder eher wie die  N

u

pfe jener kleinen  fleischfressenden
Pflanzen, die man im botanischen Garten des K

u

nigs hielt. Und wie von diesen
schien ein unheimlicher Sog von ihnen  auszugehen.  Es war Terrier, als sehe
ihn das  Kind  mit  seinen N

u

stern,  als sehe es ihn  scharf und pr

u

fend an,
durchdringender,  als man  es mit Augen k

u

nnte, als verschl

u

nge es etwas mit
seiner Nase, das von ihm,  Terrier,  ausging, und das  er nicht zur

u

ckhalten
und  nicht verbergen konnte... Das geruchlose  Kind roch ihn schamlos ab, so
war es! Es  witterte ihn aus!  Und  er kam sich mit  einem Mal stinkend vor,
nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er
kam  sich  nackt  und  h

u

ßlich  vor,  wie begafft  von  jemandem,  der
seinerseits  nichts  von  sich preisgab.  Selbst durch seine Haut schien  es
hindurchzuriechen, in  sein Innerstes  hinein.  Die  zartesten  Gef

u

hle, die
schmutzigsten Gedanken lagen  bloß vor dieser  gierigen kleinen  Nase,
die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein  Stups, ein sich st

u

ndig
kr

u

uselndes  und  bl

u

hendes  und bebendes winziges  l

u

chriges Organ. Terrier
schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas

u

belriechendem,  mit  dem  er  nichts   zu  tun  haben  wollte.  Vorbei  der
anheimelnde Gedanke,  es  handle  sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben
das  sentimentale  Idyll  von  Vater  und  Sohn  und  duftender  Mutter. Wie
weggerissen  der gem

u

tlich  umh

u

llende  Gedankenschleier, den er sich um das
Kind und  sich selbst zurecht phantasiert  hatte: Ein  fremdes, kaltes Wesen
lag auf  seinen Knien, ein feindseliges Animal, und  wenn er  nicht  ein  so
besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter
gewesen w

u

re, so  h

u

tte er es  in einem Anflug von Ekel wie eine  Spinne von
sich geschleudert.
     Mit einem Ruck stand Terrier  auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er
wollte  das  Ding loshaben,  m

u

glichst schnell, m

u

glichst  gleich, m

u

glichst
sofort.
     Und da begann es zu schreien. Es kniff  die Augen zusammen, riss seinen
roten Schlund auf und kreischte  so  widerw

u

rtig  schrill, dass Terrier  das
Blut in den Adern erstarrte. Er sch

u

ttelte den Korb  mit ausgestreckter Hand
und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es br

u

llte
nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor
Br

u

llen zerplatzen.
     Weg   damit!  dachte  Terrier,   augenblicklich   weg   mit   diesem...
>Teufel<  wollte  er  sagen  und riss sich zusammen  und  verkniff  es
sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem  unertr

u

glichen Kind! Aber wohin?
Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenh

u

user  im Quartier, aber das  war ihm
zu nah, zu dicht  auf der Haut war ihm das,  weiter  weg musste das Ding, so
weit, dass  man's nicht h

u

rte, so weit,  dass  man's  ihm nicht  jede Stunde
wieder vor die T

u

re stellen  konnte,  nach  M

u

glichkeit  musste  es in einen
anderen  Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am  allerbesten extra muros,
in  den Faubourg  Saint-Antoine, das war's!, dahin kam  der schreiende Balg,
weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.
     Und er raffte seine Soutane und ergriff den br

u

llenden  Korb und rannte
davon,  rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die
Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis  zur Rue de
Charonne  und diese fast bis zum Ende,  wo er, in  der N

u

he des Klosters der
Madeleine de Trenelle, die  Adresse  einer gewissen  Madame Gaillard kannte,
welche  Kostkinder jeglichen Alters  und jeglicher Art aufnahm,  solange nur
jemand daf

u

r zahlte,  und dort gab er  das immer  noch  schreiende Kind  ab,
zahlte f

u

r ein Jahr im voraus und floh zur

u

ck in die Stadt, warf, im Kloster
angekommen, seine  Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf  bis
Fuß und  kroch in  seiner Kammer ins Bett, wo  er viele Kreuze schlug,
lange betete und endlich erleichtert entschlief.

     Madame Gaillard, obwohl  noch keine dreißig  Jahre alt, hatte das
Leben schon hinter sich.  

u

ußerlich sah  sie so alt  aus, wie es ihrem
wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und  dreimal und hundertmal
so alt, n

u

mlich wie die Mumie eines M

u

dchens; innerlich aber war sie  l

u

ngst
tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken 

u

ber
die  Stirn  bekommen,  knapp  oberhalb  der  Nasenwurzel,  und  seither  den
Geruchssinn verloren und jedes Gef

u

hl  f

u

r menschliche W

u

rme und menschliche
K

u

lte und 

u

berhaupt jede Leidenschaft. Z

u

rtlichkeit war ihr mit diesem einen
Schlag ebenso fremd geworden  wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung.
Sie  empfand nichts, als  sie  sp

u

ter ein Mann beschlief, und ebenso nichts,
als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht 

u

ber die, die ihr starben, und
freute sich nicht an denen,  die ihr  blieben. Als ihr  Mann  sie  pr

u

gelte,
zuckte  sie  nicht,  und  sie  versp

u

rte  keine  Erleichterung,  als  er  im
Hotel-Dieu  an der  Cholera starb.  Die  zwei  einzigen Sensationen, die sie
kannte,  waren  eine ganz leichte Gem

u

tsverd

u

sterung,  wenn  die  monatliche
Migr

u

ne  nahte, und  eine ganz  leichte  Gem

u

tsaufhellung, wenn die  Migr

u

ne
wieder wich. Sonst sp

u

rte diese abgestorbene Frau nichts.
     Auf   der  anderen  Seite...   oder  vielleicht  gerade   wegen   ihrer
vollkommenen   Emotionslosigkeit,   besaß   Madame    Gaillard   einen
gnadenlosen Ordnungs-  und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr
anvertrauten  Kinder  und   benachteiligte  keines.  Sie  verabreichte  drei
Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen
dreimal am Tag  und nur bis zum zweiten  Geburtstag. Wer danach  noch in die
Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige  und eine  Mahlzeit weniger.
Exakt die H

u

lfte des Kostgelds verwandte  sie f

u

r  die  Z

u

glinge, exakt  die
H

u

lfte behielt sie f

u

r  sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht,  ihren
Gewinn zu erh

u

hen; aber sie legte  in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol
zu, auch nicht, wenn  es auf  Leben  und  Tod ging. Das Gesch

u

ft h

u

tte  sich
sonst f

u

r sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das  Geld. Sie hatte sich das
ganz genau ausgerechnet.  Im Alter  wollte sie  sich  eine  Rente kaufen und
dar

u

berhinaus  noch  so  viel besitzen, dass  sie es sich leisten konnte, zu
Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod
selbst  hatte  sie  kaltgelassen. Aber  ihr  graute  vor diesem 

u

ffentlichen
gemeinsamen Sterben mit  Hunderten von  fremden  Menschen.  Sie wollte  sich
einen  privaten  Tod  leisten,  und  dazu  brauchte  sie die volle Marge vom
Kostgeld: Zwar,  es gab Winter, da starben ihr von den zwei  Dutzend kleinen
Pension

u

ren drei  oder vier. Doch damit lag sie immer noch  erheblich besser
als die meisten  anderen privaten  Ziehm

u

tter und  

u

bertraf die großen
staatlichen  oder  kirchlichen  Findelh

u

user, deren  Verlustquote  oft  neun
Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im
Jahr 

u

ber zehntausend  neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ
sich mancher Ausfall verschmerzen.
     F

u

r den  kleinen Grenouille war das Etablissement  der  Madame Gaillard
ein Segen. Wahrscheinlich  h

u

tte  er nirgendwo anders 

u

berleben k

u

nnen. Hier
aber, bei  dieser  seelenarmen  Frau gedieh er.  Er  besaß  eine  z

u

he
Konstitution.  Wer  wie  er die  eigene  Geburt  im  Abfall 

u

berlebt  hatte,
ließ sich  nicht  mehr  so leicht  aus  der Welt  bugsieren. Er konnte
tagelang w

u

ssrige Suppen essen, er kam  mit der d

u

nnsten Milch aus,  vertrug
das  faulste Gem

u

se  und  verdorbenes Fleisch.  Im  Verlauf seiner  Kindheit

u

berlebte  er  die  Masern, die Ruhr,  die  Windpocken,  die  Cholera, einen
Sechsmetersturz in einen Brunnen und die  Verbr

u

hung der Brust mit kochendem
Wasser. Zwar trug  er Narben  davon und  Schrunde und Grind und einen leicht
verkr

u

ppelten Fuß, der ihn  hatschen machte, aber er lebte. Er war z

u

h
wie ein resistentes Bakterium und gen

u

gsam wie ein Zeck, der still auf einem
Baum sitzt und von einem  winzigen  Blutstr

u

pfchen lebt,  das er vor  Jahren
erbeutet hat. Ein minimales Quantum an  Nahrung und Kleidung brauchte er f

u

r
seinen K

u

rper. F

u

r  seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung,
Z

u

rtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind
angeblich  bedurfte  -   waren  dem  Kinde  Grenouille  v

u

llig  entbehrlich.
Vielmehr, so scheint uns, hatte  er sie sich selbst entbehrlich  gemacht, um

u

berhaupt leben zu k

u

nnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der
Schrei unter  dem Schlachttisch hervor, mit  dem  er  sich in Erinnerung und
seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach
Mitleid  und Liebe  gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast m

u

chte man sagen
ein reiflich  erwogener Schrei gewesen, mit dem  sich das Neugeborene  
gegen
die Liebe und dennoch 
f

u

r
 das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden
Umst

u

nden war  dieses ja auch  nur ohne  jene m

u

glich,  und h

u

tte  das  Kind
beides gefordert, so w

u

re  es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es
h

u

tte  damals  allerdings auch  die  zweite  ihm  offenstehende  M

u

glichkeit
ergreifen und  schweigen und den Weg von der  Geburt zum Tode ohne den Umweg

u

ber das  Leben w

u

hlen  k

u

nnen, und es h

u

tte damit  der Welt und sich selbst
eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten,  h

u

tte es eines
Mindestmaßes   an   eingeborener   Freundlichkeit   bedurft,  und  die
besaß  Grenouille  nicht. Er  war  von  Beginn  an  ein  Scheusal.  Er
entschied sich f

u

r das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
     Selbstverst

u

ndlich entschied er sich  nicht, wie ein erwachsener Mensch
sich  entscheidet, der  seine  mehr oder weniger  große  Vernunft  und
Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen  Optionen zu  w

u

hlen. Aber er
entschied  sich doch vegetativ, so wie eine  weggeworfene Bohne entscheidet,
ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben l

u

sst.
     Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch  das Leben nichts anderes zu
bieten  hat als ein  immerw

u

hrendes 

u

berwintern.  Der kleine  h

u

ßliche
Zeck, der seinen bleigrauen K

u

rper zur Kugel  formt,  um der Außenwelt
die geringstm

u

gliche Fl

u

che  zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht,
um  nichts zu verstr

u

men,  kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der
Zeck,  der sich extra klein und unansehnlich macht,  damit niemand ihn  sehe
und  zertrete.  Der einsame Zeck,  der in sich  versammelt  auf seinem Baume
hockt,  blind,  taub  und  stumm,  und  nur   wittert,  jahrelang   wittert,
meilenweit,  das  Blut  vor

u

berwandernder  Tiere,  die er  aus eigner  Kraft
niemals  erreichen wird. Der Zeck k

u

nnte sich fallen  lassen. Er k

u

nnte sich
auf den Boden des Waldes  fallen lassen, mit seinen sechs winzigen  Beinchen
ein  paar  Millimeter dahin  und dorthin  kriechen  und sich unters Laub zum
Sterben legen, es w

u

re nicht schade um ihn, weiß  Gott nicht. Aber der
Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis
ihm  der h

u

chst unwahrscheinliche Zufall  das  Blut  in Gestalt eines Tieres
direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zur

u

ckhaltung auf,
l

u

sst  sich fallen  und  krallt  und  bohrt  und beisst  sich  in das fremde
Fleisch...
     So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt
und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot;
kein L

u

cheln,  keinen Schrei, keinen Glanz des  Auges,  nicht  einmal  einen
eigenen Duft. Jede andere  Frau h

u

tte dieses monstr

u

se Kind verstoßen.
Nicht  so Madame  Gaillard. Sie roch  ja  nicht, dass es nicht roch, und sie
erwartete keine seelische Regung von  ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt
war.
     Die  andern Kinder dagegen sp

u

rten sofort,  was  es mit  Grenouille auf
sich hatte. Vom ersten  Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die
Kiste, in der er lag, und  r

u

ckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen,
als  w

u

re es k

u

lter geworden  im Zimmer. Die j

u

ngeren  schrien manchmal  des
Nachts; ihnen war,  als  z

u

ge ein Windzug durch die Kammer. Andere tr

u

umten,
es nehme ihnen  etwas den Atem. Einmal taten sich die  

u

lteren zusammen,  um
ihn zu ersticken. Sie  h

u

uften Lumpen und Decken und Stroh  auf sein Gesicht
und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame  Gaillard ihn  am n

u

chsten
Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdr

u

ckt  und blau, aber nicht tot.
Sie versuchten  es noch  ein  paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erw

u

rgen, am
Hals, mit eigenen  H

u

nden, oder  ihm Mund oder Nase  zu verstopfen, was eine
sicherere Methode gewesen w

u

re, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn  nicht
ber

u

hren.  Sie ekelten  sich  vor ihm wie vor einer  dicken Spinne,  die man
nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
     Als er gr

u

ßer wurde, gaben sie die Mordanschl

u

ge  auf. Sie hatten
wohl eingesehen,  dass er nicht zu vernichten war. Statt  dessen gingen  sie
ihm aus dem Weg, liefen davon, h

u

teten sich in jedem Fall vor Ber

u

hrung. Sie
hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifers

u

chtig oder futterneidisch auf
ihn.  F

u

r  solche Gef

u

hle h

u

tte es  im  Hause  Gaillard nicht den geringsten
Anlass gegeben. Es st

u

rte sie ganz einfach, dass er  da war. Sie konnten ihn
nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.

     Dabei    besaß     er,    objektiv     gesehen,    gar     nichts
Angsteinfl

u

ßendes.  Er  war,   als  er  heranwuchs,   nicht  besonders
groß,  nicht  stark,  zwar   h

u

ßlich,  aber   nicht   so  extrem
h

u

ßlich,  dass man  vor ihm  h

u

tte  erschrecken m

u

ssen.  Er  war nicht
aggressiv, nicht link, nicht  hinterh

u

ltig, er provozierte  nicht. Er  hielt
sich  lieber  abseits.  Auch  seine  Intelligenz  schien  alles  andere  als
f

u

rchterlich  zu  sein.  Erst mit  drei  Jahren begann er auf zwei Beinen zu
stehen, sein erstes Wort sprach  er mit vier, es war das Wort  "Fische", das
in einem Moment  pl

u

tzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo,  als
von  ferne ein Fischverk

u

ufer  die Rue de Charonne heraufkam und seine  Ware
ausschrie.  Die  n

u

chsten  W

u

rter,  derer  er  sich  ent

u

ußerte, waren
"Pelargonie", "Ziegenstall",  "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres  der
Name eines G

u

rtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der  Filles de la Croix,
der   bei  Madame  Gaillard  gelegentlich  gr

u

bere  und   gr

u

bste   Arbeiten
verrichtete  und  sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein
einziges  Mal gewaschen  hatte.  Mit  den  Zeitw

u

rtern, den  Adjektiven  und
F

u

llw

u

rtern hatte er es weniger.  Bis auf "ja" und "nein" - die  er 

u

brigens
sehr sp

u

t  zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptw

u

rter, ja  eigentlich
nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich,
und  auch  nur  dann, wenn ihn diese  Dinge,  Pflanzen,  Tiere oder Menschen
unversehens geruchlich 

u

berw

u

ltigten.
     In  der M

u

rzsonne auf  einem Stapel  Buchenscheite sitzend,  die in der
W

u

rme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er
hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal geh

u

rt.
Er verstand es  auch, war er doch  im  Winter oft hinausgeschickt worden, um
Holz zu holen. Aber  der  Gegenstand  Holz  war  ihm nie  interessant  genug
vorgekommen,  als  dass  er  sich  die  M

u

he  gegeben  h

u

tte,  seinen  Namen
auszusprechen.  Das  geschah erst an  jenem  M

u

rztag, als er auf  dem Stapel
saß.  Der Stapel war wie eine Bank  an  der S

u

dseite des Schuppens von
Madame  Gaillard  unter  einem 

u

berh

u

ngenden  Dach  aufgeschichtet. Brenzlig
s

u

ß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus  der Tiefe  des
Stapels  herauf, und  von der  Fichtenwand des Schuppens  fiel  in der W

u

rme
br

u

seliger  Harzduft ab. Grenouille saß  mit ausgestreckten Beinen auf
dem Stapel,  den  R

u

cken gegen die Schuppenwand gelehnt,  er hatte die Augen
geschlossen und  r

u

hrte  sich  nicht. Er  sah  nichts,  er  h

u

rte und sp

u

rte
nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und  sich
unter dem  Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank
darin, impr

u

gnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst
Holz,  wie  eine   h

u

lzerne  Puppe,  wie  ein  Pinocchio  lag   er  auf  dem
Holzstoß, wie tot,  bis er,  nach langer Zeit,  vielleicht  nach einer
halben Stunde erst, das  Wort "Holz"  hervorw

u

rgte. Als sei er angef

u

llt mit
Holz bis 

u

ber beide Ohren, als st

u

nde ihm das  Holz schon bis zum Hals,  als
habe er den Bauch, den Schlund, die Nase 

u

bervoll von Holz, so kotzte er das
Wort heraus.  Und  das brachte ihn  zu sich, errettete ihn,  kurz bevor  die

u

berw

u

ltigende  Gegenwart des  Holzes selbst,  sein  Duft, ihn zu  ersticken
drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von  dem Stapel  herunter  und wankte
wie auf h

u

lzernen Beinen davon. Noch Tage sp

u

ter war er  von  dem intensiven
Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte,  wenn  die Erinnerung daran  zu
kr

u

ftig in ihm aufstieg, beschw

u

rend "Holz, Holz" vor sich hin.
     So lernte er  sprechen.  Mit  W

u

rtern, die keinen riechenden Gegenstand
bezeichneten,  mit  abstrakten  Begriffen  also,  vor  allem  ethischer  und
moralischer Natur, hatte er die gr

u

ßten Schwierigkeiten. Er konnte sie
nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern
und  oft  falsch:  Recht,  Gewissen,  Gott,  Freude,  Verantwortung,  Demut,
Dankbarkeit  usw. -  was damit  ausgedr

u

ckt sein sollte, war  und blieb  ihm
schleierhaft.
     Andrerseits   h

u

tte   die   g

u

ngige  Sprache  schon  bald   nicht  mehr
ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe
in sich versammelt hatte. Bald  roch er  nicht mehr bloß Holz, sondern
Holzsorten,  Ahornholz,  Eichenholz,  Kiefernholz,  Ulmenholz, Birnbaumholz,
altes,   junges,  morsches,  modriges,  moosiges  Holz,  ja  sogar  einzelne
Holzscheite,  Holzsplitter  und  Holzbr

u

sel  - und roch sie  als so deutlich
unterschiedene  Gegenst

u

nde,  wie  andre  Leute  sie  nicht mit Augen h

u

tten
unterscheiden k

u

nnen.  

u

hnlich erging es ihm  mit anderen Dingen. Dass jenes
weiße Getr

u

nk, welches Madame Gaillard  allmorgendlich ihren Z

u

glingen
verabreichte,   durchweg  als  Milch  bezeichnet  wurde,  wo  es  doch  nach
Grenouilles  Empfinden  jeden Morgen durchaus anders  roch und schmeckte, je
nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen
hatte, wieviel Rahm  man ihm belassen hatte und so fort...  dass Rauch, dass
ein von  hundert  Einzeld

u

ften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis  sich
wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde  wie der Rauch des
Feuers  nur  eben  jenen  einen  Namen  "Rauch"  besaß...  dass  Erde,
Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und  von Atemzug zu Atemzug von
anderem Geruch erf

u

llt und damit von andrer Identit

u

t beseelt waren, dennoch
nur  mit  jenen  drei plumpen  W

u

rtern bezeichnet sein sollten  - all  diese
grotesken   Missverh

u

ltnisse   zwischen   dem    Reichtum   der   geruchlich
wahrgenommenen  Welt und  der  Armut  der  Sprache,  ließen den Knaben
Grenouille am Sinn der Sprache 

u

berhaupt zweifeln; und  er bequemte  sich zu
ihrem  Gebrauch  nur,  wenn es  der Umgang  mit anderen  Menschen  unbedingt
erforderlich machte.
     Mit  sechs Jahren  hatte  er  seine  Umgebung olfaktorisch  vollst

u

ndig
erfasst. Es gab  im Hause der  Madame  Gaillard keinen  Gegenstand,  in  der
n

u

rdlichen  Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum,
Strauch oder  Lattenzaun,  keinen  noch  so  kleinen Flecken, den  er  nicht
geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der  jeweiligen Einmaligkeit  fest
im   Ged

u

chtnis    verwahrte.   Zehntausend,    hunderttausend   spezifische
Eigenger

u

che  hatte  er  gesammelt und hielt  sie  zu seiner  Verf

u

gung,  so
deutlich, so beliebig, dass er sich  nicht nur ihrer  erinnerte, wenn er sie
wieder roch, sondern dass er sie tats

u

chlich roch, wenn er sich ihrer wieder
erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie
untereinander neu zu  kombinieren  verstand und  dergestalt in  sich Ger

u

che
erschuf,  die es  in  der  wirklichen  Welt  gar  nicht  gab.  Es  war,  als
bes

u

ße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Ger

u

chen, das ihn
bef

u

higte,  eine schier beliebig  große  Menge  neuer  Geruchss

u

tze zu
bilden  und  dies  in  einem  Alter, da andere  Kinder mit  den ihnen m

u

hsam
eingetrichterten  W

u

rtern  die  ersten,  zur  Beschreibung  der  Welt h

u

chst
unzul

u

nglichen  konventionellen  S

u

tze  stammelten.  Am  ehesten  war  seine
Begabung vielleicht  der eines  musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das
den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen T

u

ne abgelauscht hatte
und nun selbst vollkommen neue Melodien und  Harmonien komponierte - mit dem
Unterschied freilich,  dass  das Alphabet der  Ger

u

che ungleich gr

u

ßer
und  differenzierter  war als das der T

u

ne,  und mit dem Unterschied ferner,
dass sich  die sch

u

pferische T

u

tigkeit des Wunderkinds Grenouille allein  in
seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur
von ihm selbst.
     Nach  außen  hin  wurde  er  immer  verschlossener.  Am  liebsten
streifte er  allein  durch  den  n

u

rdlichen  Faubourg  Saint-Antoine,  durch
Gem

u

seg

u

rten, Weinfelder, 

u

ber Wiesen. Manchmal kehrte er abends  nicht nach
Hause  zur

u

ck,  blieb tagelang verschollen. Die f

u

llige  Z

u

chtigung mit  dem
Stock ertrug  er  ohne Schmerzens

u

ußerung.  Hausarrest,  Essensentzug,
Strafarbeit  konnten  sein  Benehmen  nicht 

u

ndern.  Ein  eineinhalbj

u

hriger
sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne
erkennbare  Wirkung. Er lernte ein  bisschen  buchstabieren  und den  eignen
Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn f

u

r schwachsinnig.
     Madame Gaillard hingegen fiel auf,  dass  er  bestimmte F

u

higkeiten und
Eigenheiten  besaß,   die  sehr  ungew

u

hnlich,   um  nicht   zu  sagen

u

bernat

u

rlich waren: So schien ihm die kindliche  Angst  vor der  Dunkelheit
und der  Nacht v

u

llig  fremd  zu sein.  Man  konnte  ihn jederzeit  zu einer
Besorgung  in den Keller  schicken, wohin  sich die  anderen Kinder kaum mit
einer  Lampe  wagten,   oder   hinaus   zum   Schuppen  zum   Holzholen  bei
stockfinsterer Nacht. Und  nie  nahm er ein Licht  mit und  fand  sich  doch
zurecht und  brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun,
ohne  zu stolpern  oder etwas umzustoßen.  Noch  merkw

u

rdiger freilich
erschien  es, dass er,  wie  Madame Gaillard festgestellt zu  haben glaubte,
durch  Papier,   Stoff,   Holz,  ja  sogar  durch  festgemauerte  W

u

nde  und
geschlossene T

u

ren  hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche
Z

u

glinge  sich  im Schlafraum  aufhielten, ohne  ihn  betreten zu haben.  Er
wusste, dass  eine Raupe  im Blumenkohl steckte,  ehe der Kopf zerteilt war.
Und einmal, als  sie ihr Geld so  gut  versteckt  hatte, dass sie  es selbst
nicht mehr wiederfand (sie  

u

nderte ihre  Verstecke),  deutete er, ohne eine
Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war
es! Sogar in die Zukunft konnte  er sehen, indem er n

u

mlich den Besuch einer
Person lange vor ihrem Eintreffen ank

u

ndigte oder  das Nahen eines Gewitters
unfehlbar  vorauszusagen  wusste,  ehe  noch das kleinste W

u

lkchen am Himmel
stand. Dass  er dies alles  freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern
mit seiner immer sch

u

rfer und pr

u

ziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe
im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch W

u

nde hindurch und 

u

ber
eine Entfernung von mehreren Straßenz

u

gen hinweg  - darauf w

u

re Madame
Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken
ihren Olfaktorius unbesch

u

digt gelassen h

u

tte. Sie war davon 

u

berzeugt,  der
Knabe m

u

sse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da
sie  wusste,  dass Zwiegesichtige  Unheil  und  Tod anziehen,  wurde er  ihr
unheimlich.  Noch unheimlicher, geradezu  unertr

u

glich war  ihr der Gedanke,
mit  jemandem unter  einem Dach zu  leben,  der die  Gabe hatte,  sorgf

u

ltig
verstecktes Geld durch W

u

nde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese
entsetzliche F

u

higkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn
loszuwerden,  und  es traf  sich gut,  dass  etwa  um  die  gleiche  Zeit  -
Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine j

u

hrlichen
Zahlungen  ohne Angabe  von Gr

u

nden einstellte.  Madame  mahnte nicht  nach.
Anstandshalber  wartete  sie  noch eine Woche, und als das f

u

llige Geld dann
immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging
mit ihm in die Stadt.
     In der Rue  de  la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber
namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskr

u

ften hatte -
nicht  an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern  an billigen Kulis.
Es  gab  n

u

mlich  in dem  Gewerbe  Arbeiten -  das  Entfleischen verwesender
Tierh

u

ute,  das Mischen von giftigen Gerb- und  F

u

rbebr

u

hen,  das Ausbringen

u

tzender   Lohen   -,   die    so   lebensgef

u

hrlich   waren,    dass    ein
verantwortungsbewusster  Meister  nach  M

u

glichkeit  nicht  seine  gelernten
Hilfskr

u

fte daf

u

r verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber
oder  eben  herrenlose  Kinder,  nach  denen  im Zweifelsfalle  niemand mehr
fragte.  Nat

u

rlich  wusste  Madame  Gaillard,  dass  Grenouille  in  Grimals
Gerberwerkstatt   nach    menschlichem   Ermessen   keine   

u

berlebenschance
besaß. Aber sie war nicht die  Frau, sich dar

u

ber  Gedanken zu machen.
Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverh

u

ltnis war  beendet.  Was mit
dem  Z

u

gling  weiterhin geschah, ging  sie  nichts an. Wenn er durchkam,  so
war's gut,  wenn  er  starb,  so war's  auch gut  - Hauptsache,  alles  ging
rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die 

u

bergabe des
Knaben schriftlich best

u

tigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von f

u

nfzehn
Franc  Provision und machte  sich  wieder auf  nach  Hause  in  die  Rue  de
Charonne.  Sie  versp

u

rte  nicht  den  geringsten  Anflug  eines  schlechten
Gewissens.  Im  Gegenteil  glaubte  sie,  nicht  nur  rechtens, sondern auch
gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, f

u

r  das niemand
zahlte, w

u

re ja notwendigerweise  zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder
sogar zu ihren eigenen Lasten und h

u

tte  wom

u

glich die Zukunft  der  anderen
Kinder  gef

u

hrdet oder  sogar ihre  eigene Zukunft, das heisst ihren eignen,
abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch
w

u

nschte.
     Da  wir Madame Gaillard an  dieser Stelle  der Geschichte verlassen und
ihr auch  sp

u

ter nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen  wir  in ein  paar
S

u

tzen  das  Ende ihrer  Tage  schildern.  Madame,  obwohl  als  Kind  schon
innerlich gestorben,  wurde zu ihrem Ungl

u

ck sehr, sehr alt. Anno 1782,  mit
fast siebzig Jahren, gab  sie ihr Gewerbe auf, kaufte  sich wie vorgehabt in
eine Rente ein, saß in ihrem H

u

uschen und wartete auf den Tod. Der Tod
aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt h

u

tte
rechnen k

u

nnen und  was  es im Lande noch nie  gegeben  hatte, n

u

mlich  eine
Revolution,    das    heisst     eine    rasante    Umwandlung    s

u

mtlicher
gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verh

u

ltnisse.  Zun

u

chst
hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards  pers

u

nliches
Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig  - hieß  es  mit einem
Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren m

u

ssen, sei  enteignet und sein  Besitz
an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so
aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen  f

u

r Madame
Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin p

u

nktlich die Rente. Aber
dann  kam der Tag,  da  sie  ihr Geld nicht mehr in harter M

u

nze, sondern in
Form von kleinen bedruckten Papierbl

u

ttchen erhielt, und das war der  Anfang
ihres materiellen Endes.
     Nach Verlauf von zwei  Jahren reichte die Rente  nicht einmal mehr aus,
das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen,
zu l

u

cherlich geringem Preis, denn es gab pl

u

tzlich außer ihr Tausende
von anderen  Leuten, die  ihr Haus  ebenfalls  verkaufen mussten. Und wieder
bekam  sie als  Gegenwert nur  diese bl

u

den Bl

u

ttchen, und wieder waren  sie
nach zwei Jahren so gut wie  nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie  ging
nun auf  die  Neunzig zu  - hatte sie ihr gesamtes, in m

u

hevoller  s

u

kularer
Arbeit zusammengescharrtes  Verm

u

gen verloren und  hauste in einer  winzigen
m

u

blierten  Kammer  in der Rue  des Coquilles. Und nun  erst, mit zehn-, mit
zwanzigj

u

hriger  Versp

u

tung,  kam  der Tod herbei  und kam in  Gestalt einer
langwierigen  Geschwulstkrankheit, die  Madame an der  Kehle packte  und ihr
erst  den  Appetit und dann die Stimme raubte, so dass  sie  mit keinem Wort
Einspruch erheben  konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde.  Dort
brachte  man  sie  in  den   gleichen,  von  Hunderten  todkranker  Menschen
bev

u

lkerten Saal, in dem  schon ihr Mann  gestorben  war, steckte sie in ein
Gemeinschaftsbett  zu f

u

nf  anderen  alten  wildfremden Weibern, k

u

rperdicht
Leib  an Leib  lagen sie, und ließ sie dort drei  Wochen lang in aller

u

ffentlichkeit sterben. Dann  wurde sie  in einen  Sack gen

u

ht, um  vier Uhr
fr

u

h nebst f

u

nfzig anderen  Leichen auf einen Transportkarren  geworfen  und
unter dem d

u

nnen  Gebimmel eines Gl

u

ckchens  zum neubegr

u

ndeten Friedhof von
Clamart, eine Meile  vor  den  Toren  der Stadt, gefahren und dort in  einem
Massengrab  zur  letzten  Ruhe  gebettet, unter  einer  dicken  Schicht  von
ungel

u

schtem Kalk.
     Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr
bevorstehenden  Schicksal, als sie an jenem Tag des  Jahres 1747  nach Hause
ging  und den  Knaben Grenouille und  unsere  Geschichte verließ.  Sie
h

u

tte wom

u

glich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den
einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.

     Mit dem ersten Blick, den  er auf Monsieur Grimal  geworfen - nein, mit
dem  ersten witternden Atemzug, den er  von Grimals  Geruchsaura  eingesogen
hatte,  wusste  Grenouille,  dass  dieser  Mann  imstande war, ihn  bei  der
geringsten Unbotm

u

ßigkeit zu  Tode zu pr

u

geln. Sein Leben  galt gerade
noch so viel  wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch
aus  der  N

u

tzlichkeit,  die  Grimal   ihm  beimaß.   Und  so  kuschte
Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den  Versuch  einer Auflehnung zu
machen.  Von einem  Tag  zum 

u

ndern verkapselte er  wieder die ganze Energie
seines Trotzes und  seiner Widerborstigkeit in  sich  selbst, verwendete sie
allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu

u

berdauern:  z

u

h,  gen

u

gsam, unauff

u

llig,  das Licht der  Lebenshoffnung auf
kleinster, aber  wohlbeh

u

teter  Flamme  haltend.  Er  war nun ein Muster  an
F

u

gsamkeit, Anspruchslosigkeit  und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm
mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav  in  einen seitlich
an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Ger

u

tschaften aufbewahrt
wurden und eingesalzne Rohh

u

ute  hingen.  Hier schlief  er  auf  dem blanken
gestampften Erdboden. Tags

u

ber arbeitete  er, solange es hell war, im Winter
acht,  im  Sommer vierzehn, f

u

nfzehn,  sechzehn  Stunden:  entfleischte  die
bestialisch  stinkenden  H

u

ute,  w

u

sserte, enthaarte, kalkte,  

u

tzte, walkte
sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben,
stieg   hinab  in  die   von  beißendem   Dunst  erf

u

llten  Lohgruben,
schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, H

u

ute und Rinden 

u

bereinander,
streute   zerquetschte   Gall

u

pfel   aus,   

u

berdeckte   den   entsetzlichen
Scheiterhaufen mit  Eibenzweigen und Erde. Jahre sp

u

ter  musste er ihn  dann
wieder ausbuddeln  und die zu  gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus
ihrem Grab  holen. Wenn er nicht H

u

ute ein- oder  ausgrub, dann schleppte er
Wasser.  Monatelang schleppte  er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer,
Hunderte  von  Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser
zum Waschen, zum Weichen, zum Br

u

hen, zum F

u

rben. Monatelang hatte er  keine
trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die
Kleider von  Wasser, und  seine  Haut  war kalt, weich und aufgeschwemmt wie
Waschleder.
     Nach einem Jahr dieser mehr tierischen  als menschlichen Existenz bekam
er  den  Milzbrand,  eine  gef

u

rchtete  Gerberkrankheit,  die  

u

blicherweise
t

u

dlich  verl

u

uft. Grimal hatte ihn  schon  abgeschrieben und  sah sich nach
Ersatz um  -  nicht  ohne  Bedauern  

u

brigens,  denn einen gen

u

gsameren  und
leistungsf

u

higeren Arbeiter als diesen Grenouille  hatte er noch nie gehabt.
Entgegen aller  Erwartung jedoch  

u

berstand  Grenouille die  Krankheit.  Ihm
blieben  nur  die  Narben der  großen schwarzen Karbunkel  hinter  den
Ohren,  am  Hals  und   an   den  Wangen,  die  ihn   entstellten  und  noch
h

u

ßlicher  machten,  als er  ohnehin  schon war.  Ihm  blieb  ferner -
unsch

u

tzbarer Vorteil - eine Resistenz  gegen den Milzbrand, so  dass er von
nun an  sogar  mit rissigen  und blutigen  H

u

nden  die  schlechtesten  H

u

ute
entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch
unterschied er sich nicht nur von  den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch
von seinen eigenen potentiellen  Nachfolgern. Und weil er  nun nicht mehr so
leicht  zu ersetzen war wie ehedem,  stieg der  Wert seiner Arbeit und damit
der Wert seines Lebens. Pl

u

tzlich musste er nicht mehr auf der  nackten Erde
schlafen, sondern  durfte sich im  Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh
daraufgesch

u

ttet und eine eigene Decke. Zum  Schlafen  sperrte man ihn nicht
mehr  ein. Das  Essen war  ausk

u

mmlicher. Grimal  hielt ihn  nicht  mehr wie
irgendein Tier, sondern wie ein n

u

tzliches Haustier.
     Als er zw

u

lf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und
mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde
lang weggehen und  tun, was er  wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und
er besaß  ein Quantum von Freiheit, das gen

u

gte, um weiterzuleben. Die
Zeit des 

u

berwinterns  war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er
witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das gr

u

ßte Geruchsrevier
der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.

     Es war  wie im  Schlaraffenland. Allein die  nahegelegenen Viertel  von
Saint-Jacques-de-la-Boucherie    und   von    Saint-Eustache    waren    ein
Schlaraffenland.  In  den  Gassen  seitab  der Rue Saint-Denis  und  der Rue
Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, dr

u

ngte sich  Haus so
eng an Haus, f

u

nf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah  und
die Luft unten am  Boden  wie in  feuchten  Kan

u

len  stand und  vor Ger

u

chen
starrte. Es mischten sich  Menschen-  und Tierger

u

che, Dunst  von  Essen und
Krankheit, von  Wasser  und  Stein  und  Asche  und  Leder,  von  Seife  und
frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und
blankgescheuertem Messing, von  Salbei  und  Bier  und Tr

u

nen, von  Fett und
nassem und trockenem  Stroh. Tausende und Abertausende von Ger

u

chen bildeten
einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten  der  Gassen anf

u

llte, sich 

u

ber
den D

u

chern nur selten, unten  am Boden niemals verfl

u

chtigte. Die Menschen,
die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus
ihnen entstanden und  hatte sie wieder und wieder durchtr

u

nkt, er war ja die
Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine  langgetragene
warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut sp

u

rt.
Grenouille aber roch alles  wie zum  ersten  Mal. Und er roch nicht nur  die
Gesamtheit dieses Duftgemenges,  sondern er  spaltete es  analytisch  auf in
seine  kleinsten und  entferntesten Teile  und  Teilchen. Seine  feine  Nase
entwirrte  das  Kn

u

uel   aus  Dunst  und  Gestank  zu  einzelnen  F

u

den  von
Grundger

u

chen,  die  nicht  mehr  weiter  zerlegbar  waren.  Es  machte  ihm
uns

u

gliches Vergn

u

gen, diese F

u

den aufzudr

u

seln und aufzuspinnen.
     Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke
gedr

u

ngt,   mit  geschlossenen  Augen,  halbge

u

ffnetem  Mund  und  gebl

u

hten
N

u

stern, still wie  ein  Raubfisch  in einem großen,  dunklen, langsam
fließenden  Wasser. Und wenn endlich ein  Lufthauch ihm das Ende eines
zarten  Duftfadens  zuspielte, dann stieß  er zu und ließ  nicht
mehr los, dann roch er nichts mehr  als diesen einen Geruch, hielt ihn fest,
zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich f

u

r alle Zeit. Es mochte ein
altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte  aber auch ein
ganz  neuer  sein,  einer,  der kaum oder gar  keine 

u

hnlichkeit  mit  allem
besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige  denn gesehen hatte:  der
Geruch von geb

u

gelter  Seide  etwa;  der Geruch eines Tees von  Quendel, der
Geruch  eines St

u

cks silberbestickten  Brokats, der Geruch eines Korkens aus
einer  Flasche  mit seltenem Wein, der  Geruch eines Schildpattkamms. Hinter
solchen ihm noch unbekannten Ger

u

chen war  Grenouille  her, sie jagte er mit
der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
     Wenn er sich am dicken Brei  der Gassen sattgerochen hatte,  ging er in
luftigeres Gel

u

nde, wo die  Ger

u

che d

u

nner waren, sich mit Wind  vermischten
und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den  Platz der Hallen etwa,  wo in
den Ger

u

chen abends noch  der  Tag fortlebte, unsichtbar,  aber so deutlich,
als  wuselten  da noch  im  Gedr

u

nge  die  H

u

ndler, als st

u

nden da  noch die
vollgepackten  K

u

rbe  mit Gem

u

se und Eiern, die F

u

sser voll Wein und  Essig,
die S

u

cke  mit Gew

u

rzen und  Kartoffeln und Mehl, die  K

u

sten mit N

u

geln und
Schrauben,  die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen  und Geschirr und
Schuhsohlen  und all  den hundert 

u

ndern  Dingen, die dort tags

u

ber verkauft
wurden... das ganze Getriebe war  bis in die kleinste Einzelheit  pr

u

sent in
der  Luft,  die  es  hinterlassen  hatte.  Grenouille sah  den ganzen  Markt
riechend, wenn man so sagen kann. Und  er  roch ihn genauer, als mancher ihn
sehen  k

u

nnte, denn er  nahm  ihn im nachhinein wahr und  deshalb auf h

u

here
Weise: als  Essenz, als  den Geist von  etwas Gewesenem, der nicht durch die

u

blichen  Attribute der  Gegenwart  gest

u

rt war,  alsda  sind  der L

u

rm, das
Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
     Oder er ging dorthin,  wo man seine Mutter gek

u

pft hatte,  zur Place de
Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen,
ans Ufer gezogen oder an Pfosten vert

u

ut, die  Schiffe und rochen nach Kohle
und Korn und Heu und feuchten Tauen.
     Und  von  Westen  her kam durch diese  einzige Schneise, die der  Fluss
durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte  Ger

u

che vom Land
her, von den Wiesen bei Neuilly, von  den W

u

ldern zwischen Saint-Germain und
Versailles,  von  weit entfernt gelegenen  St

u

dten wie Rouen oder  Caen  und
manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebl

u

htes Segel,  in dem sich
Wasser, Salz  und eine  kalte  Sonne  fingen. Es roch simpel, das Meer, aber
zugleich  roch  es groß und  einzigartig, so dass  Grenouille z

u

gerte,
seinen Geruch  aufzuspalten in  das Fischige, das Salzige, das W

u

ssrige, das
Tangige,  das Frische und so weiter. Er  ließ den  Geruch  des  Meeres
lieber  beisammen, verwahrte  ihn als  ganzes im Ged

u

chtnis und  genoss  ihn
ungeteilt. Der  Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er  sich w

u

nschte,
ihn einmal  rein und unvermischt und in solchen Mengen zu  bekommen, dass er
sich dran besaufen  k

u

nnte. Und sp

u

ter,  als er  aus Erz

u

hlungen erfuhr, wie
groß das Meer sei  und dass  man  darauf  tagelang mit Schiffen fahren
konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er
s

u

ße auf so einem Schiff, hoch oben  im Korb auf dem vordersten  Mast,
und fl

u

ge dahin  durch den unendlichen Geruch  des Meeres, der ja eigentlich
gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Ger

u

che,
und  l

u

se sich  auf vor  Vergn

u

gen in  diesem Atem. Aber dahin sollte es nie
kommen, denn Grenouille,  der  an  der Place  de  Greve  am  Ufer  stand und
mehrmals einen  kleinen Fetzen Meerwind,  den er in die Nase bekommen hatte,
aus- und einatmete, sollte das Meer,  das eigentliche Meer, den großen
Ozean, der  im Westen  lag, in seinem  Leben niemals sehen  und sich nie mit
diesem Geruch vermischen d

u

rfen.
     Das  Viertel zwischen Saint-Eustache  und  dem Hotel de  Ville hatte er
bald  so  genau  durchrochen, dass  er sich darin bei  stockfinsterer  Nacht
zurechtfand. Und  so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zun

u

chst nach Westen hin
zum  Faubourg  Saint-Honore,  dann  die Rue  Saint-Antoine  hinauf  bis  zur
Bastille,  und schließlich  sogar auf die  andere  Seite  des  Flusses
hin

u

ber in  das  Sorbonneviertel und in den Faubourg  Saint-Germain, wo  die
reichen Leute wohnten. Durch  die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach
Kutschenleder  und nach dem Puder in den  Per

u

cken  der  Pagen, und 

u

ber die
hohen Mauern  hinweg  strich aus  den G

u

rten der  Duft  des Ginsters und der
Rosen  und  der  frisch  geschnittenen  Liguster.  Hier  war  es  auch, dass
Grenouille  zum ersten Mal Parfums  im  eigentlichen  Sinn des  Wortes roch:
einfache Lavendel-  oder  Rosenw

u

sser, mit denen bei festlichen Anl

u

ssen die
Springbrunnen der G

u

rten gespeist wurden, aber  auch  komplexere, kostbarere
D

u

fte  von Moschustinktur  gemischt mit  dem  

u

l  von Neroli  und  Tuberose,
Joncquille,  Jasmin oder Zimt, die abends wie ein  schweres Band  hinter den
Equipagen  herwehten. Er registrierte diese  D

u

fte, wie  er  profane Ger

u

che
registrierte, mit Neugier, aber ohne  besondere Bewunderung. Zwar merkte er,
dass  es  die Absicht  der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken,
und er erkannte die G

u

te  der einzelnen Essenzen,  aus denen  sie bestanden.
Aber  als  ganzes  erschienen  sie  ihm  doch  eher  grob  und  plump,  mehr
zusammengepanscht  als  komponiert,  und  er  wusste,  dass er  ganz  andere
Wohlger

u

che  w

u

rde  herstellen  k

u

nnen,  wenn  er  nur  

u

ber   die  gleichen
Grundstoffe verf

u

gte.
     Viele  dieser   Grundstoffe  kannte  er  schon  von  den  Blumen-   und
Gew

u

rzst

u

nden des Marktes her; andere  waren ihm neu,  und diese filterte er
aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Ged

u

chtnis: Amber,
Zibet,  Patschuli,   Sandelholz,  Bergamotte,  Vetiver,  Opoponax,   Benzoe,
Hopfenbl

u

te, Bibergeil...
     W

u

hlerisch ging  er nicht  vor. Zwischen dem, was  landl

u

ufig als guter
oder schlechter Geruch bezeichnet  wurde, unterschied  er nicht, noch nicht.
Er war  gierig. Das Ziel  seiner Jagden bestand darin, schlichtweg  alles zu
besitzen,  was  die  Welt  an Ger

u

chen  zu  bieten  hatte, und  die  einzige
Bedingung war, dass die Ger

u

che neu seien. Der Duft eines schweißenden
Pferds   galt  ihm  ebensoviel  wie  der  zarte  gr

u

ne  Geruch  schwellender
Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der  Dunst
von gespicktem  Kalbsbraten, der  aus den  Herrschaftsk

u

chen  quoll.  Alles,
alles  fraß  er,   saugte   er  in   sich  hinein.  Und  auch  in  der
synthetisierenden  Geruchsk

u

che  seiner Phantasie, in  der  er st

u

ndig  neue
Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein 

u

sthetisches Prinzip.
Es  waren Bizarrerien, die  er schuf und alsbald wieder  zerst

u

rte  wie  ein
Kind,  das  mit Baukl

u

tzen  spielt,  erfindungsreich  und  destruktiv,  ohne
erkennbares sch

u

pferisches Prinzip.

     Am 1. September 1753,  dem  Jahrestag  der  Thronbesteigung des K

u

nigs,
ließ die Stadt  Paris am Pont  Royal ein  Feuerwerk  abbrennen. Es war
nicht  so  spektakul

u

r wie das Feuerwerk zur  Feier  der  Verehelichung  des
K

u

nigs oder wie jenes legend

u

re Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin,
aber  es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte  goldene
Sonnenr

u

der auf die  Masten  der Schiffe  montiert. Von  der  Br

u

cke  spieen
sogenannte  Feuerstiere  einen  brennenden  Sternenregen  in den Fluss.  Und
w

u

hrend all

u

berall unter bet

u

ubendem L

u

rm Petarden platzten und Knallfr

u

sche

u

ber  das Pflaster  zuckten,  stiegen  Raketen  in  den  Himmel  und  malten
weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendk

u

pfige Menge,
welche  sowohl  auf  der Br

u

cke als auch auf den Quais zu beiden Seiten  des
Flusses versammelt  war, begleitete  das Spektakel mit begeisterten  Ahs und
Ohs  und  Bravos und sogar mit  Vivats - obwohl der K

u

nig seinen Thron schon
vor  achtunddreißig  Jahren   bestiegen   und  den  H

u

hepunkt   seiner
Beliebtheit l

u

ngst 

u

berschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
     Grenouille stand stumm im  Schatten des Pavillon  de Flore, am  rechten
Ufer, dem Pont Royal gegen

u

ber. Er r

u

hrte keine Hand zum Beifall, er schaute
nicht  einmal hin, wenn die  Raketen  aufstiegen.  Er war gekommen,  weil er
glaubte,  irgend etwas Neues  erschnuppern  zu  k

u

nnen, aber es stellte sich
bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in
verschwenderischer  Vielfalt funkelte  und  spr

u

hte und  krachte und  pfiff,
hinterließ  ein  h

u

chst  eint

u

niges Duftgemisch  von  Schwefel, 

u

l und
Salpeter.
     Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um
an der Galerie des Louvre entlang heimw

u

rts zu gehen, als ihm der Wind etwas
zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Br

u

selchen, ein Duftatom, nein,
noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tats

u

chlichen Duft - und
zugleich  doch die sichere  Ahnung  von etwas Niegerochenem.  Er trat wieder
zur

u

ck an die Mauer, schloss  die Augen und bl

u

hte die N

u

stern. Der Duft war
so  ausnehmend  zart und  fein,  dass er ihn nicht festhalten konnte,  immer
wieder entzog  er sich  der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom  Pulverdampf der
Petarden, blockiert von den  Ausd

u

nstungen  der Menschenmassen,  zerst

u

ckelt
und  zerrieben  von  den  tausend  andren  Ger

u

chen der  Stadt.  Aber  dann,
pl

u

tzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang
als herrliche  Andeutung zu riechen...  und  verschwand  alsbald. Grenouille
litt Qualen. Zum ersten  Mal war es nicht nur sein  gieriger Charakter,  dem
eine  Kr

u

nkung  widerfuhr,  sondern  tats

u

chlich sein  Herz,  das  litt. Ihm
schwante  sonderbar, dieser Duft sei der Schl

u

ssel zur Ordnung aller anderen
D

u

fte,  man habe nichts  von den D

u

ften verstanden,  wenn  man  diesen einen
nicht verstand, und er Grenouille, h

u

tte sein Leben verpfuscht, wenn es  ihm
nicht gel

u

nge, diesen einen  zu  besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des
schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
     Ihm  wurde  fast  schlecht  vor Aufregung.  Er hatte noch nicht  einmal
herausbekommen,  aus  welcher  Richtung  der  Duft  

u

berhaupt kam.  Manchmal
dauerten  die Intervalle,  ehe  ihm  wieder  ein  Fetzchen  zugeweht  wurde,
minutenlang, und jedesmal 

u

berfiel  ihn die gr

u

ßliche  Angst, er h

u

tte
ihn  auf  immer  verloren. Endlich  rettete  er  sich in  den  verzweifelten
Glauben,  der  Duft  komme  vom  anderen Ufer des  Flusses, irgendwoher  aus
s

u

d

u

stlicher Richtung.
     Er l

u

ste sich  von  der Mauer des Pavillon  de  Flore,  tauchte  in die
Menschenmenge ein  und  bahnte sich seinen  Weg 

u

ber  die Br

u

cke. Alle  paar
Schritte blieb  er  stehen,  stellte sich auf die Zehenspitzen,  um 

u

ber die
K

u

pfe  der  Menschen  hinwegzuschnuppern,  roch  zun

u

chst nichts vor  lauter
Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, st

u

rker
sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen F

u

hrte, tauchte unter, w

u

hlte
sich  weiter  durch  die  Menge der Gaffer und  der  Feuerwerker,  die  alle
Augenblicke  ihre Fackeln  an die  Lunten  der  Raketen  hielten,  verlor im
beißenden Qualm  des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß
und  rempelte  weiter und w

u

hlte sich fort, erreichte nach  endlosen Minuten
das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einm

u

ndung der
Rue de Seine...
     Hier  blieb er stehen, sammelte sich und roch.  Er  hatte ihn. Er hielt
ihn  fest.  Wie  ein  Band  kam  der Geruch die  Rue de  Seine herabgezogen,
unverwechselbar  deutlich,  dennoch  weiterhin  sehr  zart  und  sehr  fein.
Grenouille  sp

u

rte, wie sein Herz pochte, und  er  wusste, dass es nicht die
Anstrengung  des Laufens war,  die  es pochen machte, sondern seine  erregte
Hilflosigkeit  vor der  Gegenwart  dieses  Geruches.  Er versuchte,  sich an
irgend  etwas   Vergleichbares   zu  erinnern  und  musste  alle  Vergleiche
verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische;  aber nicht die Frische der Limetten
oder  Pomeranzen,  nicht   die  Frische  von  Myrrhe   oder  Zimtblatt  oder
Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht  von Mairegen
oder  Frostwind oder von  Quellwasser..., und er hatte zugleich W

u

rme;  aber
nicht wie Bergamotte, Zypresse oder  Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse,
nicht wie Rosenholz  und nicht wie Iris... Dieser  Geruch war eine  Mischung
aus beidem, aus Fl

u

chtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit,
und dazu gering und schwach  und  dennoch solid  und tragend, wie ein  St

u

ck
d

u

nner  schillernder Seide... und  auch wieder nicht wie  Seide, sondern wie
honigs

u

ße Milch, in der sich Biskuit l

u

st -  was  j  a nun beim besten
Willen  nicht zusammenging:  Milch  und  Seide!  Unbegreiflich  dieser Duft,
unbeschreiblich,  in keiner Weise einzuordnen, es  durfte ihn eigentlich gar
nicht  geben.  Und doch  war er  da  in herrlichster Selbstverst

u

ndlichkeit.
Grenouille  folgte ihm,  mit b

u

nglich pochendem Herzen, denn  er ahnte, dass
nicht er  dem Duft folgte, sondern dass der  Duft ihn gefangengenommen hatte
und nun unwiderstehlich zu sich zog.
     Er ging die  Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die
H

u

user  standen  leer  und still.  Die  Leute  waren  unten  am  Fluss  beim
Feuerwerk.  Kein  hektischer  Menschengeruch  st

u

rte,  kein  beißender
Pulvergestank. Die Straße duftete nach den 

u

blichen D

u

ften von Wasser,
Kot, Ratten  und  Gem

u

seabfall.  Dar

u

ber aber schwebte zart und deutlich das
Band,  das  Grenouille  leitete.  Nach  wenigen  Schritten  war  das  wenige
Nachtlicht  des  Himmels von den hohen  H

u

usern verschluckt,  und Grenouille
ging weiter im Dunkeln. Er  brauchte nichts zu sehen. Der  Geruch f

u

hrte ihn
sicher.
     Nach f

u

nfzig  Metern bog er  rechts  ab in  die  Rue  des Marais,  eine
wom

u

glich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite  Gasse. Sonderbarerweise
wurde der Duft nicht  sehr viel  st

u

rker. Er wurde nur reiner,  und dadurch,
durch  seine  immer gr

u

ßer  werdende Reinheit,  bekam  er  eine  immer
m

u

chtigere  Anziehungskraft. Grenouille ging ohne  eigenen  Willen. An einer
Stelle zog ihn der Geruch  hart nach  rechts,  scheinbar mitten in die Mauer
eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang  tat  sich auf, der in den Hinterhof
f

u

hrte.  Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen  Gang, durchschritt
den Hinterhof,  bog um  eine  Ecke,  gelangte  in  einen zweiten,  kleineren
Hinterhof,  und  hier nun  endlich war Licht: Der Platz umfasste  nur wenige
Schritte im Geviert. An der  Mauer sprang  ein  schr

u

ges  Holzdach  vor. Auf
einem Tisch darunter  klebte  eine  Kerze. Ein  M

u

dchen  saß an diesem
Tisch und putzte  Mirabellen. Sie nahm die Fr

u

chte aus  einem Korb zu  ihrer
Linken,  entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in
einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille
blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war,  den  er 

u

ber
eine halbe Meile hinweg bis  ans  andere  Ufer  des Flusses  gerochen hatte:
nicht dieser schmuddelige  Hinterhof, nicht die  Mirabellen.  Die Quelle war
das M

u

dchen.
     F

u

r  einen Moment  war er  so verwirrt, dass er tats

u

chlich dachte,  er
habe in seinem Leben noch nie etwas so Sch

u

nes gesehen  wie dieses  M

u

dchen.
Dabei  sah  er  nur ihre Silhouette von  hinten gegen  die Kerze.  Er meinte
nat

u

rlich,  er  habe noch  nie  so  etwas Sch

u

nes gerochen. Aber  da er doch
Menschenger

u

che   kannte,  viele  Tausende,  Ger

u

che  von  M

u

nnern,  Frauen,
Kindern,  wollte  er  nicht begreifen,  dass  ein  so  exquisiter Duft einem
Menschen entstr

u

men konnte. 

u

blicherweise rochen  Menschen nichtssagend oder
miserabel. Kinder rochen fad, M

u

nner urin

u

s, nach scharfem Schweiß und
K

u

se,   Frauen  nach   ranzigem  Fett   und  verderbendem   Fisch.  Durchaus
uninteressant, abstoßend rochen  die  Menschen... Und so  geschah  es,
dass Grenouille zum ersten Mal in seinem  Leben seiner Nase nicht traute und
die   Augen  zuhilfe  nehmen  musste,  um  zu  glauben,  was  er  roch.  Die
Sinnesverwirrung  dauerte  freilich nicht lange. Es  war tats

u

chlich nur ein
Augenblick,  den er ben

u

tigte,  um  sich  optisch zu  vergewissern und  sich
alsdann   desto   r

u

ckhaltloser  den   Wahrnehmungen   seines   Geruchssinns
hinzugeben. Nun 
roch
  er, dass sie  ein  Mensch war, roch  den Schweiß
ihrer Achseln, das  Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und
roch mit gr

u

ßtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie
Meerwind, der Talg ihrer Haare  so  s

u

ß wie Nuss

u

l, ihr Geschlecht wie
ein  Bouquet  von  Wasserlilien,  die Haut wie  Aprikosenbl

u

te...,  und  die
Verbindung  all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert,
so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles,
was er  selbst in seinem Innern an  Geruchsgeb

u

uden  spielerisch  erschaffen
hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend  D

u

fte
schienen  nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das h

u

here
Prinzip, nach  dessen Vorbild  sich die 

u

ndern ordnen  mussten.  Er war  die
reine Sch

u

nheit.
     F

u

r  Grenouille stand fest, dass ohne den  Besitz des Duftes sein Leben
keinen  Sinn mehr hatte.  Bis in die kleinste Einzelheit,  bis in die letzte
zarteste Ver

u

stelung  musste  er  ihn kennenlernen; die bloße komplexe
Erinnerung  an ihn  gen

u

gte nicht. Er wollte wie mit einem  Pr

u

gestempel das
apotheotische Parfum  ins  Kuddelmuddel seiner schwarzen  Seele pressen,  es
haargenau erforschen  und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser
Zauberformel denken, leben, riechen.
     Er ging langsam auf das M

u

dchen zu, immer n

u

her, trat unter das Vordach
und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie h

u

rte ihn nicht.
     Sie hatte rote Haare  und trug ein graues Kleid ohne 

u

rmel.  Ihre  Arme
waren  sehr  weiß und ihre H

u

nde gelb  vom Saft  der  aufgeschnittenen
Mirabellen. Grenouille stand  

u

ber  sie  gebeugt  und  sog  ihren Duft jetzt
v

u

llig unvermischt ein, so wie er aufstieg  von ihrem Nacken, ihren  Haaren,
aus  dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in  sich hineinstr

u

men
wie einen sanften Wind. Ihm  war noch nie so wohl gewesen. Dem M

u

dchen  aber
wurde es k

u

hl.
     Sie  sah  Grenouille  nicht. Aber  sie  bekam  ein  banges Gef

u

hl,  ein
sonderbares Fr

u

steln,  wie man es bekommt, wenn  einen pl

u

tzlich  eine  alte
abgelegte  Angst bef

u

llt.  Ihr war, als  herrsche da ein kalter Zug in ihrem
R

u

cken,  als  habe  jemand  eine   T

u

re  aufgestoßen,   die  in  einen
riesengroßen kalten Keller f

u

hrt. Und sie  legte ihr K

u

chenmesser weg,
zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
     Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte,
ihr seine  H

u

nde um den Hals zu legen. Sie  versuchte keinen  Schrei, r

u

hrte
sich nicht, tat keine abwehrende  Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an.
Ihr  feines  sommersprossen

u

bersprenkeltes  Gesicht,  den  roten  Mund,  die
großen  funkelnd gr

u

nen Augen sah  er nicht, denn er hielt seine Augen
fest geschlossen, w

u

hrend er sie w

u

rgte, und  hatte nur die eine Sorge,  von
ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
     Als  sie  tot  war,  legte  er  sie   auf  den  Boden  mitten  in   die
Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und  der Duftstrom wurde zur Flut,  sie

u

berschwemmte  ihn  mit  ihrem  Wohlgeruch. Er st

u

rzte sein Gesicht auf ihre
Haut und fuhr mit weitgebl

u

hten N

u

stern von  ihrem Bauch zurBrust, zum Hals,
in ihr  Gesicht  und durch die  Haare und  zur

u

ck zum  Bauch,  hinab an  ihr
Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom
Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im
Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
     Als  er sie welkgerochen  hatte,  blieb  er noch eine  Weile  neben ihr
hocken, um sich zu versammeln, denn  er  war 

u

bervoll  von  ihr.  Er  wollte
nichts von  ihrem Duft versch

u

tten. Erst musste er die innern Schotten dicht
verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese
Zeit  kamen die ersten  Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue  de Seine
herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits
Augustins  hin

u

ber, die parallel zur Rue  de  Seine  zum Fluss f

u

hrte. Wenig
sp

u

ter  entdeckte  man   die  Tote.  Geschrei  erhob  sich.  Fackeln  wurden
angez

u

ndet. Die Wache kam. Grenouille war l

u

ngst am anderen Ufer.
     In dieser Nacht erschien  ihm sein Verschlag wie  ein  Palast und seine
Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gl

u

ck sei, hatte er in  seinem Leben
bisher  nicht  erfahren.  Er  kannte  allenfalls  sehr seltene Zust

u

nde  von
dumpfer  Zufriedenheit.  Jetzt aber zitterte  er vor  Gl

u

ck und  konnte  vor
lauter  Gl

u

ckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als w

u

rde er zum zweiten Mal
geboren, nein, nic  ht zum zweiten,  zum ersten  Mal,  denn bisher hatte  er
bloß animalisch existiert in  h

u

chst nebul

u

ser Kenntnis seiner selbst.
Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er  endlich, wer er wirklich
sei: n

u

mlich nichts anderes als  ein  Genie; und dass  sein  Leben Sinn  und
Zweck und Ziel und h

u

here Bestimmung habe:  n

u

mlich keine geringere, als die
Welt der D

u

fte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle
Mittel besitze:  n

u

mlich seine exquisite Nase, sein ph

u

nomenales  Ged

u

chtnis
und, als Wichtigstes  von allem, den  pr

u

genden Duft dieses M

u

dchens aus der
Rue des  Marais, in  welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen
großen  Duft,  was  ein  Parfum  ausmachte:  Zartheit,  Kraft,  Dauer,
Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Sch

u

nheit. Er hatte den Kompass
f

u

r sein  k

u

nftiges Leben  gefunden. Und wie  alle genialen Scheusale, denen
durch ein 

u

ußeres Ereignis ein gerades Geleis  ins Spiralenchaos ihrer
Seelen  gelegt  wird,  wich Grenouille von  dem, was  er als Richtung seines
Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht  mehr ab.  Jetzt  wurde ihm klar,
weshalb er so z

u

h und verbissen  am  Leben hing: Er musste ein  Sch

u

pfer von
D

u

ften sein. Und nicht nur  irgendeiner.  Sondern der gr

u

ßte Parfumeur
aller Zeiten.
     Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum,
das  riesige  Tr

u

mmerfeld  seiner  Erinnerung. Er pr

u

fte  die Millionen  und
Abermillionen  von  Duftbaukl

u

tzen  und  brachte sie  in eine  systematische
Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes  zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes
zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches  zu Ambrosischem. Im Verlauf der
n

u

chsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der D

u

fte immer
reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald
schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgeb

u

ude aufzurichten:
H

u

user, Mauern,  Stufen,  T

u

rme, Keller, Zimmer,  geheime  Gem

u

cher...  eine
t

u

glich sich  erweiternde, t

u

glich sich  versch

u

nende und perfekter  gef

u

gte
innere Festung der  herrlichsten  Duftkompositionen. Dass  am Anfang  dieser
Herrlichkeit  ein  Mord  gestanden  hatte, war ihm, wenn  

u

berhaupt bewusst,
vollkommen gleichg

u

ltig. An das Bild des M

u

dchens aus der Rue des Marais, an
ihr Gesicht, an  ihren K

u

rper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern.  Er
hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip
ihres Dufts.

     Zu jener Zeit gab  es in Paris ein gutes Dutzend  Parfumeure. Sechs von
ihnen lebten  am rechten  Ufer,  sechs  am linken Ufer,  und  einer  akkurat
dazwischen, n

u

mlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer  mit der
Ile  de  la Cit

u

 verband.  Diese Br

u

cke war  zu  beiden Seiten so  dicht mit
vierst

u

ckigen  H

u

usern  bebaut, dass  man  beim 

u

berschreiten  den Fluss  an
keiner Stelle zu  Gesicht bekam, sondern sich auf einer  ganz normalen, fest
fundierten  und obendrein  noch 

u

ußerst eleganten Straße w

u

hnte.
In der  Tat galt der Pont au Change  f

u

r eine der feinsten Gesch

u

ftsadressen
der Stadt. Hier  befanden sich die renommiertesten  L

u

den,  hier saßen
die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Per

u

ckenmacher und Taschner, die
Verfertiger feinster Dessous und Str

u

mpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelh

u

ndler,
Epaulettensticker,  Goldkn

u

pfegießer und  Bankiers.  Und hier lag auch
das Gesch

u

fts- und  Wohnhaus  des Parfumeurs  und Handschuhmachers  Giuseppe
Baldini. 

u

ber  sein  Schaufenster spannte sich ein pr

u

chtiger gr

u

nlackierter
Baldachin, daneben hing Baldinis  Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon,
aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der T

u

re lag ein
roter Teppich,  der ebenfalls  Baldinis  Wappen trug, als goldene Stickerei.

u

ffnete  man  die T

u

re, dann  erklang ein persisches  Glockenspiel, und zwei
silberne  Reiher  begannen,  aus  ihren  Schn

u

beln  Veilchenwasser  in  eine
vergoldete Schale  zu speien, die  ihrerseits  die  Flakonform  von Baldinis
Wappen besaß.
     Hinter dem Kontor aus hellem  Buchsbaum  aber stand Baldini selbst, alt
und  starr  wie   eine  S

u

ule,   in  silberbepuderter   Per

u

cke  und  blauem
goldbetresstem  Rock.  Eine  Wolke  von  Frangipaniwasser,  mit dem  er sich
allmorgendlich  bespr

u

hte,  umgab ihn  geradezu sichtbar  und  r

u

ckte  seine
Person in nebelhafte Ferne.  In seiner Unbeweglichkeit sah  er aus wie  sein
eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien
- beides  geschah nicht allzu oft -,  w

u

rde pl

u

tzlich  Leben in ihn  kommen,
w

u

rde  seine Gestalt in  sich zusammensinken, klein  und wuselig werden  und
unter vielen B

u

cklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen,  so schnell,
dass die  Frangipaniwasserwolke kaum zu  folgen  verm

u

chte,  und den  Kunden
bitten, Platz zu nehmen zur Vorf

u

hrung erlesenster D

u

fte und Kosmetika.
     Baldini  hatte  deren  Tausende.  Sein  Angebot  reichte  von  Essences
absolues, Bl

u

ten

u

len, Tinkturen, Ausz

u

gen,  Sekreten,  Balsamen,  Harzen und
sonstigen  Drogen  in  trockener,  fl

u

ssiger oder  wachsartiger  Form,  

u

ber
diverse  Pomaden,   Pasten,  Puder,  Seifen,  Cremes,  Sachets,  Bandolinen,
Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen  und Sch

u

nheitspfl

u

sterchen bis hin
zu Badew

u

ssern,  Lotionen,  Riechsalzen,  Toilettenessigen  und einer Unzahl
echter Parfums. Doch Baldini  begn

u

gte sich  nicht mit diesen  Produkten der
klassischen Sch

u

nheitspflege.  Sein  Ehrgeiz  bestand darin, in seinem Laden
alles  zu versammeln,  was  irgendwie duftete oder in  irgendeiner Weise dem
Duft  diente. Und so fanden sich neben  R

u

ucherpastillen,  R

u

ucherkerzen und
R

u

ucherb

u

ndern  auch  s

u

mtliche  Gew

u

rze vom  Anissamen bis  zur  Zimtrinde,
Sirups, Lik

u

re und Obstw

u

sser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige,
Kaffees,  Tees,   getrocknete  und   kandierte   Fr

u

chte,  Feigen,  Bonbons,
Schokoladen,  Maronen, ja sogar eingelegte Kapern,  Gurken und Zwiebeln  und
marinierter Thunfisch.  Und  dann wieder  duftender Siegellack, parfumiertes
Briefpapier,   nach   Rosen

u

l   riechende  Liebestinte,  Schreibmappen   aus
spanischem  Leder,  Federhalter aus weißem  Sandelholz,  K

u

stchen  und
Truhen   aus  Zedernholz,   Potpourris  und   Schalen   f

u

r   Bl

u

tenbl

u

tter,
Weihrauchbeh

u

lter  aus  Messing, Flakons  und Tiegelchen  aus  Kristall  mit
geschliffenen St

u

pseln  aus Bernstein, riechende  Handschuhe, Taschent

u

cher,
mit Muskatbl

u

te  gef

u

llte  N

u

hnadelkissen und  moschusbedampfte Tapeten, die
ein Zimmer l

u

nger als einhundert Jahre mit Duft erf

u

llen konnten.
     Nat

u

rlich hatten all  diese Waren nicht  im pomp

u

sen,  zur Straße
(oder zur Br

u

cke) hin gelegenen Laden Platz,  und so mussten, in  Ermanglung
eines Kellers,  nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste
und  zweite Stock  sowie fast  s

u

mtliche zum Fluss hin  gelegenen  R

u

ume des
Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon  war,  dass im Hause Baldini
ein unbeschreibliches  Chaos von  D

u

ften herrschte. So erlesen  die Qualit

u

t
der  einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualit

u

t -,
so  unertr

u

glich   war   ihr  geruchlicher   Zusammenklang,   gleich   einem
tausendk

u

pfigen  Orchester,  in  welchem  jeder  Musiker  eine andre Melodie
fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren  gegen dieses
Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja s

u

mtlich schwerh

u

rig sind,
und auch seine Frau,  die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen
ein weiteres Vordringen der Lagerr

u

ume verteidigte,  nahm die vielen Ger

u

che
kaum noch  als st

u

rend wahr. Anders der Kunde, der  zum  ersten Mal Baldinis
Laden betrat.  Ihm schlug  das herrschende  Duftgemisch  wie eine Faust  ins
Gesicht,  machte  ihn,  je  nach  Konstitution,  exaltiert   oder  benommen,
verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart,  dass er oft nicht mehr wusste,
weshalb  er  

u

berhaupt  gekommen   war.   Laufburschen  vergaßen  ihre
Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen
halb  hysterischen, halb klaustrophobischen  Anfall,  sank  in Ohnmacht  und
konnte  nur  noch  mit  sch

u

rfstem  Riechsalz  aus  Nelken

u

l,  Ammoniak  und
Kampfersprit wiederhergestellt werden.
     Unter diesen Umst

u

nden war es eigentlich  nicht verwunderlich, dass das
persische  Glockenspiel  von  Giuseppe  Baldinis  Ladent

u

re  immer  seltener
erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.

     "Chenier!" rief Baldini  hinter dem  Kontor hervor, wo er seit  Stunden
s

u

ulenstarr  gestanden und  die  T

u

re  angestarrt hatte,  "ziehen  Sie  Ihre
Per

u

cke an!" Und zwischen Oliven

u

lf

u

ssern und h

u

ngenden Schinken aus Bayonne
erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas j

u

nger als dieser, aber auch schon
ein alter  Mann,  und kam nach vorn in die feinere Abteilung  des Ladens. Er
zog  seine  Per

u

cke aus der Rocktasche und st

u

lpte sie sich 

u

ber. "Sie gehen
aus, Herr Baldini?"
     "Nein",  sagte Baldini,  "ich  werde mich  f

u

r einige Stunden  in  mein
Arbeitszimmer zur

u

ckziehen und w

u

nsche, absolut nicht gest

u

rt zu werden."
     "Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
     baldini So  ist es. Zur Beduftung einer spanischen  Haut f

u

r den Grafen
Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt  etwas wie... wie
... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und
stammt  angeblich  von diesem... diesem St

u

mper aus der Rue Saint-Andre  des
Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
     baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der St

u

mper.
     >Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
     chenier  Jaja.  Dochdoch.   Man  riecht  es  jetzt  

u

berall.  An  jeder
Straßenecke  riecht  man  es.  Aber  wenn  Sie  mich  fragen  - nichts
Besonderes! Es kann sich bestimmt  in keiner Weise messen  mit  dem, welches
Sie komponieren werden, Herr Baldini.
     baldini Nat

u

rlich nicht.
     chenier  Es  riecht  

u

ußerst  gew

u

hnlich,  dieses   >Amor  und
Psyche<.
     baldini Vulg

u

r?
     chenier Durchaus  vulg

u

r, wie alles  von Pelissier. Ich  glaube, es ist
Limetten

u

l darin.
     baldini Wirklich? Was noch?
     chenier Orangenbl

u

tenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur.
Aber ich kann es nicht sicher sagen.
     baldini Es ist mir auch v

u

llig gleichg

u

ltig.
     chenier Nat

u

rlich.
     baldini  Es  ist mir  schnurzegal, was der  St

u

mper  Pelissier in  sein
Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
     chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
     baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen,
erarbeite ich meine Parfums.
     chenier Ich weiß, Monsieur.
     baldini Geb

u

re sie allein aus mir!
     chenier Ich weiß.
     baldini  Und  ich gedenke, f

u

r den Grafen Verhamont etwas zu  kreieren,
was wirklich Furore macht.
     chenier Davon bin ich 

u

berzeugt, Herr Baldini.
     baldini Sie 

u

bernehmen den  Laden.  Ich  brauche Ruhe.  Halten Sie  mir
alles vom Leibe, Chenier...
     Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es
seinem Alter zukam, gebeugt, ja  fast wie gepr

u

gelt, davon und stieg langsam
die  Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm
den  Platz hinterm  Kontor  ein,  stellte sich  genauso  hin, wie zuvor  der
Meister gestanden hatte, und  schaute mit starrem Blick zur T

u

re. Er wusste,
was in  den  n

u

chsten Stunden passieren w

u

rde: n

u

mlich gar nichts  im Laden,
und oben im  Arbeitszimmer Baldinis  die 

u

bliche  Katastrophe. Baldini w

u

rde
seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtr

u

nkten Rock ausziehen, sich an den
Schreibtisch setzen und  auf eine  Eingebung warten.  Diese  Eingebung w

u

rde
nicht  kommen.  Er  w

u

rde hierauf  an  den  Schrank mit  den  Hunderten  von
Probefl

u

schchen  eilen  und   aufs  Geratewohl  etwas  zusammenmixen.  Diese
Mischung w

u

rde missraten. Er w

u

rde fluchen,  das Fenster aufreißen und
sie in den Fluss hinunterwerfen. Er  w

u

rde etwas anderes probieren, auch das
w

u

rde missraten, er w

u

rde nun schreien und  toben und in dem schon bet

u

ubend
riechenden Zimmer  einen Heulkrampf  bekommen.  Er  w

u

rde gegen  sieben  Uhr
abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
     "Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum  nicht geb

u

ren,
ich kann die spanische Haut f

u

r den Grafen nicht liefern,  ich bin verloren,
ich bin  innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen  Sie mir zu
sterben!" Und Chenier w

u

rde  vorschlagen, dass man zu Pelissier  schickte um
eine Flasche >Amor  und Psyche<, und Baldini w

u

rde zustimmen unter der
Bedingung,  dass  kein Mensch  von  dieser  Schande  erf

u

hre,  Chenier w

u

rde
schw

u

ren, und nachts w

u

rden  sie heimlich das Leder f

u

r den Grafen Verhamont
mit  dem fremden  Parfum  beduften.  So  w

u

rde es sein und nicht anders, und
Chenier w

u

nschte nur, er h

u

tte das ganze Theater  schon hinter sich. Baldini
war  kein  großer Parfumeur  mehr.  Ja, fr

u

her, in seiner Jugend,  vor
dreißig, vierzig  Jahren, da hatte er >Rose des S

u

dens< erfunden
und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große D

u

fte, denen
er sein Verm

u

gen  verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte
die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn
er 

u

berhaupt noch  einmal  einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es
vollkommen  demodiertes,  unverk

u

ufliches Zeug,  das  sie  ein  Jahr  sp

u

ter
zehnfach verd

u

nnten und als Springbrunnenwasserzusatz verh

u

kerten. Schade um
ihn,  dachte Chenier  und  

u

berpr

u

fte den  Sitz  seiner  Per

u

cke im Spiegel,
schade um den alten Baldini; schade um sein sch

u

nes Gesch

u

ft, denn er wird's
herunterbringen; und schade um mich, denn bis  er's  heruntergebracht  haben
wird, bin ich zu alt, um es zu 

u

bernehmen...

     Zwar  hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur
aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers st

u

rte ihn schon l

u

ngst
nicht mehr beim  Riechen, er  trug  ihn ja schon  seit  Jahrzehnten mit sich
herum und nahm ihn 

u

berhaupt nicht  mehr wahr. Er  hatte auch  die  T

u

re des
Arbeitszimmers zugeschlossen und  sich  Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich
nicht an den Schreibtisch,  um zu gr

u

beln und auf eine Eingebung  zu warten,
denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben w

u

rde;
er hatte n

u

mlich  noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und  verbraucht, das
stimmte, und auch kein großer Parfumeur  mehr; aber er wusste, dass er
im Leben noch nie einer  gewesen war. >Rose  des  S

u

dens< hatte er von
seinem  Vater  geerbt und das  Rezept f

u

r  >Baldinis galantes Bouquet<
einem  durchreisenden Genueser  Gew

u

rzh

u

ndler  abgekauft. Die 

u

brigen seiner
Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war
kein  Erfinder.  Er war ein sorgf

u

ltiger Verfertiger von bew

u

hrten Ger

u

chen,
wie ein Koch  war er, der mit  Routine und guten  Rezepten  eine große
K

u

che macht  und doch noch nie ein  eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen
Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei
f

u

hrte  er  nur  auf,  weil  das  zum st

u

ndischen  Berufsbild  eines  Maitre
Parfumeur et Gantier  geh

u

rte. Ein Parfumeur,  das war ein halber Alchimist,
der Wunder  schuf, so  wollten es die Leute - gut  so! Dass seine Kunst  ein
Handwerk  war wie jedes andere auch, das wusste nur  er  selbst, und das war
sein  Stolz.  Er wollte  gar kein  Erfinder  sein. Erfindung  war  ihm  sehr
suspekt, denn sie bedeutete immer den  Bruch einer Regel. Er dachte auch gar
nicht daran, f

u

r den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er w

u

rde
sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier  

u

berreden  lassen, >Amor
und Psyche< von Pelissier  zu besorgen. Er hatte  es schon.  Da stand es,
auf dem  Schreibtisch  vor  dem Fenster,  in einem  kleinen  Glasflakon  mit
geschliffenem  St

u

psel.  Schon vor  ein  paar Tagen  hatte  er  es  gekauft.
Nat

u

rlich nicht  pers

u

nlich. Er konnte doch  nicht  pers

u

nlich  zu Pelissier
gehen und  ein Parfum  kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann,  und  dieser
wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war  geboten. Denn Baldini wollte
das Parfum nicht einfach  zum Beduften  der spanischen  Haut verwenden, dazu
h

u

tte  die  geringe  Menge  auch  gar  nicht  ausgereicht.  Er  hatte  etwas
Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
     Das  war 

u

brigens  nicht  verboten.  Es  war nur  außerordentlich
unfein.  Das  Parfum eines  Konkurrenten  heimlich  nachzumachen  und  unter
eigenem Namen zu verkaufen,  war schrecklich unfein.  Aber noch unfeiner war
es, sich dabei ertappen zu lassen,  und darum  durfte  Chenier nichts  davon
wissen, denn Chenier war geschw

u

tzig.
     Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah,
so krumme  Wege  zu  gehen! Wie schlimm,  dass man das  Kostbarste,  was man
besaß, die  eigene Ehre, auf  so  sch

u

bige Weise  befleckte!  Aber was
sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls
verlieren durfte. Er hatte ja  ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der
Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als
er  am Anfang  seiner  Karriere  stand  und  mit  dem  Bauchladen durch  die
Straßen zog. Weiß  Gott  kam er, Giuseppe Baldini,  Inhaber  der
gr

u

ßten   Duftstoffhandlung  von   Paris,   in  bester  Gesch

u

ftslage,
finanziell nur noch 

u

ber die Runden,  wenn er mit dem K

u

fferchen in der Hand
Hausbesuche  machte.  Und das  gefiel ihm gar  nicht, denn er war schon weit

u

ber  sechzig  und  hasste es,  in kalten  Vorzimmern  zu warten  und  alten
Marquisen Tausendblumenwasser  und  Vierr

u

uberessig vorzuf

u

hren  oder  ihnen
eine  Migr

u

nesalbe  aufzuschwatzen.   Außerdem  herrschte   in  diesen
Vorzimmern  eine  ganz  ekelhafte  Konkurrenz.  Da  war dieser Empork

u

mmling
Brouet  aus  der  Rue  Dauphine,  der  von  sich  behauptete,  er  habe  das
gr

u

ßte  Pomadenprogramm  Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil,
der es  zum  Hoflieferanten der  Comtesse  von  Artois gebracht hatte;  oder
dieser    v

u

llig    unberechenbare   Antoine   Pelissier    aus    der   Rue
Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen  Duft lancierte,  nach
welchem die ganze Welt  verr

u

ckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte
den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches  Wasser
in Mode, und  hatte sich  Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte  und
Rosmarin eingedeckt, um  den  Bedarf  zu befriedigen  - so kam Pelissier mit
>Air  de Musc< heraus, einem  ultraschweren Moschusduft.  Jeder Mensch
musste  pl

u

tzlich tierisch  riechen, und  Baldini  konnte sein  Rosmarin  zu
Haarwasser verarbeiten  und  den Lavendel in  Riechs

u

ckchen n

u

hen. Hatte  er
dagegen f

u

r das n

u

chste  Jahr entsprechende Mengen  an  Moschus,  Zibet  und
Castoreum  bestellt,  so  fiel   es   Pelissier   ein,   ein  Parfum  namens
>Waldblume<  zu  kreieren,  was prompt ein  Erfolg  wurde.  Und  hatte
Baldini  endlich in n

u

chtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder
herausgefunden, woraus  >Waldblumen<  bestand  - da trumpfte Pelissier
schon wieder auf mit >T

u

rkische N

u

chte< oder >Lissabonner  Duft<
oder >Bouquet de  la  Cour< oder weiß  der Teufel  womit  sonst.
Dieser Mensch war auf  jeden  Fall in  seiner  z

u

gellosen  Kreativit

u

t  eine
Gefahr f

u

r das  ganze  Gewerbe.  Man w

u

nschte  sich  die Rigidit

u

t des alten
Zunftrechts zur

u

ck.  Man  w

u

nschte  sich die  drakonischsten Maßnahmen
gegen diesen Aus-Der-Reihe-T

u

nzer, gegen diesen Duftinflation

u

r. Das  Patent
geh

u

rte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und  

u

berhaupt
sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur-
und  Handschuhmachermeister war er nicht,  dieser Pelissier. Sein Vater  war
nichts  als  ein Essigsieder  gewesen,  und  Essigsieder war auch Pelissier,
nichts anderes. Und  bloß weil er als Essigsieder berechtigt  war, mit
Spirituosen umzugehen, konnte  er 

u

berhaupt ins Gehege der echten Parfumeure
einbrechen und darin herumw

u

ten  wie ein Stinktier. - Wozu  brauchte man  in
jeder  Saison einen  neuen Duft? War das n

u

tig? Das Publikum war fr

u

her auch
sehr zufrieden gewesen  mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die
man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringf

u

gig 

u

nderte.  Jahrtausendelang
hatten die  Menschen mit Weihrauch und Myrrhe,  ein paar Balsamen,  

u

len und
getrockneten W

u

rzkr

u

utern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten,
mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kr

u

utern,
Blumen  und H

u

lzern  das  duftende  Prinzip in Form von  

u

therischem  

u

l  zu
entreißen,  es   mit  eichenen  Pressen  aus   Samen  und  Kernen  und
Fruchtschalen  zu  quetschen  oder  mit  sorgsam  gefilterten   Fetten   den
Bl

u

tenbl

u

ttern zu entlocken, war die Zahl der D

u

fte noch bescheiden gewesen.
Damals w

u

re eine Figur wie Pelissier gar nicht  m

u

glich gewesen, denn damals
brauchte es schon zur Erzeugung einer  simplen Pomade F

u

higkeiten, von denen
sich dieser  Essigpanscher  gar nichts tr

u

umen ließ. Man musste  nicht
nur destillieren  k

u

nnen, man musste  auch  Salbenmacher sein und Apotheker,
Alchimist und Handwerker, H

u

ndler, Humanist und G

u

rtner zugleich. Man musste
Hammelnierenfett  von  jungem  Rindertalg  unterscheiden   k

u

nnen  und   ein
Viktoriaveilchen  von  einem  solchen  aus Parma. Man musste die lateinische
Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und
wann das Pelargonium bl

u

ht und dass  die Bl

u

te  des Jasmins  mit aufgehender
Sonne  ihren  Duft  verliert.  Von  diesen  Dingen  hatte  dieser  Pelissier
selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen,
in seinem Leben bl

u

henden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige  denn, dass er
einen  Schimmer  von  der  gigantischen  Schufterei  besaß,  deren  es
bedurfte, um aus  hunderttausend Jasminbl

u

ten einen kleinen Klumpen Concrete
oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte
er nur  diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Fl

u

ssigkeit,
die in  einem kleinen Fl

u

schchen neben vielen anderen Fl

u

schchen, aus  denen
er seine Modeparfums  mixte, im Tresorschrank  stand. Nein,  eine Figur  wie
dieser  Schn

u

sel Pelissier h

u

tte  in  den  guten alten handwerklichen Zeiten
kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung,
Gen

u

gsamkeit   und   der   Sinn   f

u

r   z

u

nftische   Subordination.    Seine
parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die
vor  nunmehr  zweihundert  Jahren der  geniale  Mauritius Frangipani  -  ein
Italiener 

u

brigens! - gemacht hatte und die  darin  bestand, dass Duftstoffe
in  Weingeist  l

u

slich  sind.  Indem  Frangipani  seine Riechp

u

lverchen  mit
Alkohol  vermischte und  damit ihren  Duft  auf eine  fl

u

chtige  Fl

u

ssigkeit

u

bertrug,  hatte  er  den  Duft befreit  von  der  Materie, hatte  den  Duft
vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen.
Was  f

u

r  eine Tat!  Welch epochale  Leistung! Vergleichbar wirklich nur den
gr

u

ßten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der
Schrift durch  die Assyrer, der  euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato
und der Verwandlung  von  Trauben in Wein durch die  Griechen. Eine wahrhaft
prometheische Tat! Und  doch,  wie alle großen Geistestaten  nicht nur
Licht, sondern auch Schatten werfen und der  Menschheit neben Wohltaten auch
Verdruss und Elend  bereiten,  so hatte leider auch die herrliche Entdeckung
Frangipanis  

u

ble Folgen: Denn  nun,  da  man  gelernt  hatte, den Geist der
Blumen  und  Kr

u

uter,  der  H

u

lzer, Harze  und  der  tierischen  Sekrete  in
Tinkturen festzubannen und auf Fl

u

schchen abzuf

u

llen, entglitt die Kunst des
Parfumierens  nach und nach den  wenigen  universalen handwerklichen K

u

nnern
und stand  Quacksalbern  offen,  sofern sie  nur  eine  leidlich  feine Nase
besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier.  Ohne sich darum
zu bek

u

mmern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fl

u

schchen je entstanden war,
konnte er einfach  seinen olfaktorischen Launen  folgen und zusammenmischen,
was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade w

u

nschte.
     Bestimmt   besaß    dieser    Bastard   Pelissier    mit   seinen
f

u

nfunddreißig  Jahren schon jetzt ein gr

u

ßeres Verm

u

gen als er,
Baldini, es sich in der dritten  Generation durch  harte  beharrliche Arbeit
endlich angeh

u

uft hatte. Und  Pelissiers  nahm  t

u

glich zu,  w

u

hrend  seins,
Baldinis,  sich t

u

glich verminderte. So  etwas  w

u

re fr

u

her doch  gar  nicht
m

u

glich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingef

u

hrter 
Commergant
um seine schiere Existenz  zu  k

u

mpfen  hatte,  das gab  es doch  erst  seit
wenigen  Jahrzehnten! Seitdem 

u

berall und in  allen  Bereichen die hektische
Neuerungssucht  ausgebrochen  ist,  dieser  hemmungslose  Tatendrang,  diese
Experimentierwut, diese  Großmannssucht im  Handel, im  Verkehr und in
den Wissenschaften!
     Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man  die  vielen neuen
Straßen,  die 

u

berall gebuddelt wurden, und  die neuen  Br

u

cken? Wozu?
War es von Vorteil, wenn man  bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war
daran  gelegen?  Wem n

u

tzte  es? Oder 

u

ber den Atlantik zu  fahren, in einem
Monat nach Amerika zu rasen - als  w

u

re man nicht  jahrtausendelang sehr gut
ohne  diesen Kontinent ausgekommen.  Was  hatte der zivilisierte  Mensch  im
Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen
sie,  das  lag im Norden, im ewigen  Eise, wo  Wilde lebten, die rohe Fische
fraßen. Und noch einen weiteren  Kontinent wollten sie  entdecken, der
angeblich in  der S

u

dsee  lag,  wo immer das  war. Und wozu dieser Wahnsinn?
Weil  die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Engl

u

nder, die
impertinenten Holl

u

nder,  mit  denen man sich dann herumschlagen musste, was
man  sich  

u

berhaupt  nicht leisten  konnte.  300000  Livres kostet  so  ein
Kriegsschiff gut  und gerne, und  versenkt ist es  in f

u

nf Minuten mit einem
einzigen Kanonenschuss,  auf  Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern.
Den  zehnten  Teil  auf  alle  Eink

u

nfte  verlangt  der  Herr Finanzminister
neuerdings, und das ist ruin

u

s,  auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn
schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.
     Das Ungl

u

ck  des Menschen  r

u

hrt  daher,  dass er nicht still in seinem
Zimmer bleiben will, dort, wo er hingeh

u

rt. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein
großer Mann gewesen, ein Frangipani des  Geistes, ein Handwerker recht
eigentlich, und  ein solcher ist heute  nicht mehr  gefragt. Jetzt lesen sie
aufwieglerische B

u

cher von Hugenotten  oder  Engl

u

ndern. Oder sie  schreiben
Traktate  oder sogenannte  wissenschaftliche Großwerke, in  denen  sie
alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt
pl

u

tzlich anders sein. In  einem Glas  Wassers sollen neuerdings ganz kleine
Tierchen schwimmen, die man fr

u

her nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine
ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt
nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es

u

berhaupt war; die Wilden sind Menschen  wie wir; unsere Kinder erziehen wir
falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und  unten
platt wie eine Melone  -  als ob  es  darauf ank

u

me! In  jedem  Bereich wird
gefragt und gebohrt und  geforscht und geschn

u

ffelt und herumexperimentiert.
Es gen

u

gt nicht mehr, dass man sagt, was  ist und wie es ist - es muss jetzt
alles  noch  bewiesen  werden,   am   besten  mit  Zeugen  und  Zahlen   und
irgendwelchen l

u

cherlichen  Versuchen.  Diese  Diderots und d'Alemberts  und
Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen - sogar
geistliche  Herren  sind darunter  und Herren  von Adel!  -,  sie  haben  es
wahrhaft geschafft,  ihre  eigne  perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am
Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begn

u

gen-k

u

nnens,
kurz:  das grenzenlose Chaos, das in ihren K

u

pfen herrscht, auf die  gesamte
Gesellschaft auszudehnen!
     Wo  man  hinsah,  herrschte Hektik. Leute  lasen B

u

cher,  sogar Frauen.
Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und  einen
dieser Oberschurken ins Gef

u

ngnis steckte, dann heulten die Verleger auf und
reichten Petitionen ein, und h

u

chste Herren und Damen machten ihren Einfluss
geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland
ziehen ließ,  wo  er dann  hemmungslos  weiterpamphletisierte.  In den
Salons  palaverte man nur noch 

u

ber  Kometenbahnen  und  Expeditionen,  

u

ber
Hebelkraft und  Newton, 

u

ber Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des
Erdballs.
     Und  selbst der  K

u

nig ließ  sich irgendeinen neumodischen Unsinn
vorf

u

hren, eine Art  k

u

nstliches Gewitter namens Elektrizit

u

t:  Im Angesicht
des  ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine
Majest

u

t,  so h

u

rt man, zeigte  sich tief  beeindruckt. Unvorstellbar,  dass
sein  Urgroßvater,  der  wahrhaft  große  Ludwig,  unter  dessen
segensreicher  Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Gl

u

ck hatte gelebt zu
haben,  eine so  l

u

cherliche Demonstration vor  seinen Augen geduldet h

u

tte!
Aber das war der Geist der neuen Zeit, und b

u

se w

u

rde alles enden!
     Denn wenn man  schon ungeniert und auf die frechste  Art die  Autorit

u

t
von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man 

u

ber  die  nicht minder
gottgewollte  Monarchie  und  die geheiligte  Person  des K

u

nigs sprach, als
seien beide bloß variable  Posten in einem ganzen Katalog  von anderen
Regierungsformen,  die  man  nach  Gusto  ausw

u

hlen  k

u

nne;  wenn  man  sich
schließlich noch so  weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst,  den
Allm

u

chtigen, Ihn H

u

chstpers

u

nlich, als  entbehrlich hinzustellen und  allen
Ernstes  zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Gl

u

ck auf  Erden ohne
Ihn zu  denken, rein aus  der  eingeborenen Moralit

u

t  und der Vernunft  der
Menschen selber... o Gott, o Gott! - dann allerdings brauchte man sich nicht
zu  wundern, wenn sich alles  von  oben  nach unten  kehrte  und die  Sitten
verlotterten   und   die   Menschheit  das  Strafgericht  dessen,  den   sie
verleugnete,  auf sich  herabzog. B

u

se wird es enden. Der große  Komet
von  1681, 

u

ber  den sie  sich lustig gemacht  haben, den sie als nichts als
einen Haufen von Sternen bezeichnet  haben, er  war eben doch ein  warnendes
Vorzeichen  Gottes  gewesen, denn er hatte jetzt  wusste  man es  ja  -  ein
Jahrhundert der  Aufl

u

sung  angezeigt,  der  Zersetzung, des  geistigen  und
politischen und religi

u

sen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in
dem sie dereinst selbst versinken wird  und in dem nur noch  schillernde und
stinkende Sumpfbl

u

ten gediehen wie dieser Pelissier!
     Er stand am Fenster, der  alte Mann Baldini, und schaute mit geh

u

ssigem
Blick  gegen die  schr

u

gstehende  Sonne  auf  den  Fluss  hinaus.  Lastk

u

hne
tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und
den Hafen  vor den  Galerien  des Louvre  zu. Keiner  wurde hier  gegen  die
Str

u

mung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm  auf der  anderen Seite der
Insel. Hier str

u

mte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die
Ruderboote und die flachen K

u

hne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und
das golden gekr

u

uselte,  alles str

u

mte weg, langsam, breit und unaufhaltsam.
Und  wenn  Baldini ganz  steil  nach unten  blickte, hart  an  der  Hauswand
entlang,  dann  war  es,  als s

u

ge das str

u

mende Wasser die  Fundamente  der
Br

u

cke davon, und es schwindelte ihm.
     Es war ein Fehler gewesen,  das Haus auf  der Br

u

cke zu kaufen, und ein
doppelter Fehler,  eines  auf  der westlich gelegenen Seite zu  nehmen.  Nun
hatte  er  dauernd den wegstr

u

menden Fluss  vor Augen, und es  war  ihm, als
str

u

me er  selbst und sein Haus und  sein  in vielen Jahrzehnten  erworbener
Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch
gegen diese gewaltige Str

u

mung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf  dem linken
Ufer zu tun  hatte, im Viertel um die Sorbonne oder  bei Saint-Sulpice, dann
ging er nicht 

u

ber die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm  den
l

u

ngeren Weg  

u

ber den Pont Neuf, denn diese Br

u

cke war unbebaut.  Und  dann
stellte  er sich  an  die 

u

stliche Br

u

stung  und  schaute  flussaufw

u

rts, um
wenigstens  ein  Mal  alles  auf sich zustr

u

men zu  sehen;  und  f

u

r  einige
Augenblicke schwelgte er in der  Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe
sich umgekehrt, die  Gesch

u

fte  florierten, die Familie gediehe,  die Frauen
fl

u

gen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
     Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen
hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus  gebrechlich schmal und hoch auf
dem Pont  au Change, und er sah das Fenster seines  Arbeitszimmers im ersten
Stock und sah  sich selbst dort  am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf
den Fluss  und das wegstr

u

mende Wasser beobachten, wie jetzt. Und  damit war
der sch

u

ne Traum verflogen,  und  Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte
sich ab, niedergeschlagener  als  zuvor, niedergeschlagen wie jetzt,  da  er
sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.

     Vor  ihm  stand  der Flakon  mit  Pelissiers  Parfum.  Die  Fl

u

ssigkeit
schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne  die geringste Tr

u

bung. Ganz
unschuldig sah sie  aus,  wie heller  Tee - und  enthielt  doch  neben  vier
F

u

nfteln Alkohol ein F

u

nftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze
Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei
oder aus  dreißig  verschiedenen  Stoffen bestehen,  die in einem ganz
bestimmten von unz

u

hligen m

u

glichen Volumenverh

u

ltnissen zueinander standen.
Es war die Seele des Parfums  - soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten
Gesch

u

ftemachers  Pelissier von Seele reden konnte -, und ihren  Aufbau galt
es nun herauszufinden.
     Baldini schneuzte sich sorgf

u

ltig  die Nase und ließ die Jalousie
am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff
und jeder feineren geruchlichen  Konzentration abtr

u

glich. Aus der Schublade
des Schreibtischs holte er ein frisches weißes  Spitzentaschentuch und
entfaltete es. Dann  

u

ffnete  er den Flakon durch  eine  leichte Drehung des
St

u

psels. Den  Kopf hielt  er  dabei  weit zur

u

ck und kniff  die Nasenfl

u

gel
zusammen,  denn  er  wollte  um  Gottes   willen  nicht  einen  vorschnellen
Geruchseindruck   direkt  aus  der  Flasche  erwischen.  Parfum  musste   in
entfaltetem,  luftigem  Zustand  gerochen werden, niemals  konzentriert.  Er
sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um
den Alkohol davonzujagen, und  hielt es sich  dann unter die Nase. Mit  drei
ganz kurzen, ruckartigen  St

u

ßen riss er den Duft  in sich hinein  wie
ein Pulver, blies  ihn sofort wieder aus, f

u

chelte sich Luft zu, schn

u

ffelte
noch  einmal im Dreierrhythmus  und  nahm zum Abschluss  einen  ganz  tiefen
Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie 

u

ber eine
lange flache Treppe gleiten lassend, ausstr

u

mte. Er warf das Taschentuch auf
den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zur

u

ckfallen.
     Das Parfum  war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein
K

u

nner. Ein  Meister,  Gott  sei's  geklagt, und wenn er  tausendmal  nichts
gelernt  hatte!  Baldini  w

u

nschte, es  w

u

re von  ihm,  dieses >Amor  und
Psyche<.  Es  war  keine  Spur  ordin

u

r.  Absolut  klassisch,  rund   und
harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es  war frisch, aber nicht
reißerisch.  Es  war blumig,  ohne schmalzig zu sein.  Es  besaß
Tiefe, eine herrliche, haftende,  schwelgerische, dunkelbraune  Tiefe -  und
war doch kein bisschen 

u

berladen oder schw

u

lstig.
     Baldini stand fast ehrf

u

rchtig auf und hielt  sich das Taschentuch noch
einmal unter die Nase. "Wunderbar, wunderbar..." murmelte er und schn

u

ffelte
gierig, "es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist  wie  eine
Melodie,  es  macht  direkt  gute  Laune...  Unsinn,  gute  Laune!"  Und  er
schleuderte  das T

u

chlein w

u

tend auf den Tisch zur

u

ck,  wandte  sich  ab und
ging  in  die  hinterste  Ecke  des  Zimmers,  als  sch

u

me  er  sich  seiner
Begeisterung.
     L

u

cherlich! Sich zu solchen  Elogen hinreißen zu  lassen. >Wie
eine Melodie.  Heiter. Wunderbar.  Gute  Laune.<  - Bl

u

dsinn!  Kindischer
Bl

u

dsinn.  Eindruck  des   Augenblicks.  Alter  Fehler.   Temperamentsfrage.
Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das
ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und
urteile,  wenn  du gerochen  hast!  >Amor und  Psyche< ist  ein  nicht
unebenes   Parfum.   Ein   durchaus   gelungenes  Produkt.   Ein   geschickt
zusammengestelltes  Machwerk.  Um nicht  zu sagen  ein Blendwerk.  Und etwas
anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu
erwarten. Nat

u

rlich fabrizierte ein  Kerl  wie Pelissier kein Dutzendparfum.
Der  Schurke blendete mit  h

u

chster K

u

nnerschaft, verwirrte  den Geruchssinn
mit perfekter Harmonie,  ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war
dieser  Mensch,  mit einem  Wort:  ein  Scheusal  mit Talent.  Und  das  war
schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
     Aber du, Baldini, wirst  dich nicht bet

u

ren lassen. Du warst nur  einen
Augenblick  lang  

u

berrascht  vom  ersten   Eindruck   des  Machwerks.  Aber
weiß  man  denn,  wie  es  in einer Stunde  riechen wird,  wenn  seine
fl

u

chtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt?
Oder  wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren,  dunklen
Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich  wie  im Zwielicht unter
angenehmen Bl

u

tenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
     Die  zweite  Regel sagt:  Das  Parfum  lebt in der Zeit;  es hat  seine
Jugend,  seine  Reife  und  sein  Alter. Und  nur  wenn  es  in  allen  drei
verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verstr

u

mt, ist es
als gelungen zu bezeichnen.  Wie oft hatten wir  nicht schon den  Fall, dass
eine Mischung,  die wir machten, bei  der ersten Probe herrlich frisch roch,
nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft  nach reinem
Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht 

u

berhaupt mit Zibet! Ein  Tropfen
zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß - vielleicht
hat Pelissier zu viel Zibet  erwischt? Vielleicht  bleibt bis heut Abend von
seinem ambiti

u

sen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse

u

brig? Wir werden's sehn.
     Wir werden's riechen.  So wie  ein  scharfes  Beil den Holzklotz in die
kleinsten  Scheite teilt,  wird  unsre Nase  sein  Parfum in jede Einzelheit
zerspalten. Dann  wird sich zeigen, dass  dieser angebliche  Zauberduft  auf
sehr  normalem, wohlbekanntem  Weg  entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur,
werden  dem Essigmischer Pelissier auf die  Schliche kommen. Wir werden  ihm
die Maske von der Fratze  reißen und dem  Neuerer  beweisen, wozu  das
alte Handwerk in der  Lage  ist.  Haargenau  wird es ihm nachgemischt,  sein
modisches Parfum.  Es  wird unter  unsern H

u

nden  neu entstehen, so  perfekt
kopiert,  dass  es  der  Windhund  selbst  nicht   mehr  von  seinem  eignen
unterscheiden   kann.  Nein!  Das  gen

u

gt  uns  nicht!  Wir  werden's   noch
verbessern! Wir werden  ihm Fehler nachweisen  und sie ausmerzen  und es ihm
auf  diese Weise unter die Nase  reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein
kleiner Stinker bist du! Ein Empork

u

mmling im Duftgewerbe, und sonst nichts!
     An die  Arbeit jetzt,  Baldini! Die Nase  gesch

u

rft  und  gerochen ohne
Sentimentalit

u

t! Den Duft zerlegt nach den Regeln der Kunst! Bis heute Abend
musst  du  im  Besitz  der  Formel  sein!  Und  er  st

u

rzte  zur

u

ck  an  den
Schreibtisch, holte Papier, Tinte und ein frisches Taschentuch heraus, legte
sich alles zurecht und begann seine analytische Arbeit. Das geschah so, dass
er das mit frischem Parfum getr

u

nkte Tuch rasch unter der Nase vorbeizog und
aus  der  vor

u

berfliegenden Duftwolke  den  einen  oder anderen  Bestandteil
aufzufangen suchte,  ohne allzusehr von  der  komplexen Mischung aller Teile
abgelenkt zu  sein; um dann, w

u

hrend er das Taschentuch  mit  ausgestrecktem
Arm  weit  von  sich hielt,  den Namen des gefundenen  Bestandteils rasch zu
notieren und  hierauf  neuerdings das  Tuch  an  der  Nase vorbeifliegen  zu
lassen, das n

u

chste Duftfragment zu erhaschen und so fort...

     Er arbeitete  zwei  Stunden lang ununterbrochen.  Und immer  hektischer
wurden  seine Bewegungen, immer  fahriger das Gekrakel  seiner Feder auf dem
Papier, immer h

u

her die Dosen des Parfums,  das  er aus dem  Flakon  in sein
Taschentuch sch

u

ttete und sich unter die Nase hielt.
     Er  roch  jetzt  kaum  noch  etwas,  er  war  l

u

ngst  bet

u

ubt  von  den

u

therischen   Substanzen,  die  er  einatmete,  konnte   nicht  einmal  mehr
wiedererkennen,  was er zu  Beginn seines Probierens zweifelsfrei analysiert
zu haben glaubte. Er wusste, dass es sinnlos war, weiterzuriechen. Er  w

u

rde
nie herausbekommen,  woraus dieses neumodische  Parfum  zusammengesetzt war,
heute schon  

u

berhaupt nicht mehr, aber auch  morgen nicht,  wenn sich seine
Nase, so Gott wollte, wieder erholt haben w

u

rde. Er hatte dieses zersetzende
Riechen  nie gelernt.  Es  war ihm eine unselig widerw

u

rtige  Besch

u

ftigung,
einen  Duft  zu zerspalten; ein Ganzes, ein  gut oder weniger  gut Gef

u

gtes,
aufzuteilen in  seine  simplen Fragmente.  Es  interessierte ihn  nicht.  Er
wollte nicht mehr.
     Aber  mechanisch fuhr seine Hand fort,  mit  jener  tausendmal  ge

u

bten
zierlichen Bewegung das Spitzentaschentuch zu  tr

u

nken, es zu  sch

u

tteln und
rasch   am  Gesicht  vorbeizuwedeln,  und  mechanisch  riss   er  bei  jedem
Vor

u

berflug  eine  Portion  duftgetr

u

nkter  Luft  in  sich  hinein,  um  sie
kunstgerecht  verhalten  ausstr

u

men zu lassen.  Bis ihn endlich seine eigene
Nase von der Qual befreite, indem sie von innen her  allergisch schwoll  und
sich wie  mit  einem w

u

chsernen Pfropfen selbst verschloss.  Jetzt konnte er
gar nichts mehr riechen,  kaum noch atmen. Wie von  einem schweren Schnupfen
zugel

u

tet  war die Nase,  und  in seinen  Augenwinkeln sammelten sich kleine
Tr

u

nen.  Gott  im Himmel sei  Dank!  Nun  konnte er guten Gewissens ein Ende
machen. Nun hatte er  seine Pflicht getan, nach  besten Kr

u

ften, nach  allen
Regeln  der Kunst, und war, wie schon  so oft, gescheitert. Ultra posse nemo
obligatur. Feierabend. Morgen  fr

u

h  w

u

rde er zu Pelissier schicken  um eine
große Flasche >Amor und Psyche< und damit die spanische Haut f

u

r
den  Grafen  Verhamont beduften, wie bestellt.  Und  danach  w

u

rde  er  sein
K

u

fferchen  nehmen,  mit  den  altmodischen  Seifen, Sentbons,  Pomaden  und
Sachets, und  seine  Runde machen durch die Salons  greiser Herzoginnen. Und
eines Tages w

u

rde die letzte greise Herzogin gestorben  sein und damit seine
letzte Kundin. Und dann w

u

rde er selbst ein Greis  sein und w

u

rde sein  Haus
verkaufen  m

u

ssen,  an  Pelissier   oder  an   irgendeinen   anderen  dieser
aufstrebenden H

u

ndler,  vielleicht bek

u

me  er  noch ein  paar tausend  Livre
daf

u

r. Und w

u

rde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die
bis dahin  noch nicht tot war, nach Italien  reisen.  Und wenn  er die Reise

u

berlebte, w

u

rde er sich ein  kleines H

u

uschen auf  dem  Lande  bei  Messina
kaufen, wo es billig war. Und dort w

u

rde er sterben, Giuseppe Baldini, einst
gr

u

ßter Parfumeur von Paris,  in bitterster  Armut, wann immer Gott es
gefiel. Und so war es gut.
     Er  st

u

pselte  den Flakon zu, legte die Feder  aus der Hand und wischte
sich ein letztes  Mal  mit  dem  getr

u

nkten Taschentuch 

u

ber  die  Stirn. Er
sp

u

rte die K

u

hle  des verdunstenden Alkohols,  sonst nichts  mehr. Dann ging
die Sonne unter.
     Baldini erhob sich.  Er 

u

ffnete  die Jalousie,  und sein K

u

rper tauchte
bis herab  zu den Knien ins Abendlicht  und gl

u

hte auf wie  eine abgebrannte
glosende Fackel. Er  sah den tiefroten Saum der Sonne hinterm Louvre und das
zartere Feuer auf den Schieferd

u

chern der Stadt. Unter ihm der Fluss gl

u

nzte
wie Gold  , die Schiffe  waren verschwunden. Und es kam wohl  ein Wind  auf,
denn 

u

ber die Wasserfl

u

che fielen die B

u

en wie Schuppen, und es glitzerte da
und  dort und  immer  n

u

her,  als streue  eine  riesige Hand  Millionen  von
Louisdor-St

u

cken ins Wasser, und  die  Richtung des  Flusses schien sich f

u

r
einen  Moment  umgekehrt  zu   haben:  er   str

u

mte  auf  Baldini  zu,  eine
gleißende  Flut  von  purem  Gold.  Baldinis  Augen waren  feucht  und
traurig. Eine  Weile lang stand er still und beobachtete das herrliche Bild.
Dann,  pl

u

tzlich, riss  er das  Fenster auf, schlug  die beiden  Fl

u

gel weit
auseinander und warf den Flakon mit Pelissiers Parfum in hohem Bogen hinaus.
Er sah,  wie  er  aufplatschte  und  f

u

r einen  Augenblick  den  glitzernden
Wasserteppich zerriss.
     Frische Luft str

u

mte  ins Zimmer. Baldini sch

u

pfte Atem und merkte, wie
sich die Schwellung seiner Nase l

u

ste. Dann  schloss er das Fenster. Fast im
gleichen Moment wurde es Nacht, ganz  pl

u

tzlich. Das goldgl

u

nzende Bild  der
Stadt  und des  Flusses erstarrte  zu einer aschgrauen Silhouette. Im Zimmer
war es  mit  einem  Schlag  d

u

ster  geworden. Baldini  stand  wieder  in der
gleichen Haltung wie zuvor und starrte zum Fenster hinaus. "Ich werde morgen
nicht zu Pelissier schicken", sagte er und umklammerte mit beiden H

u

nden die
R

u

ckenlehne  seines Stuhles.  "Ich werde  es nicht tun.  Und ich werde  auch
nicht meine Tour durch die Salons machen. Sondern ich werde morgen zum Notar
gehen und  mein  Haus und  mein  Gesch

u

ft  verkaufen. Das werde  ich  tun. E
basta!"
     Er  hatte einen trotzigen,  bubenhaften  Gesichtsausdruck bekommen  und
f

u

hlte sich auf einmal sehr gl

u

cklich.  Er  war  wieder der alte, der  junge
Baldini, mutig, und entschlossen wie je, dem Schicksal die Stirn zu bieten -
auch wenn das Stirnbieten in diesem Fall nur R

u

ckzug war. Und wenn schon! Es
blieb ja nichts  anderes 

u

brig. Die  dumme Zeit ließ keine andre Wahl.
Gott  gibt gute  und schlechte  Zeiten,  aber er  will nicht,  dass  wir  in
schlechten Zeiten  jammern  und  wehklagen, sondern  dass wir  uns  m

u

nnlich
bew

u

hren. Und Er hatte ein Zeichen gegeben. Das blutrot-goldene Trugbild der
Stadt  war eineWarnung  gewesen:  Handle, Baldini,  eh es zu sp

u

t  ist! Noch
steht dein Haus fest, noch  sind  deine Lager  gef

u

llt, noch wirst  du einen
guten Preis  f

u

r dein niedergehendes Gesch

u

ft erzielen  k

u

nnen.  Noch liegen
die Entscheidungen in  deiner Hand. In Messina bescheiden alt zu werden, das
ist zwar  nicht dein Lebensziel gewesen -  aber es ist  doch ehrenwerter und
gottgef

u

lliger  als  in Paris  pomp

u

s zugrunde zu gehen. Sollen die Brouets,
Calteaux und Pelissiers ruhig triumphieren. Giuseppe Baldini r

u

umt das Feld.
Aber er tat es aus freien St

u

cken und ungebeugt!
     Er  war jetzt  direkt stolz auf sich.  Und unendlich  erleichtert.  Zum
ersten Mal seit vielen Jahren wich  der subalterne Krampf aus seinem R

u

cken,
der den Nacken verspannte und die Schultern immer devoter gew

u

lbt hatte, und
er stand ohne Anstrengung aufrecht, gel

u

st und frei und  freute  sich.  Sein
Atem  ging  leicht durch die  Nase.  Er  nahm  den  Geruch  von >Amor und
Psyche<, der das  Zimmer  beherrschte, deutlich wahr, aber  er ließ
sich nichts mehr  von ihm anhaben.  Baldini hatte  sein Leben  ge

u

ndert  und
f

u

hlte sich wunderbar. Er w

u

rde jetzt zu seiner Frau hinaufgehen und sie von
seinen   Entschl

u

ssen   in   Kenntnis  setzen   und  dann   nach  Notre-Dame
hin

u

berpilgern und eine Kerze anz

u

nden,  um Gott zu  danken f

u

r den gn

u

digen
Fingerzeig  und f

u

r die unglaubliche Charakterst

u

rke, die  Er ihm,  Giuseppe
Baldini, verliehen hatte.
     Mit beinahe jugendlichem Elan warf  er  die Per

u

cke  auf  seinen kahlen
Sch

u

del, schl

u

pfte  in den blauen Rock, ergriff den  Leuchter,  der  auf dem
Schreibtischstand, und verließ  das Arbeitszimmer. Er hatte gerade die
Kerze am Talglicht des  Treppenhauses angez

u

ndet, um sich den Weg hinauf zur
Wohnung zu beleuchten, als er es unten im Erdgeschoss klingeln h

u

rte. Es war
nicht  das  sch

u

ne persische Gel

u

ute der  Ladent

u

r,  sondern die scheppernde
Klingel des  Dienstboteneingangs,  ein  ekelhaftes  Ger

u

usch, das ihn  schon
immer  gest

u

rt  hatte. Oft  wollte  er das Ding  entfernen  und  durch  eine
angenehmere  Glocke  ersetzen  lassen,  aber  dann war  es ihm  immer um die
Ausgabe leid gewesen, und jetzt, fiel ihm pl

u

tzlich ein, und er kicherte bei
dem Gedanken, jetzt war's egal; er  w

u

rde die aufdringliche Klingel samt dem
Haus verkaufen. Sollte sein Nachfolger sich dar

u

ber 

u

rgern!
     Wieder schepperte die Klingel.  Er lauschte  nach unten. Offenbar hatte
Chenier  den  Laden  schon  verlassen.  Auch das  Dienstm

u

dchen machte keine
Anstalten zu kommen. So stieg Baldini selbst hinab, um zu 

u

ffnen.
     Er riss  den Riegel  zur

u

ck, schwenkte die  schwere  T

u

r auf  - und sah
nichts.  Die Dunkelheit verschluckte den Schein der Kerze vollst

u

ndig. Dann,
sehr allm

u

hlich, konnte  er  eine  kleine Gestalt  ausmachen,  ein Kind oder
einen halbw

u

chsigen Jungen, der etwas 

u

ber dem Arm trug.
     "Was willst du?"
     "Ich komme von  Maitre Grimal, ich bringe das Ziegenleder",  sagte  die
Gestalt  und trat  n

u

her und hielt Baldini den abgewinkelten Arm mit einigen

u

bereinandergeh

u

ngten H

u

uten  entgegen. Im Lichtschein  erkannte Baldini das
Gesicht  eines  Jungen  mit  

u

ngstlich lauernden Augen.  Seine  Haltung  war
geduckt.  Es schien, als verstecke  er  sich hinter seinem vorgehaltenen Arm
wie einer, der Schl

u

ge erwartet. Es war Grenouille.

     Das  Ziegenleder  f

u

r die  spanische  Haut!  Baldini erinnerte sich. Er
hatte die H

u

ute vor ein paar  Tagen bei Grimal  bestellt, feinstes weichstes
Waschleder f

u

r die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, f

u

nfzehn Franc das
St

u

ck. Aber jetzt brauchte er sie  eigentlich nicht mehr, er konnte sich das
Geld sparen. Andrerseits, wenn er  den Jungen einfach zur

u

ckschickte...? Wer
weiß  -  es  k

u

nnte  einen  ung

u

nstigen  Eindruck  machen,  man  w

u

rde
vielleicht  reden,  Ger

u

chte k

u

nnten  entstehen: Baldini  sei  unzuverl

u

ssig
geworden, Baldini bekomme keine  Auftr

u

ge  mehr,  Baldini  k

u

nne  nicht mehr
zahlen... und so etwas  war nicht  gut,  nein, nein, denn  so  etwas dr

u

ckte
wom

u

glich den Verkaufswert des Gesch

u

fts. Es  war  besser,  diese  nutzlosen
Ziegenh

u

ute anzunehmen.  Niemand  brauchte  zur  Unzeit  zu  erfahren,  dass
Giuseppe Baldini sein Leben ge

u

ndert hatte.
     "Komm herein!"
     Er  ließ den  Jungen  eintreten,  und  sie gingen  in  den  Laden
hin

u

ber,  Baldini  mit  dem  Leuchter  voran, Grenouille  mit seinen  H

u

uten
hinterdrein. Es war das erste Mal,  dass Grenouille  eine Parfumerie betrat,
einen  Ort,  wo  Ger

u

che nicht Beiwerk  waren, sondern  ganz  unverbl

u

mt  im
Mittelpunkt des Interesses standen. Nat

u

rlich  kannte er  s

u

mtliche Parfum -
und  Drogenhandlungen  der  Stadt,  n

u

chtelang  war  er   vor  den  Auslagen
gestanden,  hatte seine  Nase  an die Spalten  der T

u

ren gedr

u

ckt. Er kannte
s

u

mtliche  D

u

fte, die hier  gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern
schon  oft  zu herrlichsten  Parfums zusammengedacht. Es  erwartete ihn also
nichts  Neues. Aber  ebenso  wie ein  musikalisches Kind  darauf brennt, ein
Orchester aus der  N

u

he zu sehen  oder  einmal  in der Kirche auf die Empore
hinaufzusteigen, zum  verborgenen Manual  der  Orgel, so  brannte Grenouille
darauf, eine Parfumerie von innen  zu sehen, und er  hatte, als er h

u

rte, es
solle  Leder  zu  Baldini  geliefert  werden,  alles  daran  gesetzt,  diese
Besorgung 

u

bernehmen zu d

u

rfen.
     Und nun  stand er in Baldinis Laden, an dem  Ort  von Paris, an dem die
gr

u

ßte Anzahl professioneller  D

u

fte auf engstem Raum  versammelt war.
Viel sah  er nicht im vor

u

berfliegenden  Kerzenlicht, nur  kurz den Schatten
des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher  

u

ber dem Becken, einen  Sessel
f

u

r  die Kunden, die dunklen Regale an  den W

u

nden, das kurze Aufblinken von
Messingger

u

t und weißen Etiketten auf Gl

u

sern und Tiegeln; und er roch
auch nicht mehr, als er schon von der Straße her  gerochen hatte. Aber
er sp

u

rte  sofort den Ernst, der in diesen R

u

umen herrschte, fast m

u

chte man
sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort "heilig" f

u

r Grenouille  irgendeine
Bedeutung besessen  h

u

tte;  den  kalten Ernst  sp

u

rte er,  die handwerkliche
N

u

chternheit, den  trockenen  Gesch

u

ftssinn, die an  jedem M

u

bel,  an  jedem
Ger

u

t, an  den Bottichen und Flaschen und T

u

pfen  klebten.  Und  w

u

hrend  er
hinter  Baldini herging, in Baldinis  Schatten, denn Baldini nahm sich nicht
die  M

u

he, ihm zu leuchten, 

u

berkam  ihn der Gedanke,  dass er hierhergeh

u

re
und  nirgendwo anders hin, dass er  hier bleiben werde, dass er von hier die
Welt aus den Angeln heben w

u

rde.
     Dieser Gedanke war  nat

u

rlich von geradezu  grotesker Unbescheidenheit.
Es  gab   nichts,   aber   schon  wirklich  rein  gar  nichts,   was   einen
dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder
Protektion,  ohne   die  geringste  st

u

ndische  Position,  zu  der  Hoffnung
berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu
fassen; um  so weniger,  als, wie wir  wissen,  die  Aufl

u

sung des Gesch

u

fts
bereits beschlossene Sache war. Aber  es handelte sich ja auch nicht um eine
Hoffnung,  die  sich  in  Grenouilles  unbescheidenen  Gedanken  ausdr

u

ckte,
sondern um eine  Gewissheit. Diesen Laden, so  wusste  er, w

u

rde er nur noch
verlassen, um seine  Kleider bei Grimal  abzuholen, und dann nicht mehr. Der
Zeck  hatte  Blut  gewittert.  Jahrelang  war  er  still  gewesen,  in  sich
verkapselt, und hatte  gewartet. Jetzt ließ er sich fallen  auf Gedeih
und Verderb, vollkommen  hoffnungslos. Und deshalb  war seine Sicherheit  so
groß.
     Sie  hatten  den   Laden  durchquert.  Baldini  

u

ffnete  den  nach  der
Flussseite gelegenen Hinterraum,  der teils als Lager,  teils als  Werkstatt
und  Labor  diente,  wo die Seifen gekocht und die Pomaden  ger

u

hrt und  die
Riechw

u

sser  in bauchigen  Flaschen gemischt wurden. "Da!" sagte er und wies
auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, "da leg sie hin!"
     Grenouille trat aus Baldinis Schatten  heraus, legte die  Leder auf den
Tisch, sprang dann rasch wieder zur

u

ck und stellte sich zwischen Baldini und
die  T

u

r.  Baldini  blieb  noch eine Weile stehen. Er hielt die  Kerze etwas
beiseite, damit keine Wachstropfen  auf den Tisch fielen, und strich mit dem
Fingerr

u

cken 

u

ber die glatte Fl

u

che des Leders. Dann schlug  er  das oberste
um  und fuhr 

u

ber  die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war
sehr  gut, dieses Leder.  Wie geschaffen f

u

r  eine spanische Haut. Es  w

u

rde
sich beim Trocknen  kaum  verziehen, es w

u

rde,  wenn man es  richtig mit dem
Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er sp

u

rte das sofort, wenn er es
nur zwischen Daumen und  Zeigefinger  dr

u

ckte; es konnte Duft f

u

r f

u

nf  oder
zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes  Leder  - vielleicht w

u

rde
er Handschuhe  daraus  machen,  drei Paar f

u

r sich und drei  Paar  f

u

r seine
Frau, f

u

r die Reise nach Messina.
     Er zog seine Hand  zur

u

ck. R

u

hrend sah der Arbeitstisch aus: wie  alles
bereit lag;  die Glaswanne f

u

r das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die
Reibschalen  zum  Anmischen  der  Tinktur, Pistill und  Spatel,  Pinsel  und
Falzbein und Schere. Es  war,  als  schliefen die Dinge  nur, weil es dunkel
war,  und als w

u

rden  sie  morgen  wieder lebendig. Vielleicht sollte er den
Tisch  mitnehmen  nach  Messina?  Und einen  Teil seines  Werkzeugs, nur die
wichtigsten St

u

cke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch.
Er bestand aus Eichenbrettern,  und  das Gestell ebenfalls, und er war  quer
verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine
S

u

ure etwas aus und kein 

u

l und kein  Messerschnitt - und ein Verm

u

gen w

u

rde
es  kosten,  ihn nach Messina  zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und  darum
wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf,
darunter und  daneben ist, wird ebenfalls verkauft!  Denn er, Baldini, hatte
zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und
deshalb w

u

rde er, so schwer  es ihm fiel, seinen Entschluss durchf

u

hren; mit
Tr

u

nen in den Augen gab er alles weg, aber er w

u

rde es trotzdem tun, denn er
wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.
     Er drehte  sich um, um  zu  gehen.  Da stand dieser kleine  verwachsene
Mensch in  der  T

u

r, den hatte er  fast schon vergessen. "Es ist gut", sagte
Baldini.  "Richte  dem  Meister  aus, das Leder ist  gut.  Ich  werde in den
n

u

chsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen."
     "Jawohl", sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der
sich  anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein
wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das  Verhalten des Jungen nicht
f

u

r Chuzpe, sondern f

u

r Sch

u

chternheit.
     "Was ist?" fragte er. "Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es
nur!" Grenouille stand geduckt und schaute Baldini  mit  jenem Blick an, der
scheinbar  

u

ngstlichkeit  verriet,  in  Wirklichkeit  aber  einer  lauernden
Gespanntheit entsprang.
     "Ich  will bei  Ihnen  arbeiten, Maitre  Baldini.  Bei Ihnen,  in Ihrem
Gesch

u

ft will ich arbeiten."
     Das war nicht bittend gesagt, sondern  fordernd, und es war auch  nicht
eigentlich gesagt, sondern herausgepresst,  hervorgezischelt, schlangenhaft.
Und wieder verkannte Baldini  das unheimliche Selbstbewusstsein  Grenouilles
als  knabenhafte  Unbeholfenheit.  Er l

u

chelte  ihn freundlich an. "Du  bist
Gerberlehrling, mein  Sohn", sagte er, "ich habe keine Verwendung f

u

r  einen
Gerberlehrling. Ich habe  selbst einen Gesellen, und einen Lehrling  brauche
ich nicht."
     "Sie  wollen  diese  Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini?  Diese
Leder, die ich Ihnen  gebracht habe, die wollen Sie  doch  riechen  machen?"
zischelte Grenouille,  als  habe er Baldinis Antwort  gar nicht zur Kenntnis
genommen.
     "In der Tat", sagte Baldini.
     "Mit  >Amor und  Psyche<  von  Pelissier?" fragte  Grenouille und
duckte  sich  noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken  durch
Baldinis  K

u

rper.  Nicht  weil er sich  fragte, woher der  Bursche  so genau
Bescheid  wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses  verhassten
Parfums, an dessen Entr

u

tselung er heute gescheitert war.
     "Wie  kommst  du auf  die  absurde Idee,  ich  w

u

rde ein fremdes Parfum
benutzen, um..."
     "Sie  riechen  danach!" zischelte  Grenouille.  "Sie tragen es  auf der
Stirn, und  in der rechten Rocktasche haben  Sie ein  Tuch, das ist getr

u

nkt
davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es
ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosen

u

l."
     "Aha", sagte Baldini,  der  von  der  Wendung des Gespr

u

chs  ins Exakte
v

u

llig 

u

berrascht war, "was noch?"
     "Orangenbl

u

te,  Limette,  Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist  und etwas,
von dem ich den Namen  nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!"
Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt  den Leuchter in die
angegebene Richtung, sein Blick folgte dem  Zeigefinger des Jungen  und fiel
auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gef

u

llt war.
     "Storax?" fragte er.
     Grenouille nickte. "Ja. Das ist drin. Storax." Und dann kr

u

mmte er sich
wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte  mindestens ein dutzendmal
das Wort >Storax< vor sich hin:
     "Storaxstoraxstoraxstorax..."
     Baldini hielt  die Kerze gegen das storaxkr

u

chzende H

u

uflein Mensch und
dachte: Entweder ist er besessen,  oder  er  ist  ein betr

u

gerischer Gauner,
oder  er ist ein  begnadetes Talent.  Denn dass die  angegebenen  Stoffe  in
richtiger  Zusammensetzung  das  Parfum   >Amor  und  Psyche<  ergeben
konnten, war durchaus m

u

glich; es  war sogar wahrscheinlich. Rosen

u

l,  Nelke
und  Storax  - nach  diesen drei  Komponenten  hatte er heute  Nachmittag so
verzweifelt gesucht; mit ihnen f

u

gten sich die anderen Teile der Komposition
-  die  auch  er erkannt  zu haben glaubte -  wie Segmente zu einem h

u

bschen
runden  Kuchen. Es  war  jetzt  nur  noch  die  Frage,  in  welchem  exakten
Verh

u

ltnis zueinander man sie f

u

gen musste. Um das herauszufinden, w

u

rde er,
Baldini,  tagelang  herumexperimentieren m

u

ssen,  eine entsetzliche  Arbeit,
fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren  der Teile,  denn nun
galt  es,  zu messen und zu w

u

gen  und zu  notieren und dabei  doch h

u

llisch
aufzupassen,  denn  die  kleinste  Unaufmerksamkeit - ein  Zittern  mit  der
Pipette, ein  Fehler  beim Tropfenz

u

hlen - konnte alles verderben. Und jeder
verpatzte Versuch war gr

u

ßlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete
ein  kleines  Verm

u

gen...  Er wollte  den  kleinen Menschen  auf  die  Probe
stellen,  wollte  ihn nach  der  exakten Formel  von >Amor und Psyche<
fragen. Wenn  er sie  wusste, auf  Gramm  und  Tropfen  genau - dann  war er
offenkundig  ein  Betr

u

ger,  der  sich  auf  irgendeine Weise das Rezept von
Pelissier  ergaunert hatte, um sich bei  Baldini  Zutritt  und Anstellung zu
verschaffen.  Erriet er sie aber ungef

u

hr, dann war er ein  Geruchsgenie und
forderte als solches Baldinis professionelles Interesse  heraus. Nicht  dass
Baldini  seinen  gefassten  Entschluss, das Gesch

u

ft  aufzugeben,  in  Frage
stellte!  Es kam ihm nicht auf das  Parfum  von  Pelissier  als solches  an.
Selbst wenn der Bursche es ihm literweise  verschaffte, Baldini dachte nicht
im  Traum daran, die spanische  Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften,
aber... Aber  man  war  doch  nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte
sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von D

u

ften besch

u

ftigt, um
von einer  Stunde  zur  anderen seine ganze  professionelle Leidenschaft  zu
verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums
herauszubekommen,  und  mehr noch,  das Talent dieses unheimlichen Jungen zu
erforschen, der ihm  einen  Duft von der Stirne abgelesen  hatte.  Er wollte
wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.
     "Du hast, so scheint  es,  eine  feine Nase, junger  Mann",  sagte  er,
nachdem Grenouille mit seinem Gekr

u

chze  aufgeh

u

rt hatte, und trat zur

u

ck in
die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf  dem Arbeitstisch abzustellen,
"eine zweifellos feine Nase, aber..."
     "Ich  habe   die  beste   Nase  von  Paris,  Maitre  Baldini",schnarrte
Grenouille dazwischen. "Ich kenne  alle Ger

u

che der Welt, alle, die in Paris
sind, alle,  nur kenne ich  von manchen die Namen nicht, aber ich  kann auch
die Namen lernen, alle Ger

u

che, die Namen  haben, das sind  nicht viele, das
sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des
Balsams  nie  vergessen,  Storax,  der  Balsam   heisst  Storax  heisst  er,
Storax..."
     "Schweig!" rief Baldini, "unterbrich mich  nicht,  wenn ich spreche! Du
bist  vorlaut und  anmaßend.  Kein  Mensch kennt  tausend Ger

u

che beim
Namen.  Selbst  ich  kenne nicht  tausend  beim  Namen,  sondern nur  einige
hundert, denn  mehr  gibt es nicht  in  unserem Gewerbe als einige  hundert,
alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!"
     Grenouille,  der  sich w

u

hrend seiner  l

u

ngeren  eruptiven Zwischenrede
beinahe k

u

rperlich entfaltet,  in der  Erregung  sogar  f

u

r einen Moment mit
beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das  >alles, alles<, was er
kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in
sich  zusammen  wie  eine  kleine  schwarze  Kr

u

te  und  verharrte  auf  der
T

u

rschwelle, bewegungslos lauernd.
     "Ich bin mir", fuhr Baldini fort, "selbstverst

u

ndlich l

u

ngst dar

u

ber im
klaren, dass >Amor  und Psyche< aus  Storax,  Rosen

u

l  und Nelke sowie
Bergamott  und  Rosmarinextrakt  et cetera besteht.  Um  das herauszufinden,
bedarf es, wie gesagt,  bloß einer leidlich  feinen  Nase, und es  mag
durchaus  sein,  dass Gott dir  eine leidlich feine  Nase  gegeben  hat, wie
vielen, vielen  anderen Menschen  auch -  namentlich  in  deinem  Alter. Der
Parfumeur jedoch"  - und hier hob Baldini  den  Zeigefinger und w

u

lbte seine
Brust  heraus  - "der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine  leidlich feine
Nase.  Er  braucht  ein  

u

ber  viele  Jahrzehnte  geschultes,  unbestechlich
arbeitendes Riechorgan,  das  ihn  in Stand  versetzt, auch  komplizierteste
Ger

u

che nach Art und Menge sicher zu entr

u

tseln, ebenso wie neue, unbekannte
Duftgemische  zu  kreieren. Eine solche Nase" - und er tippte mit dem Finger
an die seine 
"hat
 man nicht,  junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich
mit Ausdauer und Fleiß. Oder k

u

nntest du mir vielleicht auf Anhieb die
exakte Formel von >Amor und Psyche< nennen? Nun? K

u

nntest du das?"
     Grenouille antwortete nicht.
     "K

u

nntest  du  sie mir vielleicht ungef

u

hr verraten?" sagte Baldini und
beugte sich ein wenig vor, um die Kr

u

te in der T

u

r genauer zu sehen, "nur so
in etwa, sch

u

tzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!"
     Doch Grenouille schwieg.
     "Siehst  du?"   sagte  Baldini   gleichermaßen   befriedigt   wie
entt

u

uscht und richtete sich  wieder  auf, "du  kannst  es nicht.  Nat

u

rlich
nicht. Wie solltest  du es auch k

u

nnen.  Du bist wie einer, der  beim  Essen
schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der  Suppe ist. Nun gut das ist schon
etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in
jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie
nichts, aber  alles  die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß
erworben wird."
     Er  griff  nach dem  Leuchter  auf dem Tisch, als Grenouilles gePresste
Stimme von der T

u

r her schnarrte:
     "Ich weiß nicht, was eine Formel  ist, Mahre, das weiß  ich
nicht, sonst weiß ich alles!"
     "Eine Formel ist das A und O jeden  Parfums", erwiderte Baldini streng,
denn er  wollte  dem Gespr

u

ch nun  ein Ende machen. "Sie ist  die akribische
Anweisung, in welchem Verh

u

ltnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind,
damit der  eine gew

u

nschte,  unverwechselbare  Duft  entstehe;  das  ist die
Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst." "Formel,
Formel", kr

u

chzte Grenouille  und wurde etwas gr

u

ßer  in der T

u

r, "ich
brauche keine  Formel. Ich  habe das Rezept in meiner  Nase. Soll ich es f

u

r
Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?"
     "Wie  denn?" rief Baldini mit ziemlicher Lautst

u

rke und hielt dem  Gnom
die Kerze vors Gesicht. "Wie denn mischen?"
     Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zur

u

ck. "Aber sie sind doch
alle da, die man  braucht, die Ger

u

che,  sind doch alle da, in diesem Raum",
sagte  er und deutete wieder ins Dunkle. "Rosen

u

l da! Orangenbl

u

te da! Nelke
da! Rosmarin da...!"
     "Freilich sind sie da!" br

u

llte Baldini. "Alle sind  sie  da! Aber  ich
sage dir doch, Holzkopf, das n

u

tzt nichts, wenn man die Formel nicht hat!"
     "...Jasmin  da!  Weingeist  da!  Bergamotte  da! Storax  da!"  kr

u

chzte
Grenouille  weiter  und deutete bei jedem Namen  auf  einen anderen Punkt im
Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen
h

u

chstens ahnen konnte.
     "Du  siehst  wohl auch bei Nacht,  he?"  fuhr  Baldini ihn an, "du hast
nicht nur die  feinste  Nase, sondern auch  die sch

u

rfsten Augen  von Paris,
wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann  mach sie auf, denn ich sage
dir: Du bist  ein  kleiner  Betr

u

ger.  Wahrscheinlich  hast du  irgend etwas
aufgeschnappt bei Pelissier, hast  was  ausspioniert,  wie? Und  glaubst, du
k

u

nntest mich hinters Licht f

u

hren?"
     Grenouille stand jetzt  ganz auseinandergefaltet,  sozusagen in  voller
K

u

rpergr

u

ße in der  T

u

re, mit leicht  auseinandergestellten Beinen und
leicht  abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die
sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. "Geben Sie mir zehn Minuten", sagte
er in ziemlich fl

u

ssiger Rede, "und  ich werde Ihnen das Parfum >Amor und
Psyche<  herstellen. Jetzt  gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben
Sie mir f

u

nf Minuten!"
     "Du glaubst,  ich  lasse dich in meiner  Werkstatt herumpantschen?  Mit
Essenzen, die ein Verm

u

gen wert sind? Dich?"
     "Ja", sagte Grenouille.
     "Pah!" rief  Baldini  und  stieß  dabei  den ganzen Atem, den  er
hatte, auf einmal heraus. Dann  holte  er tief  Luft,  sah den spinnenhaften
Grenouille  lange  an und 

u

berlegte. Im Grunde ist es egal, dachte  er, denn
morgen hat sowie soalles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er  das, was er
behauptet,  nicht  kann,  ja  gar  nicht  k

u

nnen  kann, er  w

u

re  denn  noch
gr

u

ßer als der  große Frangipani. Aber  warum soll  ich mir das,
was  ich weiß, nicht noch  vor Augen  demonstrieren lassen?  Wom

u

glich
kommt mir  sonst in Messina eines  Tages  man wird ja manchmal  sonderbar im
Alter  und versteift sich auf die  verr

u

cktesten Ideen  -  der Gedanke,  ich
h

u

tte  ein  olfaktorisches  Genie,  ein Wesen,  auf  dem  die  Gnade  Gottes

u

berreichlich ruhte, ein Wunderkind, als  solches nicht  erkannt... - Es ist
ganz  ausgeschlossen.  Nach  allem,  was  mir  der  Verstand  sagt,  ist  es
ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst
sterbe in Messina, und auf dem  Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in
Paris, an  jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das
w

u

re nicht sehr  angenehm, Baldini!  Soll der  Narr die paar Tropfen Rosen

u

l
und Moschustinktur verkleckern, du selbst h

u

ttest sie auch verkleckert, wenn
dich das  Parfum  von  Pelissier noch  wirklich interessierte. Und  was sind
schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! -  gemessen an der
Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?
     "Pass auf!" sagte er mit k

u

nstlich strenger Stimme, "pass auf! Ich... -
wie heisst du 

u

berhaupt?"
     "Grenouille", sagte Grenouille. "Jean-Baptiste Grenouille."
     "Aha", sagte Baldini.  "Also pass auf,  Jean-Baptiste  Grenouille!  Ich
habe es  mir 

u

berlegt. Du  sollst  die Gelegenheit bekommen, jetzt,  sofort,
deine Behauptung  zu beweisen. Dies ist  zugleich eine Gelegenheit f

u

r dich,
durch ein  eklatantes Scheitern  die Tugend der  Bescheidenheit  zu  lernen,
welche  - in deinem  jungen Alter vielleicht  verzeihlicherweise  noch  kaum
entwickelt - eine  unabdingbare  Voraussetzung f

u

r  dein sp

u

teres Fortkommen
als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als
Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin  bereit,  dir diese Lehre
auf meine Kosten  zu erteilen, denn aus  bestimmten Gr

u

nden  bin  ich  heute
spendabel  aufgelegt, und,  wer  weiß, vielleicht wird mir eines Tages
die  R

u

ckerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit  bereiten.  Aber  glaube
nicht, du  k

u

nntest mich 

u

bert

u

lpeln!  Giuseppe Baldinis Nase ist alt,  aber
sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner
Mixtur und diesem  Produkt  hier"  -  und dabei  zog  er sein  >Amor  und
Psyche< -  getr

u

nktes T

u

chlein aus der Tasche  und wedelte  es Grenouille
vor die  Nase - "sofort  festzustellen. Tritt  n

u

her, beste Nase von  Paris!
Tritt n

u

her an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du
mir nichts umst

u

ßt und herunterwirfst! R

u

hre mir nichts an!  Erst will
ich  mehr  Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben f

u

r dieses
kleine Experiment, nicht wahr?"
     Und  damit  nahm er zwei andere Leuchter, die  am Rand des großen
Eichentisches  standen,  und  z

u

ndete sie  an. Er postierte  sie  alle  drei
nebeneinander an der hinteren L

u

ngsseite,  schob das Leder  beiseite, r

u

umte
den mittleren  Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen
Griffen, holte er die Ger

u

te, die das Gesch

u

ft erforderte, von einem kleinen
Gestell: die große bauchige Mischflasche,  den gl

u

sernen Trichter, die
Pipette,  das  kleine  und  das  große   Messglas,   und  stellte  sie
wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.
     Grenouille hatte  sich inzwischen vom T

u

rrahmen  gel

u

st. Schon  w

u

hrend
Baldinis  pomp

u

ser  Rede  war  das  Versteifte, lauernd Verdruckte  von  ihm
abgefallen. Er  h

u

rte nur die  Zustimmung, nur das  Ja, mit dem innern Jubel
eines   Kindes,  das  sich  ein  Zugest

u

ndnis  ertrotzt  hat  und  auf   die
Einschr

u

nkungen,  Bedingungen  und moralischen Ermahnungen,  die  sich daran
kn

u

pfen, pfeift. Locker  dastehend, einem  Menschen zum ersten Mal 

u

hnlicher
als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis  Suada 

u

ber sich ergehen
und  wusste, dass  er diesen Mann,  der ihm nun  nachgab,  schon 

u

berw

u

ltigt
hatte.
     W

u

hrend  Baldini  noch  mit   seinen  Kerzenleuchtern   auf  dem  Tisch
hantierte, schl

u

pfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt,
wo die  Regale mit den kostbaren Essenzen, 

u

len und  Tinkturen  standen, und
griff  sich,  der sicheren Witterung  seiner Nase  folgend,  die  ben

u

tigten
Fl

u

schchen von  den Borden. Neun waren es  an der Zahl: Orangenbl

u

tenessenz,
Limetten

u

l, Nelken- und Rosen

u

l,  Jasmin-, Bergamotte- und  Rosmarinextrakt,
Moschustinktur und Storaxbalsam,  die er sich rasch  herunterpfl

u

ckte und am
Rand des Tisches  zurechtstellte.  Als letztes schleppte er einen Ballon mit
hochprozentigem  Weingeist heran. Dann stellte  er sich hinter Baldini,  der
noch  immer mit bed

u

chtiger Pedanterie seine  Mischgef

u

ße arrangierte,
dieses Glas  ein wenig  dahin  r

u

ckte, jenes noch  ein  wenig dorthin, damit
alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht
der Leuchter pr

u

sentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte
sich entferne und ihm Platz mache.
     "So!" sagte  Baldini  endlich  und trat  zur  Seite.  "Hier  ist  alles
aufgereiht,  was   du   f

u

r   dein   -   nennen  wir   es  freundlicherweise
>Experiment<  ben

u

tigst.  Zerbrich mir  nichts, vertropfe mir  nichts!
Denn  merke:  Diese  Fl

u

ssigkeiten,  mit denen du  jetzt  f

u

nf  Minuten lang
hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit  und Seltenheit, wie du sie nie
wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in H

u

nden halten wirst!"
     "Wie  viel soll  ich  Ihnen  machen,  Maitre?"  fragte  Grenouille."Was
machen...?"  sagte  Baldini, der seine Rede noch  nicht beendet hatte.  "Wie
viel von  dem Parfum?"  schnarrte  Grenouille,  "wie viel davon  wollen  Sie
haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollf

u

llen?" Und er deutete
auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.
     "Nein, das  sollst du nicht!" schr ie Baldini entsetzt,  und  es schrie
aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung
seines Eigentums. Und als geniere  er sich  

u

ber diesen entlarvenden Schrei,
br

u

llte er gleich hinterher:  "Und  in die Rede fallen  sollst du  mir  auch
nicht!" um  dann in ruhigerem, ironisch eingef

u

rbtem Ton fortzufahren: "Wozu
brauchen wir drei Liter  von einem Parfum, das wir beide nicht  sch

u

tzen? Im
Grunde  gen

u

gte ein halber Messbecher  voll.  Da  solch  kleine  Quantit

u

ten
jedoch unpr

u

zis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelf

u

llung
der Mischflasche anzusetzen."
     "Gut",  sagte Grenouille. "Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit
>Amor und Psyche< f

u

llen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine
Art. Ich  weiß nicht, ob das die z

u

nftige Art ist, denn die kenne  ich
nicht, aber ich mache es auf meine Art."
     "Bitte!" sagte  Baldini, der wusste, dass es bei  diesem Gesch

u

ft nicht
meine oder deine, sondern eben nur eine, eine  einzig m

u

gliche und  richtige
Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter  entsprechender
Umrechnung  auf  die zu erzielende  Endmenge ein aufs  Exakteste vermessenes
Konzentrat aus  den verschiedenen  Essenzen herzustellen, welches  daraufhin
mit Alkohol in einem wiederum exakten Verh

u

ltnis, das meistens zwischen eins
zu zehn  und eins  zu zwanzig schwankte,  zum endg

u

ltigen Parfum vergeistigt
werden musste.  Eine andre  Art, das wusste er,  gab es nicht.  Und  deshalb
musste  ihm  das, was er  nun  zu  sehen  bekam  und  was  er  zun

u

chst  mit
sp

u

ttischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch  mit
hilflosem  Erstaunen  beobachtete,  als  schieres Wunder erscheinen. Und die
Szene 

u

tzte sich so in sein Ged

u

chtnis  ein, dass er sie bis ans Ende seiner
Tage nicht mehr vergaß.

     Der  kleine  Mensch  Grenouille  entkorkte als  erstes  den  Ballon mit
Weingeist. Er hatte M

u

he, das schwere Gef

u

ß hochzuwuchten. Fast bis in
Kopfh

u

he musste er  es heben,  denn so  hoch  stand die Mischflasche mit dem
aufgesetzten Glastrichter,  in  den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers,
den Alkohol direkt aus  dem  Ballon  goss.  Baldini schauderte  vor so  viel
geballtem  Unverm

u

gen:   Nicht  nur,   dass  der   Kerl  die  parfumistische
Weltordnung  auf den  Kopf stellte, indem er mit  dem  L

u

sungsmittel anfing,
ohne das zu l

u

sende  Konzentrat zu besitzen - er war auch kaum physisch dazu
in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete  jeden Moment
damit,  dass  der schwere  Ballon  herunterkrachen und alles  auf  dem Tisch
zertr

u

mmern werde. Die Kerzen,  dachte  er, um Gottes willen, die Kerzen! Es
wird eine Explosion geben,  er wird mein  Haus  abbrennen...! Und er  wollte
schon hinst

u

rzen,  um dem  Verr

u

ckten  den  Ballon  zu entreißen,  als
Grenouille ihn selber absetzte, heil  zu Boden brachte und wieder verkorkte.
In  der Mischflasche schwankte  die leichte klare Fl

u

ssigkeit  - es war kein
Tropfen  danebengegangen. F

u

r ein  paar Momente verschnaufte sich Grenouille
und   machte   dabei   ein  so   zufriedenes   Gesicht,  als  habe   er  den
beschwerlichsten Teil der Arbeit schon  hinter sich. Und in der Tat ging das
Folgende mit  einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini  mit
den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur
einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens h

u

tte erkennen k

u

nnen.
     Anscheinend  wahllos griff Grenouille in die Reihe der  Flakons mit den
Duftessenzen, riss  die  Glasst

u

psel  heraus, hielt sich den Inhalt f

u

r eine
Sekunde  unter  die Nase,  sch

u

ttete dann von  diesem,  tr

u

pfelte von  einem
anderen, gab einen Schuss  von einem dritten Fl

u

schchen in den Trichter  und
so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, L

u

ffelchen  und R

u

hrstab - all  die
Ger

u

te, die  den komplizierten Mischprozess f

u

r  den Parfumeur  beherrschbar
machen, r

u

hrte  Grenouille kein  einziges Mal an. Es war, als spiele er nur,
als pritschle und pansche er wie ein Kind, das  aus Wasser,  Gras und  Dreck
einen scheußlichen Sud kocht und  dann behauptet,  es sei eine  Suppe.
Ja, wie ein Kind, dachte Baldini;  er sieht auch mit  einem Mal aus wie  ein
Kind,  trotz  seinen klobigen  H

u

nden, trotz seinem  vernarbten,  zerkerbten
Gesicht und  der knolligen Altm

u

nnernase. Ich  habe ihn f

u

r  

u

lter gehalten,
als er ist, und jetzt kommt er mir  j

u

nger vor; wie drei oder vier kommt  er
mir vor;  wie diese  unzug

u

nglichen, unbegreiflichen,  eigensinnigen kleinen
Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles
auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun w

u

rden,
wenn man sie in  ihrem Gr

u

ßenwahn gew

u

hren ließe und nicht durch
strengste erzieherische Maßnahmen nach und  nach disziplinierte und an
die  selbstbeherrschte  Existenz  des  Vollmenschen  heranf

u

hrte. Ein  solch
fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit gl

u

henden Augen
am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar  gar nicht
mehr wusste, dass es noch  etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm
und diesen Flaschen, die er mit  behender Tapsigkeit an den Trichter f

u

hrte,
um sein  wahnsinniges  Gebr

u

u  zu mischen,  von  dem er  hinterher todsicher
behaupten w

u

rde - und auch  noch daran glaubte! - es sei das erlesene Parfum
>Amor und Psyche<.  Es schauderte  Baldini,  als er dem im flackernden
Kerzenlicht  so gr

u

ßlich verkehrt und so gr

u

ßlich  selbstbewusst
hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen  - so dachte er, und ihm war f

u

r
einen  Moment  wieder  so  traurig  und  elend  und  w

u

tend  zumute  wie  am
Nachmittag, als er auf die in der D

u

mmerung rotgl

u

hende Stadt geblickt hatte
seinesgleichen  h

u

tte  es  fr

u

her  nicht  gegeben;  das war ein  ganz  neues
Exemplar  der  Gattung,  wie es  nur  in  dieser maroden, verlotterten  Zeit
entstehen  konnte...  Aber er  sollte seine  Lehre  bekommen, der pr

u

potente
Bursche! Zusammenputzen w

u

rde er ihn am Ende dieser l

u

cherlichen Auff

u

hrung,
dass  er  davonschlich als  das  geduckte  H

u

uflein  Nichts,  als welches er
gekommen war. Geschmeiß! Man  durfte sich 

u

berhaupt mit niemandem mehr
einlassen heutzutage, denn es wimmelte von l

u

cherlichem Geschmeiß!
     So  besch

u

ftigt war Baldini mit seiner inneren Emp

u

rung und seinem Ekel
vor der Zeit,  dass  er  nicht recht  begriff, was es  bedeuten sollte,  als
Grenouille pl

u

tzlich s

u

mtliche Flakons verst

u

pselte, den  Trichter  aus  der
Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit
der  flachen  linken  Hand verschloss  und heftig sch

u

ttelte.  Erst als  die
Flasche mehrmals durch die Luft  gewirbelt  war,  ihr  kostbarer Inhalt  wie
Limonade vom Bauch in den Hals und zur

u

ck st

u

rzte, stieß Baldini einen
Wut- und Entsetzensschrei  aus.  "Halt!" kreischte  er.  "Genug  jetzt!  H

u

r
augenblicklich auf! Basta! Stell sofort  die Flasche auf den Tisch und r

u

hre
nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein,
mir dein t

u

richtes Geschw

u

tz 

u

berhaupt  anzuh

u

ren. Die Art und Weise, wie du
mit  den Dingen umgehst,deine Grobheit,  dein  primitiver Unverstand  zeigen
mir,  dass du ein St

u

mper bist, ein  barbarischer  St

u

mper und ein  lausiger
frecher  Rotzbengel obendrein.  Du  taugst nicht  mal zum  Limonadenmischer,
nicht einmal zum  einfachsten Lakritzwasserverk

u

ufer taugst  du,  geschweige
denn  zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar  und zufrieden,  wenn  dich  dein
Meister weiterhin mit Gerberbr

u

he panschen l

u

sst! Wage es nicht noch einmal,
h

u

rst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß 

u

ber die Schwelle
eines Parfumeurs zu setzen!"
     So  sprach Baldini. Und w

u

hrend er noch sprach,  war der  Raum  um  ihn
herum  schon  duftges

u

ttigt  von  >Amor  und  Psyche<.  Es  gibt  eine

u

berzeugungskraft des Duftes, die st

u

rker ist als Worte, Augenschein, Gef

u

hl
und Wille.  Die 

u

berzeugungskraft des Duftes ist nicht  abzuwehren, sie geht
in uns hinein wie die  Atemluft in unsere Lungen, sie erf

u

llt uns, f

u

llt uns
vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.
     Grenouille hatte  die Flasche abgesetzt, die mit Parfum  benetzte  Hand
vom Hals  genommen  und an  seinem  Rocksaum abgewischt.  Ein,  zwei Schritt
zur

u

ck,  das  linkische  Zusammenklappen  seines   K

u

rpers   unter  Baldinis
Standpauke schlugen gen

u

gend Wellen in der Luft,  um den neugeschaffnen Duft
ringsum  zu  verbreiten. Mehr war nicht n

u

tig.  Zwar, Baldini tobte noch und
zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine 

u

ußerlich zur
Schau gestellte  Wut  im  Innern  weniger  Nahrung.  Ihm  schwante, dass  er
widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos
steigern  konnte. Und  als  er schwieg, eine  Weile  lang geschwiegen hatte,
brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: "Es ist fertig." Er wusste
es ohnehin.
     Aber trotzdem,  obwohl  ihn  mittlerweile  von  allen  Seiten  her  die
>Amor-und-Psyche<-schwere  Luft  umwallte,   trat  er  an   den  alten
Eichentisch, um eine Probe vorzunehmen. Zog ein frisches, schneeweißes
Spitzent

u

chlein aus der Rocktasche, aus der linken, entfaltete es und tupfte
darauf ein paar Tropfen,  die er mit der langen Pipette aus der Mischflasche
gezogen  hatte.  Schwenkte  das  T

u

chlein am  ausgestreckten  Arm, um es  zu
aerieren, und  zog es dann mit der ge

u

bten zierlichen  Bewegung unter seiner
Nase  hindurch,  den  Duft  in sich  einsaugend. W

u

hrend  er  ihn  ruckweise
ausstr

u

men  ließ,  setzte er  sich auf einen  Hocker. Er war zuvor von
seinem  - Wutausbruch noch tiefrot  im Gesicht gewesen  - mit einem Mal ganz
blass geworden.  "Unglaublich", murmelte er leise  vor sich hin, "bei Gott -
unglaublich."
     Und wieder und  wieder dr

u

ckte  er  die Nase  gegen  das  T

u

chlein  und
schn

u

ffelte  und sch

u

ttelte  den Kopf und  murmelte  "unglaublich.":  Es war
>Amor  und  Psyche<,   ohne   den   geringsten  Zweifel  >Amor  und
Psyche<, das hassenswert  geniale Duftgemisch, so  pr

u

zise  kopiert, dass
nicht  einmal Pelissier selber  es von seinem  Produkt  w

u

rde  unterscheiden
k

u

nnen. "Unglaublich..."
     Klein und blass  saß der große  Baldini auf dem Hocker  und
sah l

u

cherlich aus mit  seinem  T

u

chlein  in  der  Hand,  das  er  wie  eine
verschnupfte Jungfer gegen  die  Nase dr

u

ckte. Die Sprache hatte es  ihm nun
vollst

u

ndig verschlagen.  Er  sagte nicht einmal "unglaublich" mehr, sondern
stieß nur noch,  indem  er fortw

u

hrend leise nickte und auf den Inhalt
der Mischflasche  starrte, ein  monotones "Hm, hm, hm...hm, hm, hm...hm, hm,
hm.." aus. Nach einer Weile n

u

herte sich Grenouille und trat lautlos wie ein
Schatten an den Tisch.
     "Es  ist  kein   gutes  Parfum",  sagte  er,  "es  ist   sehr  schlecht
zusammengesetzt, dieses Parfum."
     "Hm, hm,  hm", sagte  Baldini,  und  Grenouille  fuhr  fort: "Wenn  Sie
erlauben, Maitre, will ich es verbessern. Geben Sie mir eine Minute, und ich
mache Ihnen ein anst

u

ndiges Parfum daraus!"
     "Hm,  hm,  hm",  sagte  Baldini und nickte.  Nicht  weil er  zustimmte,
sondern weil er eben in einem so hilflos apathischen Zustand war, dass er zu
allem und jedem  "hm,  hm, hm" gesagt und  genickt h

u

tte. Und er nickte auch
weiter  und  murmelte "hm,  hm, hm" und machte keine Anstalten einzugreifen,
als Grenouille  zum  zweiten  Mal  zu mischen  anfing,  ein zweites  Mal den
Weingeist  aus  dem Ballon  in die  Mischflasche  goss,  zum  bereits  darin
befindlichen Parfum  hinzu,  zum zweiten  Mal  den  Inhalt  der  Flakons  in
scheinbar wahlloser Reihenfolge und Menge in den Trichter kippte. Erst gegen
Ende der Prozedur - Grenouille sch

u

ttelte die Flasche diesmal nicht, sondern
schwenkte sie  nur sachte  wie ein  Cognacglas, vielleicht mit R

u

cksicht auf
Baldinis  Zartgef

u

hl,  vielleicht  weil  ihm der  Inhalt  diesmal  kostbarer
erschien - erst jetzt also, als die Fl

u

ssigkeit schon fertig  in der Flasche
kreiselte, erwachte Baldini aus seinem bet

u

ubten Zustand und erhob sich, das
T

u

chlein freilich immer noch vor die Nase gepresst, als wolle er  sich gegen
einen neuerlichen Angriff auf sein Inneres wappnen.
     "Es ist fertig,  Maitre", sagte Grenouille.  "Jetzt  ist  es  ein recht
guter Duft."
     "Jaja,  schon gut,  schon gut",  erwiderte Baldini  und winkte  ab  mit
seiner freien Hand.
     "Wollen  Sie  nicht eine  Probe  nehmen?"  gurgelte Grenouille  weiter,
"wollen Sie nicht, Maitre? Keine Probe?"
     "Sp

u

ter, bin jetzt nicht aufgelegt zu einer Probe... habe andere Sachen
im Kopf. Geh jetzt! Komm!"
     Und er nahm einen der Leuchter und  ging zur T

u

r hinaus, hin

u

ber in den
Laden. Grenouille  folgte ihm. Sie  kamen in den schmalen Korridor, der  zum
Dienstboteneingang  f

u

hrte. Der Alte  schlurfte  auf die Pforte zu, riss den
Riegel zur

u

ck und 

u

ffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen.
     "Darf ich nun bei Ihnen arbeiten, Maitre, darf ich?" fragte Grenouille,
schon auf der Schwelle stehend, wieder geduckt, wieder lauernden Auges.
     "Ich  weiß   es  nicht",   sagte  Baldini,  "ich  werde   dar

u

ber
nachdenken. Geh!"
     Und  dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt
von  der  Dunkelheit.  Baldini stand da  und  glotzte  in die  Nacht. In der
rechten Hand hielt er den Leuchter, in  der linken das  T

u

chlein, wie einer,
der Nasenbluten hat, und hatte  doch nur Angst.  Rasch riegelte er die  T

u

re
zu. Dann nahm er das sch

u

tzende Tuch vom Gesicht, schob es in die Tasche und
ging durch den Laden in die Werkstatt zur

u

ck. Der Duft war so himmlisch gut,
dass  Baldini  schlagartig das Wasser in die Augen  trat. Er  brauchte keine
Probe zu  nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete.
Das Parfum war herrlich. Es war im Vergleich zu >Amor und  Psyche< wie
eine  Sinfonie im Vergleich  zum  einsamen Gekratze einer Geige.  Und es war
mehr.  Baldini schloss die Augen  und  sah  sublimste Erinnerungen  in  sich
wachgerufen.  Er sah  sich als einen jungen Menschen durch abendliche G

u

rten
von Neapel gehen; er  sah sich in den Armen  einer Frau mit schwarzen Locken
liegen und sah  die Silhouette eines Strauchs von Rosen auf dem Fenstersims,

u

ber das ein Nachtwind ging; er h

u

rte versprengte V

u

gel singen und von Ferne
die Musik aus einer Hafenschenke; er h

u

rte Fl

u

sterndes ganz dicht am Ohr, er
h

u

rte ein  Ich  lieb dich  und  sp

u

rte,  wie  sich ihm  vor Wonne die  Haare
str

u

ubten, jetzt!  jetzt in diesem  Augenblick!  Er riss  die  Augen auf und
st

u

hnte vor  Vergn

u

gen. Dieses  Parfum war  kein  Parfum, wie man es  bisher
kannte. Das  war kein  Duft, der besser riechen machte, kein  Sentbon,  kein
Toilettenartikel.  Das  war ein v

u

llig  neuartiges Ding, das eine ganze Welt
aus  sich  erschaffen  konnte,  eine   zauberhafte,  reiche  Welt,  und  man
vergaß mit einem Schlag  die Ekelhaftigkeiten  um sich her  und f

u

hlte
sich so reich, so wohl, so frei, so gut...
     Die  gestr

u

ubten Haare an Baldinis Arm  legten sich, und eine bet

u

rende
Seelenruhe ergriff  Besitz von ihm. Er nahm das Leder, das  Ziegenleder, das
am Rand  des Tisches lag und nahm ein Messer und  schnitt das Leder zu. Dann
legte er  die St

u

cke  in die  Wanne aus Glas und  

u

bergoss sie mit dem neuen
Parfum. Er st

u

rzte eine  Glasplatte auf die  Wanne, zog den Rest  des Duftes
auf zwei Fl

u

schchen, die er mit Etiketts versah, darauf schrieb er den Namen
>Nuit Napolitaine<. Dann l

u

schte er das Licht und ging.
     Oben  bei  seiner  Frau beim Essen sagte er nichts. Vor  allem sagte er
nichts von dem hochheiligen Entschluss, den er am Nachmittag gefasst  hatte.
Auch seine Frau sagte nichts, denn sie merkte, dass er heiter war, und damit
war sie sehr zufrieden. Er ging auch nicht  mehr hin

u

ber nach Notre-Dame, um
Gott zu danken f

u

r seine Charakterst

u

rke.  Ja, er vergaß an diesem Tag
sogar zum ersten Mal, zur Nacht zu beten.

     Am n

u

chsten Morgen ging  er schnurstracks zu Grimal.Als erster bezahlte
er das Ziegenleder,  und zwar den vollen Preis,  ohne Murren  und  ohne  die
geringste  Feilscherei.  Und   dann   lud  er   Grimal  zu   einer   Flasche
Weißwein in  die Tour  d'Argent  ein  und  handelte  ihm  den Lehrling
Grenouille ab. Selbstverst

u

ndlich  verriet er nicht, weshalb er  ihn  wollte
und wozu er ihn brauchte.  Er schwindelte etwas daher von einem großen
Auftrag in Duftleder,  zu dessen Bew

u

ltigung er einer ungelernten Hilfskraft
bed

u

rfe. Einen gen

u

gsamen  Burschen  brauche er, der ihm einfachste  Dienste
verrichte,  Leder zuschneide und  so weiter.  Er bestellte noch eine Flasche
Wein und bot zwanzig Livre als Entsch

u

digung  f

u

r  die Unannehmlichkeit, die
er Grimal durch den  Ausfall  Grenouilles verursachte. Zwanzig  Livre  waren
eine enorme Summe. Grimal schlug sofort ein. Sie gingen  in die Gerberei, wo
Grenouille sonderbarerweise  schon  mit  gepacktem  B

u

ndel  wartete, Baldini
zahlte
 seine zwanzig Livre und nahm ihn, im  Bewusstsein, das beste Gesch

u

ft
seines Lebens gemacht zu haben, gleich mit.
     Grimal, der seinerseits 

u

berzeugt war, das beste Gesch

u

ft seines Lebens
gemacht  zu haben,  kehrte in  die Tour  d'Argent zur

u

ck,  trank  dort  zwei
weitere Flaschen Wein, zog dann gegen Mittag in den Lion d'Or am andern Ufer
um und besoff sich dort so hemmungslos, dass er, als er sp

u

t nachts abermals
in die Tour  d'Argent umziehen wollte,  die Rue Geoffroi L'Anier mit der Rue
des Nonaindieres verwechselte und somit, statt, wie er gehofft hatte, direkt
auf den Pont Marie zu  stoßen, verh

u

ngnisvollerweise auf den  Quai des
Ormes geriet, von wo aus er der L

u

nge nach mit dem Gesicht voraus ins Wasser
platschte wie in ein weiches Bett. Er war augenblicklich tot. Der Fluss aber
brauchte  noch  geraume  Zeit, ihn  vom seichten Ufer  weg, an den vert

u

uten
Lastk

u

hnen vorbei, in die st

u

rkere  mittlere Str

u

mung zu ziehen, und erst in
den  fr

u

hen Morgenstunden  schwamm  der Gerber  Grimal,  oder vielmehr seine
nasse Leiche, in flotterer Fahrt flussabw

u

rts, gen Westen.
     Als   er  den   Pont   au  Change  passierte,   lautlos,  ohne  an  den
Br

u

ckenpfeiler anzuecken, ging  Jean-Baptiste Grenouille zwanzig Meter  

u

ber
ihm gerade zu  Bett. Er  hatte in  der hinteren Ecke von Baldinis  Werkstatt
eine Pritsche hingestellt bekommen, von der  er  nun Besitz ergriff, w

u

hrend
sein  ehemaliger Brotherr, alle  viere von  sich gestreckt, die  kalte Seine
hinunter schwamm. Wohlig rollte er sich  zusammen  und machte sich klein wie
der Zeck. Mit beginnendem Schlaf versenkte er sich tiefer und tiefer in sich
hinein und hielt triumphalen Einzug  in seiner inneren Festung,  auf der  er
sich  ein  geruchliches  Siegesfest  ertr

u

umte, eine gigantische  Orgie  mit
Weihrauchqualm und Myrrhendampf, zu Ehren seiner selbst.

     Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des  Hauses  Giuseppe
Baldini zu nationalem, ja europ

u

ischem Ansehen.  Das  persische Glockenspiel
stand nicht mehr  still,  und die Reiher  h

u

rten nicht mehr auf zu speien im
Laden auf dem Pont au Change.
     Am  ersten  Abend  noch  musste  Grenouille  einen großen  Ballon
>Nuit Napolitaine< ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages 

u

ber
achtzig  Flakons  verkauft wurden. Der Ruf  des Duftes  verbreitete sich mit
rasender Geschwindigkeit.  Chenier bekam ganz glasige  Augen  vom Geldz

u

hlen
und einen schmerzenden  R

u

cken von den tiefen B

u

cklingen, die  er verrichten
musste, denn es erschienen hohe und h

u

chste Herrschaften, oder zumindest die
Diener von hohen und  h

u

chsten Herrschaften. Und  einmal flog  sogar die T

u

r
auf,  dass es  nur so  schepperte,  und  herein  trat der  Lakai des  Grafen
d'Argenson und  schrie,  wie  nur Lakaien  schreien  k

u

nnen,  dass  er  f

u

nf
Flaschen  von dem  neuen  Duft haben  wolle, und Chenier zitterte  noch eine
Viertelstunde sp

u

ter  vor Ehrfurcht,  denn der Graf d'Argenson war Intendant
und Kriegsminister Seiner Majest

u

t und der m

u

chtigste Mann von Paris.
     W

u

hrend  Chenier im Laden allein dem Ansturm der  Kundschaft ausgesetzt
war,  hatte  sich  Baldini  mit  seinem  neuen  Lehrling  in  der  Werkstatt
eingeschlossen. Chenier gegen

u

ber rechtfertigte er diesen Umstand  mit einer
phantastischen  Theorie,  die  er  als "Arbeitsteilung und Rationalisierung"
bezeichnete. Jahrelang, so erkl

u

rte er, habe  er geduldig mitangesehen,  wie
Pelissier und  seinesgleichen zunftverachtende  Gestalten ihm die Kundschaft
abspenstig gemacht und das Gesch

u

ft versaut h

u

tten.  Jetzt  sei sein Langmut
zu  Ende. Jetzt  nehme er die  Herausforderung  an und  schlage  wider diese
frechen  Parven

u

s zur

u

ck,  und  zwar  mit deren eigenen  Mitteln:  Zu  jeder
Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen
D

u

ften auftrumpfen, und  mit was f

u

r welchen! Er wolle aus dem vollen seiner
kreativen Ader sch

u

pfen. Und dazu sei es n

u

tig, dass er - unterst

u

tzt allein
von  einer  ungelernten  Hilfskraft  -  ganz  und  ausschließlich  die
Produktion  der  D

u

fte betreibe,  w

u

hrend  Chenier sich ausschließlich
deren Verkauf  zu  widmen habe. Mit  dieser modernen  Methode werde  man ein
neues Kapitel  in der  Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz
hinwegfegen  und unermesslich  reich  werden  -  ja,  er  sage  bewusst  und
ausdr

u

cklich "man", denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen  an diesen
unermesslichen Reicht

u

mern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.
     Vor  wenigen Tagen noch h

u

tte Chenier solche Reden seines Meisters  als
Anzeichen eines  beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. Jetzt ist er reif f

u

r
die Charit

u

<, h

u

tte er gedacht, >jetzt kann's nicht mehr lange dauern,
bis er das  Pistill endg

u

ltig  aus der Hand legt. <  Nun aber  dachte  er
nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er
hatte  so  viel zu tun, dass er abends vor Ersch

u

pfung kaum noch in der Lage
war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam
nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass  es mit rechten  Dingen zuging, wenn
Baldini  beinahe  t

u

glich  mit  irgendeinem neuen Duft  aus seiner Werkstatt
trat.
     Und  was  f

u

r  D

u

fte  waren  das!  Nicht   nur  Parfums  der  h

u

chsten,
allerh

u

chsten Schule,  sondern  auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen,
W

u

sser, 

u

le ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und
herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles,  selbst auf die
neuartigen  Dufthaarb

u

nder,   die   Baldinis  kuriose   Laune   eines  Tages
hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine
Rolle. Alles,  was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war
dermaßen 

u

berw

u

ltigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm
und nicht mehr nach  seinen  Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling,
der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt  hauste wie  ein Hund und den man
manchmal, wenn  der  Meister  heraustrat,  im  Hintergrund stehen und Gl

u

ser
wischen  und M

u

rser  putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun
haben sollte mit dem sagenhaften Aufbl

u

hen des Gesch

u

fts, das h

u

tte  Chenier
nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt h

u

tte.
     Nat

u

rlich hatte  der  Gnom alles damit zu tun. Das, was  Baldini in den
Laden brachte und Chenier  zum Verkauf 

u

berließ, war nur ein Bruchteil
dessen, was Grenouille hinter verschlossenen  T

u

ren zusammenmischte. Baldini
kam mit dem Riechen nicht mehr  nach.  Es war ihm manchmal  eine regelrechte
Qual,  unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte,  eine Wahl zu
treffen.  Dieser  Zauberlehrling  h

u

tte  alle  Parfumeure   Frankreichs  mit
Rezepten versorgen k

u

nnen,  ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur  ein Mal
etwas Minderwertiges  oder auch nur Mittelm

u

ßiges  hervorzubringen.  -
Das heisst, mit Rezepten,  also Formeln, h

u

tte er sie eben  
nicht
  versorgen
k

u

nnen, denn  zun

u

chst  komponierte  Grenouille  seine  D

u

fte noch auf  jene
chaotische  und v

u

llig unprofessionelle Manier,  die  Baldini  schon kannte,
indem er n

u

mlich  aus  der  freien  Hand  in scheinbar wildem  Durcheinander
Ingredienzien   mischte.   Um   das  verr

u

ckte   Gesch

u

ft,  wenn  nicht   zu
kontrollieren, so  doch wenigstens  begreifen zu k

u

nnen,  verlangte  Baldini
eines Tages  von  Grenouille,  er  m

u

ge sich,  auch wenn  er das f

u

r unn

u

tig
halte,  beim Ansetzen  seiner Mischungen der Waage,  des Messbechers und der
Pipette  bedienen; er m

u

ge sich ferner  angew

u

hnen, den Weingeist  nicht als
Duftstoff  zu   begreifen,   sondern  als  L

u

sungsmittel,  welches  erst  im
nachhinein  zuzusetzen sei; und  erm

u

ge schließlich um  Gottes  willen
langsam  hantieren, gem

u

chlich und langsam, wie es sich f

u

r einen Handwerker
geh

u

re.
     Grenouille tat  das. Und  zum ersten Mal  war Baldini  in der Lage, die
einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu  verfolgen und zu dokumentieren.
Mit Feder  und Papier saß  er neben  Grenouille  und  notierte,  immer
wieder  zur  Langsamkeit  mahnend,  wie  viel  Gramm  von  diesem,  wie viel
Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten  Ingredienz in die
Mischflasche  wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem  er n

u

mlich einen
Vorgang  nachtr

u

glich  mit  eben  jenen  Mitteln  analysierte,   ohne  deren
vorherigen  Gebrauch  er eigentlich  gar  nicht  h

u

tte  stattfinden  d

u

rfen,
gelangte Baldini  endlich  doch in den Besitz der synthetischen  Vorschrift.
Wie
 Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb f

u

r
Baldini  zwar weiterhin ein  R

u

tsel,  vielmehr ein  Wunder, aber  wenigstens
hatte  er  das Wunder jetzt  auf  eine Formel gebracht und damit seinen nach
Regeln   d

u

rstenden    Geist   einigermaßen    befriedigt   und   sein
parfumistisches Weltbild vor dem vollst

u

ndigen Kollaps bewahrt.
     Nach  und  nach  entlockte  er  Grenouille  die  Rezepturen  s

u

mtlicher
Parfums,   die  dieser   bisher   erfunden   hatte,  und   er   verbot   ihm
schließlich  sogar, neue D

u

fte anzusetzen,  ohne dass er, Baldini, mit
Feder  und  Papier  zugegen war, den Prozess  mit Argusaugen beobachtete und
Schritt  f

u

r  Schritt dokumentierte. Seine Notizen,  bald viele Dutzende von
Formeln,  

u

bertrug  er   dann  penibel  mit   gestochener  Schrift  in  zwei
verschiedene  B

u

chlein,  deren  eines er in  seinen feuerfesten  Geldschrank
einschloss und deren anderes er st

u

ndig bei  sich trug und mit dem er nachts
auch  schlafen ging.  Das  gab  ihm Sicherheit. Denn nun konnte  er, wenn er
wollte,  Grenouilles Wunder  selber nachvollziehen, die ihn,  als er sie zum
erstenmal  erlebte,  tief  ersch

u

ttert  hatten.  Mit  seiner   schriftlichen
Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche sch

u

pferische Chaos, welches aus
dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen  zu k

u

nnen.  Auch  hatte die
Tatsache, dass er nicht  mehr bloß bl

u

de staunend, sondern beobachtend
und  registrierend  an   den  Sch

u

pfungsakten  teilnahm,  auf  Baldini  eine
beruhigende  Wirkung  und st

u

rkte  sein  Selbstvertrauen. Nach  einer  Weile
glaubte  er gar von sich, zum Gelingen der sublimen D

u

fte nicht unwesentlich
beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine B

u

chlein eingetragen hatte
und im  Tresor und dicht  am eigenen Busen  verwahrte, zweifelte er  sowieso
nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.
     Aber auch Grenouille  profitierte von dem  disziplinierenden Verfahren,
das ihm  von  Baldini aufgezwungen wurde.  Er  selbst war zwar nicht  darauf
angewiesen. Er musste  nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach
Wochen  oder  Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß  Ger

u

che nicht.
Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage
die Sprache der  Parfumerie, under sp

u

rte instinktiv, dass ihm  die Kenntnis
dieser  Sprache  von  Nutzen sein  konnte.  Nach wenigen Wochen  beherrschte
Grenouille nicht nur die Namen s

u

mtlicher Duftstoffe  in Baldinis Werkstatt,
sondern  er  war  auch  in  der  Lage,  die  Formel  seiner  Parfums  selbst
niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln  und Anweisungen in  Parfums
und  sonstige Riecherzeugnisse  zu  verwandeln.  Und  mehr noch! Nachdem  er
einmal gelernt  hatte,  seine parfumistischen  Ideen  in  Gramm  und Tropfen
auszudr

u

cken,   bedurfte   er   nicht   einmal  mehr   des   experimentellen
Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es f

u

r ein
Taschentuchparfum,  f

u

r ein Sachet, f

u

r eine  Schminke zu kreieren, so griff
Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach
an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg
von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung
der  Formel zu erweitern.  F

u

r ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt,
das heisst in  Baldinis Augen, jedoch  war  es ein  Fortschritt. Grenouilles
Wunder blieben  dieselben.  Aber die Rezeptur, mit  denen er sie nun versah,
nahmen ihnen den  Schrecken, und das war  von Vorteil.  Je besser Grenouille
die handwerklichen Griffe  und Verfahrensweisen beherrschte,  je normaler er
sich in  der  konventionellen Sprache  der Parfumerie  auszudr

u

cken  wusste,
desto weniger f

u

rchtete und  beargw

u

hnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini
ihn zwar noch  f

u

r einen ungew

u

hnlich  begabten Geruchsmenschen, nicht  mehr
aber  f

u

r  einen  zweiten  Frangipani   oder  gar  f

u

r  einen   unheimlichen
Hexenmeister, und Grenouille war das  nur  recht.  Der handwerkliche Komment
diente ihm als willkommene  Tarnung. Er lullte  Baldini geradezu  ein  durch
sein  vorbildliches  Verfahren beim  W

u

gen  der  Zutaten, beim Schwenken der
Mischflasche, beim Betupfen des weißen  Probiert

u

chleins. Er konnte es
fast schon so  zierlich  sch

u

tteln,  so elegant an  der Nase  vor

u

berfliegen
lassen  wie  der Meister. Und gelegentlich,  in  wohldosierten  Intervallen,
beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste:
Vergaß  zu filtrieren,  stellte  die  Waage falsch ein, schrieb  einen
unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ
sich den Fehler verweisen, um  ihn dann geflissentlichst  zu korrigieren. So
gelang es  ihm, Baldini  in der Illusion  zu  wiegen,  es gehe letzten Endes
alles doch  mit rechten Dingen zu. Er  wollte den Alten ja nicht verprellen.
Er  wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von  Parfums, nicht
die rechte Komposition eines Duftes,  nat

u

rlich nicht! Auf diesem Gebiet gab
es niemand auf der Welt,  der ihn etwas  h

u

tte  lehren  k

u

nnen, und  die  in
Baldinis  Laden  vorhandenen  Ingredienzien  h

u

tten  auch bei  weitem  nicht
ausgereicht,  seine  Vorstellungen  eines wirklich großen  Parfums  zu
verwirklichen. Was er bei  Baldini an  Ger

u

chen  realisieren  konnte,  waren
Spielereien verglichen mit den  Ger

u

chen, die er  in sich  trug  und die  er
eines  Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte  es
zweier   unabdingbarer  Voraussetzungen:  Die  eine  war  der  Mantel  einer
b

u

rgerlichen  Existenz;  mindestens  des Gesellentums, in dessen  Schutz  er
seinen  eigentlichen  Leidenschaften fr

u

nen  und  seine  eigentlichen  Ziele
ungest

u

rt verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis  jener handwerklichen
Verfahren,  nach  denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte,
konservierte  und somit f

u

r eine h

u

here Verwendung 

u

berhaupt  erst verf

u

gbar
machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt,
sowohl  analytisch  als  auch  vision

u

r, aber er besaß noch  nicht die
F

u

higkeit, sich der Ger

u

che dinglich zu bem

u

chtigen.

     Und  so  ließ er  sich denn  willig unterweisen  in der Kunst des
Seifenkochens  aus Schweinefett, des  Handschuhn

u

hens  aus  Waschleder,  des
Pudermischens    aus   Weizenmehl   und    Mandelkleie    und    gepulverten
Veilchenwurzeln.    Rollte   Duftkerzen   aus   Holzkohle,   Salpeter    und
Sandelholzsp

u

nen.  Presste  orientalische Pastillen  aus Myrrhe,  Benzoe und
Bernsteinpulver.   Knetete   Weihrauch,  Schellack,  Vetiver  und  Zimt   zu
R

u

ucherk

u

gelchen.  Siebte  und  spaltete  Poudre  Imperiale  aus  gemahlenen
Rosenbl

u

ttern, Lavendelbl

u

te, Kaskarillarinde.  R

u

hrte Schminken, weiß
und  aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, f

u

r die Lippen. Schl

u

mmte
feinste  Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte
Kr

u

uselfl

u

ssigkeit  f

u

r   das   Per

u

ckenhaar   und  Warzentropfen  f

u

r   die
H

u

hneraugen, Sommersprossenbleiche f

u

r die Haut und Belladonnaauszug f

u

r die
Augen, Spanischfliegensalbe f

u

r die Herren und Hygieneessig f

u

r die Damen...
Die   Herstellung  s

u

mtlicher  W

u

sserchen  und   P

u

lverchen,  Toilette-  und
Sch

u

nheitsmittelchen, aber  auch von Tee- und  W

u

rzmischungen, von  Lik

u

ren,
Marinaden  und  dergleichen,  kurz,  alles,  was  Baldini  ihn  mit   seinem
großen 

u

berkommenen  Wissen zu lehren  hatte,  lernte Grenouille, ohne
sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg.
     Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im
Anfertigen  von  Tinkturen,  Ausz

u

gen  und  Essenzen unterwies.  Unerm

u

dlich
konnte   er  Bittermandelkerne  in   der   Schraubenpresse  quetschen   oder
Moschusk

u

rner stampfen  oder fette graue Amberknollen  mit  dem  Wiegemesser
hacken oder  Veilchenwurzeln  raspeln, um die Sp

u

ne dann in feinstem Alkohol
zu  digerieren. Er  lernte  den  Gebrauch  des Scheidetrichters  kennen, mit
welchem   man  das  reine  

u

l   gepresster  Limonenschalen  von  der  tr

u

ben
R

u

ckstandsbr

u

he  trennte.  Er  lernte Kr

u

uter und  Bl

u

ten zu  trocknen,  auf
Rosten  in  schattiger W

u

rme,  und das raschelnde  Laub in wachsversiegelten
T

u

pfen  und  Truhen  zu   konservieren.  Er   erlernte  die  Kunst,  Pomaden
auszuwaschen,  Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren,  zu
klarifizieren und zu rektifizieren.
     Freilich war Baldinis Werkstatt  nicht dazu geeignet, dass man darin in
großem Stile Bl

u

ten- oder Kr

u

uter

u

le fabrizierte. Es h

u

tte in Paris ja
auch die  notwendigen Mengen  frischer Pflanzen  kaum  gegeben. Gelegentlich
jedoch, wenn frischer Rosmarin, wenn Salbei,  Minze oder  Anissamen am Markt
billig zu haben  waren oder wenn ein gr

u

ßerer  Posten Irisknollen oder
Baldrianwurzel,  K

u

mmel,  Muskatnuss  oder  trockne Nelkenbl

u

te eingetroffen
war,  dann  regte  sich   Baldinis  Alchimistenader,  und  er  holte  seinen
großen  Alambic hervor,  einen  kupfernen  Destillierbottich mit  oben
aufgesetztem Kondensiertopf  - einen  sogenannten  Maurenkopfalambic, wie er
stolz verk

u

ndete  -,  mit dem er schon vor  vierzig Jahren an  den s

u

dlichen
H

u

ngen Liguriens  und auf  den H

u

hen des  Luberon auf freiem Felde  Lavendel
destilliert  habe. Und  w

u

hrend  Grenouille das  Destilliergut zerkleinerte,
heizte Baldini in hektischer Eile - denn rasche Verarbeitung war das A und O
des  Gesch

u

fts -  eine gemauerte Feuerstelle ein, auf  die er den  kupfernen
Kessel, mit einem  guten Bodensatz  Wasser gef

u

llt, postierte.  Er warf  die
Pflanzenteile hinein, stopfte den doppelwandigen Maurenkopf  auf den Stutzen
und  schloss zwei Schl

u

uchlein f

u

r zu- und  abfließendes Wasser  daran
an.  Diese raffinierte Wasserk

u

hlungskonstruktion, so erkl

u

rte er,  sei erst
nachtr

u

glich von ihm eingebaut  worden,  denn seinerzeit auf dem  Felde habe
man  selbstverst

u

ndlich mit  bloßer zugef

u

chelter Luft  gek

u

hlt.  Dann
blies er das Feuer an.
     Allm

u

hlich begann es, im Kessel zu  brodeln. Und nach einer Weile, erst
zaghaft tr

u

pfchenweise, dann in fadend

u

nnem Rinnsal, floss Destillat aus der
dritten  R

u

hre  des  Maurenkopfs  in eine  Florentinerflasche,  die  Baldini
untergestellt hatte. Es sah zun

u

chst recht unansehnlich aus, wie eine d

u

nne,
tr

u

be Suppe. Nach  und  nach aber, vor allem wenn die gef

u

llte Flasche durch
eine neue ausgetauscht und ruhig beiseite  gestellt worden  war, schied sich
die  Br

u

he in zwei verschiedene  Fl

u

ssigkeiten: unten stand das Bl

u

ten- oder
Kr

u

uterwasser, obenauf  schwamm  eine  dicke  Schicht von 

u

l. Goss  man  nun
vorsichtig durch  den unteren  Schnabelhals der Florentinerflasche  das  nur
zart duftende Bl

u

tenwasser ab, so blieb das reine 

u

l zur

u

ck, die Essenz, das
starke  riechende  Prinzip  der  Pflanze.  Grenouille  war von  dem  Vorgang
fasziniert.  Wenn je  etwas  im  Leben  Begeisterung  in  ihm entfacht hatte
freilich  keine  

u

ußerlich sichtbare, sondern eine verborgene,  wie in
kalter Flamme brennende Begeisterung  -,  dann war  es dieses Verfahren, mit
Feuer, Wasser und Dampf und  einer ausgekl

u

gelten Apparatur  den Dingen ihre
duftende Seele zu entreißen. Diese duftende  Seele, das 

u

therische 

u

l,
war  ja  das  Beste  an  ihnen,  das   einzige,  um  dessentwillen  sie  ihn
interessierten.  Der  bl

u

de  Rest:  Bl

u

te,  Bl

u

tter, Schale,  Frucht, Farbe,
Sch

u

nheit,  Lebendigkeit  und  was  sonst  noch an  

u

berfl

u

ssigem  in  ihnen
steckte, das  k

u

mmerte ihn nicht. Das war nur H

u

lle und Ballast. Das geh

u

rte
weg.
     Von Zeit zu Zeit, wenn das Destillat  w

u

ssrig klar geworden war, nahmen
sie den Alambic vom Feuer,  

u

ffneten ihn und  sch

u

tteten das  zerkochte Zeug
heraus. Es sah schlapp aus und blass wie aufgeweichtes Stroh, wie gebleichte
Knochen kleiner V

u

gel, wie Gem

u

se, das zu lang gekocht  hat, fad und fasrig,
matschig, kaum noch  als es selbst erkenntlich, eklig leichenhaft und so gut
wie  vollst

u

ndig des  eigenen Geruchs beraubt.  Sie  warfen  es zum  Fenster
hinaus in  den  Fluss.  Dann  beschickten sie mit  neuen  frischen Pflanzen,
f

u

llten Wasser nach und setzten den Alambic zur

u

ck auf  die Feuerstelle. Und
wieder  begann der  Kessel zu brodeln,  und  wieder rann  der Lebenssaft der
Pflanzen  in  die Florentinerflaschen.  So  ging  es  oft  die  ganze  Nacht
hindurch.  Baldini besorgte den  Ofen, Grenouille  behielt  die Flaschen  im
Auge, mehr war nicht zu tun in der Zeit zwischen den Wechseln.
     Sie saßen auf Schemeln ums  Feuer, im Banne des plumpen Bottichs,
beide gebannt,  wenn auch aus sehr verschiedenen Gr

u

nden. Baldini genoss die
Glut  des Feuers  und das flackernde  Rot  der Flammen und  des  Kupfers, er
liebte  das Knistern des brennenden Holzes, das Gurgeln des  Alambics,  denn
das  war wie fr

u

her.  Da konnte man ins  Schw

u

rmen  kommen!  Er  holte  eine
Flasche  Wein  aus  dem  Laden, denn  die  Hitze  machte  ihn  durstig,  und
Weintrinken, das war  auch wie fr

u

her. Und dann fing  er an, Geschichten  zu
erz

u

hlen,  von  damals,  endlos. Vom  spanischen  Erbfolgekrieg,  an  dessen
Verlauf  er, gegen  die  

u

sterreicher  k

u

mpfend,  maßgeblich beteiligt
gewesen sei; von den Camisards, mit denen er  die  Cevennen unsicher gemacht
habe;  von der  Tochter eines Hugenotten  im Esterei, die  vom  Lavendelduft
berauscht ihm zu Willen gewesen sei;  von einem Waldbrand, den  er  dabei um
ein Haar entfacht und der dann wohl die  gesamte Provence in  Brand gesteckt
h

u

tte, so  sicher wie das Amen  in  der  Kirche,  denn es ging ein  scharfer
Mistral;  und vom Destillieren erz

u

hlte er, immer  wieder davon, auf  freiem
Feld, nachts, beim  Mondschein,  bei  Wein  und bei Zikadengeschrei, und von
einem Lavendel

u

l, das er dabei erzeugt  habe,  so fein und kr

u

ftig, dass man
es ihm mit Silber auf gewogen habe; von seiner Lehrzeit in Genua, von seinen
Wanderjahren und von der Stadt  Grasse,  in der es so viele Parfumeure  gebe
wie anderswo Schuster, und so  reiche darunter, dass sie lebten wie F

u

rsten,
in pr

u

chtigen H

u

usern mit schattigen G

u

rten und Terrassen und holzget

u

felten
Esszimmern, in denen sie speisten von porzellanenen Tellern mit Goldbesteck,
und so fort...
     Solche Geschichten  erz

u

hlte  der alte  Baldini und trank Wein dazu und
bekam vom  Wein  und von der Feuerglut und  von der Begeisterung 

u

ber  seine
eignen Geschichten ganz feuerrote B

u

ckchen. Grenouille  aber, der etwas mehr
im Schatten  saß,  h

u

rte gar nicht  zu. Ihn interessierten keine alten
Geschichten,  ihn  interessierte  ausschließlich der  neue Vorgang. Er
starrte  unausgesetzt auf  das  R

u

hrchen  am  Kopf des Alambics, aus dem  in
d

u

nnem Strahl das Destillat rann. Und indem er es anstarrte, stellte er sich
vor, er selbst sei so ein Alambic, in dem  es brodele wie in  diesem und aus
dem  ein  Destillat  hervorquelle  wie   hier,  nur   eben  besser,   neuer,
ungewohnter,  ein Destillat von jenen exquisiten Pflanzen, die er  selbst in
seinem Innern  gezogen  hatte, die dort bl

u

hten, ungerochen  außer von
ihm  selbst, und  die mit  ihrem  einzigartigen  Parfum  die  Welt  in einen
duftenden  Garten  Eden  verwandeln k

u

nnten,  in welchem f

u

r ihn  das Dasein
olfaktorisch einigermaßen ertr

u

glich w

u

re. Ein großer Alambic zu
sein,  der alle  Welt mit  seinen selbsterzeugten Destillaten 

u

berschwemmte,
das war der Wunschtraum, dem Grenouille sich hingab.
     W

u

hrend  aber  Baldini,  vom  Wein  entz

u

ndet,  immer  ausschweifendere
Geschichten  davon erz

u

hlte,  wie  es  fr

u

her  gewesen  war, und sich  immer
hemmungsloser   in   die   eigenen   Schw

u

rmereien  verstrickte,  ließ
Grenouille  bald   ab  von  seiner  bizarren  Phantasie.  Er  verbannte  die
Vorstellung  vom  großen  Alambic  f

u

rs  erste  aus  seinem  Kopf  und

u

berlegte  stattdessen,  wie  er  sich  seine  neuerworbenen Kenntnisse  f

u

r
n

u

herliegende Ziele nutzbar machen k

u

nnte.

     Nicht lang, und er war ein Spezialist auf dem Gebiet des Destillierens.
Er fand heraus - und seine  Nase  half ihm dabei mehr als Baldinis Regelwerk
-, dass  die Hitze des Feuers von  entscheidendem Einfluss auf die G

u

te  des
Destillates  war.  Jede Pflanze, jede  Bl

u

te, jedes Holz  und jede  

u

lfrucht
verlangten eine  besondere Prozedur. Mal musste sch

u

rfster Dampf entwickelt,
mal nur m

u

ßig stark gebrodelt werden, und  manche Bl

u

te gab ihr Bestes
erst, wenn man sie auf kleinster Flamme schwitzen ließ.
     

u

hnlich wichtig war  die Aufbereitung. Minze und Lavendel konnte man in
ganzen B

u

scheln destillieren. Andres wollte fein verlesen sein,  zerpfl

u

ckt,
gehackt, geraspelt, gestampft oder sogar als Maische angesetzt, bevor  es in
den   Kupferkessel  kam.  Manches   aber  ließ  sich  

u

berhaupt  nicht
destillieren, und das erbitterte Grenouille aufs 

u

ußerste.
     Baldini  hatte  ihm,  als er  sah,  wie sicher Grenouille die Apparatur
beherrschte, freie Hand im Umgang mit dem  Alambic gelassen,  und Grenouille
hatte diese Freiheit weidlich genutzt. W

u

hrend  er tags

u

ber  Parfums mischte
und sonstige  Duft-  und W

u

rzprodukte fertigte,  besch

u

ftigte er sich nachts
ausschließlich  mit der geheimnisvollen Kunst des  Destillierens. Sein
Plan war, vollkommen neue Geruchsstoffe zu produzieren, um damit  wenigstens
einige  der  D

u

fte,  die er in seinem  Innern  trug,  herstellen zu  k

u

nnen.
Zun

u

chst  hatte  er  auch  kleine   Erfolge.  Es  gelang  ihm,  ein  

u

l  von
Brennesselbl

u

ten  und  von  Kressesamen  zu  erzeugen,  ein Wasser  von  der
frischgesch

u

lten  Rinde  des  Holunder-Strauchs  und  von  Eibenzweigen. Die
Destillate  

u

hnelten  zwar im Duft den Ausgangsstoffen kaum noch, waren aber
immerhin noch interessant genug, um f

u

r weitere Verarbeitung zu taugen. Dann
allerdings  gab  es  Stoffe, bei  denen das  Verfahren vollst

u

ndig versagte.
Grenouille  versuchte  etwa,  den  Geruch  von  Glas  zu  destillieren,  den
lehmig-k

u

hlen Geruch  glatten  Glases,  der von normalen  Menschen gar nicht
wahrzunehmen  ist.  Er   besorgte  sich  Fensterglas  und  Flaschenglas  und
verarbeitete  es  in  großen  St

u

cken, in Scherben, in Splittern,  als
Staub - ohne den geringsten Erfolg. Er destillierte  Messing, Porzellan  und
Leder, Korn  und Kieselsteine. Schiere Erde  destillierte er.  Blut und Holz
und  frische  Fische.  Seine eigenen Haare.  Am Ende  destillierte er  sogar
Wasser, Wasser  aus der Seine, dessen eigent

u

mlicher Geruch ihm wert schien,
aufbewahrt  zu  werden. Er glaubte, mit Hilfe  des Alambics k

u

nne er  diesen
Stoffen ihren  charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian,
bei Lavendel und  beim K

u

mmelsamen m

u

glich war. Er wusste ja nicht, dass die
Destillation nichts  anderes war als  ein  Verfahren zur Trennung gemischter
Substanzen in  ihre fl

u

chtigen und  weniger  fl

u

chtigen Einzelteile und dass
sie f

u

r die Parfumerie  nur  insofern von Nutzen war, als sie das  fl

u

chtige

u

therische 

u

l gewisser Pflanzen  von ihren duftlosen oder  duftarmen  Resten
absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses 

u

therische 

u

l abging, war das
Verfahren der Destillation  nat

u

rlich v

u

llig sinnlos. Uns heutigen Menschen,
die  wir  physikalisch  ausgebildet  sind,  leuchtet  das  sofort  ein.  F

u

r
Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das m

u

hselig errungene Ergebnis einer
langen Kette von entt

u

uschenden Versuchen. 

u

ber Monate hinweg hatte er Nacht
f

u

r  Nacht am  Alambic  gesessen  und  auf jede erdenkliche  Weise versucht,
mittels Destillation radikal neue D

u

fte  zu erzeugen, D

u

fte, wie  es sie  in
konzentrierter Form auf Erden noch nicht gegeben hatte. Und bis auf ein paar
l

u

cherliche  Pflanzen

u

le war nichts  dabei herausgekommen.  Aus  dem tiefen,
unermesslich reichen Brunnen  seiner  Vorstellung  hatte er  keinen einzigen
Tropfen  konkreter  Duftessenz  gef

u

rdert, von  allem,  was  ihm  geruchlich
vorgeschwebt hatte, nicht ein Atom realisieren k

u

nnen.
     Als er sich  

u

ber  sein  Scheitern klargeworden  war,  stellte  er  die
Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank.

     Er  bekam hohes  Fieber, das  in den  ersten Tagen  von Ausschwitzungen
begleitet war  und  sp

u

ter, als  gen

u

gten  die Poren der  Haut  nicht  mehr,
unz

u

hlige Pusteln erzeugte.  Grenouilles K

u

rper  war 

u

bers

u

t von diesenroten
Bl

u

schen. Viele von ihnen platzten auf und ergossen ihren  w

u

ssrigen Inhalt,
um  sich dann  wieder  von neuem zu  f

u

llen.  Andere wuchsen sich  zu wahren
Furunkeln aus,  schwollen dick  rot an und rissen  wie Krater auf und spieen
dickfl

u

ssigen  Eiter  aus und mit gelben  Schlieren durchsetztes Blut.  Nach
einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter  M

u

rtyrer, aus
hundert  Wunden schw

u

rend. Da  machte sich Baldini nat

u

rlich Sorgen. Es w

u

re
ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem
Augenblick zu verlieren, wo er  sich  anschickte,  seinen  Handel  

u

ber  die
Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen.  Denn in der
Tat geschah es immer h

u

ufiger, dass nicht nur aus der  Provinz, sondern auch
von ausl

u

ndischen  H

u

fen  Bestellungen eingingen f

u

r jene neuartigen  D

u

fte,
nach denen  Paris verr

u

ckt war; und Baldini  trug sich mit dem Gedanken, zur
Bew

u

ltigung  dieser  Nachfrage  eine  Filiale im  Faubourg  Saint-Antoine zu
gr

u

nden, eine veritable kleine Manufaktur, wo die  g

u

ngigsten D

u

fte  en gros
gemischt  und en  gros in nette kleine Flakons  gef

u

llt,  von netten kleinen
M

u

dchen verpackt  nach Holland,  England  und ins Deutsche  Reich verschickt
werden  sollten.  F

u

r  einen in  Paris ans

u

ssigen Meister  war  ein  solches
Unterfangen nicht gerade legal, aber  neuerdings  verf

u

gte Baldini  ja  

u

ber
Protektion h

u

heren Orts, seine raffinierten D

u

fte hatten sie ihm verschafft,
nicht  nur beim Intendanten, sondern auch  bei so wichtigen Pers

u

nlichkeiten
wie Monsieur  dem Zollp

u

chter von Paris und einem  Mitglied  des k

u

niglichen
Finanzkabinetts und F

u

rderer wirtschaftlich florierender Unternehmen wie dem
Herrn Feydeau de Brou. Dieser hatte sogar  k

u

nigliches  Privileg in Aussicht
gestellt,  das  Beste, was man  sich 

u

berhaupt w

u

nschen konnte, war es  doch
eine  Art Passepartout  zur Umgehung s

u

mtlicher staatlicher  und st

u

ndischer
Bevormundung,  das Ende  aller gesch

u

ftlichen Sorgen und eine ewige Garantie
f

u

r sicheren, unangefochtenen Wohlstand.
     Und dann  gab es noch einen  anderen Plan,  mit  dem Baldini  schwanger
ging,  einen  Lieblingsplan,  eine  Art Gegenprojekt  zu der  Manufaktur  im
Faubourg Saint-Antoine,  die, wenn nicht Massenware, so doch  f

u

r  jedermann
k

u

ufliche  produzierte:  Er  wollte  f

u

r  eine  ausgew

u

hlte  Zahl  hoher und
h

u

chster Kundschaft pers

u

nliche Parfums kreieren, vielmehr  kreieren lassen,
Parfums, die, wie angeschneiderte Kleider, nur zu einer Person  passten, nur
von  dieser  verwendet  werden  durften und  allein  ihren  erlauchten Namen
trugen. Er stellte sich ein >Parfum de la Marquise de Cernay< vor, ein
>Parfum  de  la  Marechale  de   Villars<,  ein  >Parfum   du   Duc
d'Aiguillon< und so fort. Er  tr

u

umte von  einem >Parfum de Madame  la
Marquise de  Pompadour<, ja sogar von einem >Parfum  de  Sa Majeste le
Roi<   im   k

u

stlichgeschliffenen  achatenen   Flakon   mit   ziselierter
Goldfassung   und   dem  auf  der   Innenseite   des  Fußes  verborgen
eingravierten Namen >Giuseppe  Baldini,  Parfumeur<. Des  K

u

nigs Namen
und  sein  eigener auf  ein  und demselben Gegenstand. Zu  solch  herrlichen
Vorstellungen  hatte sich Baldini  verstiegen! Und nun  war Grenouille krank
geworden.  Wo doch Grimal, Gott hab  ihn selig, geschworen hatte, dem  fehle
nie etwas, der halte alles aus, sogar die  schwarze Pest stecke der weg. War
mir nichts, dir nichts krank auf den Tod. Wenn er st

u

rbe? Entsetzlich!  Dann
st

u

rben mit ihm die herrlichen  Pl

u

ne von  der Manufaktur,  von  den  netten
kleinen M

u

dchen, vom Privilegium und vom Parfum des K

u

nigs.
     Also beschloss Baldini, nichts unversucht zu lassen, um das teure Leben
seines   Lehrlings  zu  retten.   Er  ordnete   eine   Umsiedlung   von  der
Werkstattpritsche in ein sauberes  Bett im Obergeschoß des Hauses  an.
Er ließ  das Bett  mit Damast  beziehen. Er half  eigenh

u

ndig mit, den
Kranken die enge Stiege hinaufzutragen, obwohl ihn uns

u

glich vor den Pusteln
und den schw

u

renden Furunkeln ekelte. Er befahl seiner Frau, H

u

hnerbr

u

he mit
Wein zu kochen. Er schickte nach dem renommiertesten Arzt im Quartier, einem
gewissen Procope, der im voraus bezahlt werden  musste, zwanzig Franc! damit
er sich 

u

berhaupt herbem

u

hte.
     Der  Doktor kam,  hob mit spitzen  Fingern das Laken hoch,  warf  einen
einzigen Blick auf  Grenouilles K

u

rper,  der wirklich aussah wie von hundert
Kugeln zerschossen, und verließ das Zimmer, ohne seine Tasche, die der
Assistent ihm st

u

ndig nachtrug, auch nur ge

u

ffnet zu haben. Der Fall, begann
er zu  Baldini,  sei  v

u

llig klar. Es  handle  sich  um  eine  syphilitische
Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden  Masern in  stadio
ultimo.  Eine Behandlung sei schon deshalb nicht vonn

u

ten, da ein  Schnepper
zum Aderlass an dem sich zersetzenden Leib, der  einer Leiche 

u

hnlicher  sei
als einem lebenden Organismus, gar nicht mehr ordnungsgem

u

ß angebracht
werden k

u

nne.  Und  obwohl  der f

u

r den  Krankheitsverlauf charakteristische
pestilenzartige  Gestank  noch  nicht  wahrzunehmen  sei  -  was  allerdings
verwundere  und  vom  streng wissenschaftlichen Standpunkt  aus  gesehen ein
kleines Kuriosum darstelle -, k

u

nne am Ableben  des Patienten innerhalb  der
kommenden  achtundvierzig Stunden nicht der geringste  Zweifel herrschen, so
wahr  er Doktor Procope  heiße. Worauf  er sich abermals zwanzig Franc
auszahlen ließ f

u

r  absolvierten Besuch  und erstellte Prognose - f

u

nf
Franc  davon r

u

ckzahlbar  f

u

r den  Fall,  dass man ihm  den Kadaver mit  der
klassischen Symptomatik  zu Demonstrationszwecken 

u

berließ  - und sich
empfahl.   Baldini   war   außer  sich.  Er  klagte  und  schrie   vor
Verzweiflung. Er biss sich in die Finger vor Wut 

u

ber sein Schicksal. Wieder
einmal wurden ihm die Pl

u

ne f

u

r den ganz,  ganz großen Erfolg kurz vor
dem   Ziel   vermasselt.   Seinerzeit,  da  waren's   Pelissier  und   seine
Spießgesellen mit ihrem Erfindungsreichtum gewesen. Jetzt war's dieser
Junge  mit seinem unersch

u

pflichen Fundus an neuen Ger

u

chen, dieser mit Gold
gar nicht  aufzuwiegende kleine  Dreckskerl, der ausgerechnet  jetzt, in der
gesch

u

ftlichen Aufbauphase, die  syphilitischen Blattern bekommen musste und
die eitrigen Masern in  stadio ultimo!  Ausgerechnet jetzt!  Warum nicht  in
zwei Jahren? Warum nicht in  einem?  Bis  dahin  h

u

tte  man  ihn auspl

u

ndern
k

u

nnen wie  eine Silbermine, wie  einen  Goldesel. In  einem  Jahr h

u

tte  er
getrost sterben d

u

rfen. Aber nein! Er starb jetzt, Herrgottsakrament, binnen
achtundvierzig Stunden!
     F

u

r einen kurzen  Moment  erwog  Baldini den Gedanken,  nach Notre-Dame
hin

u

berzupilgern, eine Kerze  anzuz

u

nden  und von der Heiligen Mutter Gottes
Genesung f

u

r Grenouille herbeizuflehen. Aber dann ließ er den Gedanken
fallen, denn  die  Zeit dr

u

ngte zu  sehr.  Er lief  um Tinte und Papier  und
verscheuchte  seine Frau  aus dem  Zimmer  des Kranken. Er wolle selbst  die
Wache halten. Dann ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder,
die  Notizbl

u

tter auf  den Knien, die tintenfeuchte Feder in  der Hand,  und
versuchte,  Grenouille eine parfumistische Beichte  abzunehmen. Er m

u

ge doch
um Gottes willen die Sch

u

tze, die er in seinem Innern trage, nicht sang- und
klanglos mit sich nehmen! Er  m

u

ge doch jetzt in seinen  letzten Stunden ein
Testament zu treuen H

u

nden hinterlassen, damit der Nachwelt nicht die besten
D

u

fte  aller   Zeiten  vorenthalten  blieben!  Er,   Baldini,  werde  dieses
Testament, diesen Formelkanon der sublimsten aller je gerochnen D

u

fte,  treu
verwalten und zum Bl

u

hen bringen. Er werde unsterblichen Ruhm an Grenouilles
Namen heften, ja, er werde - und hiermit  schw

u

re er's bei allen Heiligen  -
den  besten  dieser  D

u

fte dem K

u

nig selbst  zu F

u

ßen  legen, in einem
achatenen Flakon  mit  ziseliertem Gold  und  eingravierter Widmung  >Von
Jean-Baptiste Grenouille, Parfumeur  in Paris<. - So sprach, oder besser:
so   fl

u

sterte   Baldini  in   Grenouilles  Ohr,  beschw

u

rend,  flehentlich,
schmeichelnd und unausgesetzt.
     Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als w

u

ssriges
Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast  und ent

u

ußerte sich
dieser ekelhaften  S

u

fte, nicht  aber seiner Sch

u

tze,  seines Wissens, nicht
der  geringsten  Formel  eines  Dufts.  Baldini  h

u

tte  ihn erw

u

rgen  m

u

gen,
erschlagen h

u

tte er  ihn m

u

gen,  herausgepr

u

gelt  aus  dem moribunden K

u

rper
h

u

tte er  am liebsten die  kostbaren Geheimnisse, wenn's Aussicht auf Erfolg
gehabt... und wenn es seiner Auffassung von christlicher N

u

chstenliebe nicht
so eklatant widersprochen h

u

tte.
     Und so s

u

uselte und fl

u

tete  er denn weiter in den s

u

ßesten T

u

nen
und umh

u

tschelte den Kranken und tupfte ihm mit k

u

hlen T

u

chern - wiewohl  es
ihn  grauenhafte 

u

berwindung kostete -  die schweißnasse Stirn und die
gl

u

henden Vulkane der Wunden,  und l

u

ffelte ihm Wein  in den Mund,  um seine
Zunge  zum Sprechen zu bringen,  die ganze  Nacht  hindurch - vergebens.  Im
Morgengrauen  gab er es auf.  Er fiel ersch

u

pft in einen Sessel  am  anderen
Ende des Zimmers und  starrte, nicht einmal  mehr  w

u

tend, sondern  nur noch
stiller Resignation ergeben,  auf den kleinen sterbenden  K

u

rper Grenouilles
dr

u

ben im Bett, den er weder  retten noch berauben konnte, aus dem er nichts
mehr  f

u

r  sich  bergen  konnte,  dessen  Untergang  er  nur  noch  tatenlos
mitansehen musste wie  ein  Kapit

u

n  den Untergang  des Schiffs, das  seinen
ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt.
     Da 

u

ffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer
Stimme,  die  in ihrer Klarheit und Festigkeit von  bevorstehendem Untergang
wenig ahnen ließ,  sprach er: "Sagen Sie, Maitre:  Gibt es  noch andre
Mittel als  das  Pressen  oder  Destillieren,  um aus einem  K

u

rper Duft  zu
gewinnen?"
     Baldini,  der  glaubte,  dass  die Stimme  seiner  Einbildung oder  dem
Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: "Ja, die gibt es."
     "Welche?" fragte es vom Bett her, und Baldini riss die m

u

den Augen auf.
Regungslos  lag  Grenouille  in  den  Kissen.  Hatte die  Leiche gesprochen?
"Welche?"  fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die  Bewegung  auf
Grenouilles Lippen. "Jetzt  ist es aus", dachte er, "jetzt geht's dahin, das
ist der Fieberwahn oder die  Todesagonie."  Und  er stand auf, ging zum Bett
hin

u

ber und beugte sich 

u

ber  den Kranken. Der hatte die Augen  ge

u

ffnet und
sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an,  mit dem er ihn bei
der ersten Begegnung fixiert hatte.
     "Welche?" fragte er.
     Da gab  Baldini  seinem  Herzen  einen Stoß  -  er  wollte  einem
Sterbenden den  letzten  Willen nicht  versagen - und  antwortete:  "Es gibt
deren drei, mein  Sohn: Die enfleurage 

u

 chaud, die  enfleurage  

u

 froid und
die  enfleurage  

u

  l'huile. Sie sind  dem Destillieren in  vieler  Hinsicht

u

berlegen,  und man bedient  sich ihrer  zur  Gewinnung der  feinsten  aller
D

u

fte: des Jasmins, der Rose und der Orangenbl

u

te."
     "Wo?" fragte Grenouille.
     "Im S

u

den", antwortete Baldini. "Vor allem in der Stadt Grasse."
     "Gut", sagte Grenouille.
     Und damit schloss er die Augen. Baldini  richtete sich  langsam auf. Er
war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizbl

u

tter zusammen, auf die er keine
einzige  Zeile geschrieben  hatte, und  blies die  Kerze aus.  Draußen
tagte es  schon. Er war hundem

u

de.  Man h

u

tte einen  Priester  kommen lassen
sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein fl

u

chtiges Zeichen des
Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief
nur sehr  fest  und tr

u

umte tief und  zog  seine S

u

fte in sich zur

u

ck. Schon
begannen  die Bl

u

schen  auf seiner  Haut  zu  verdorren, die Eiterkrater  zu
versiegen,  schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im  Verlauf
einer Woche war er genesen.

     Am liebsten w

u

re  er gleich weggegangen nach S

u

den, dorthin, wo man die
neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber
daran war  nat

u

rlich gar nicht zu denken. Er war ja  nur ein  Lehrling,  das
heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erkl

u

rte ihm Baldini - nachdem er
seine  anf

u

ngliche  Freude  

u

ber  Grenouilles  Wiederauferstehung 

u

berwunden
hatte  -,  strenggenommen war er  noch  weniger  als ein  Nichts,  denn  zum
ordentlichen  Lehrling   geh

u

rten  tadellose,   n

u

mlich   eheliche  Abkunft,
standesgem

u

ße  Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er  alles nicht
besitze.  Wenn  er,  Baldini,  ihm  dennoch eines  Tages  zum  Gesellenbrief
verhelfen  wolle,  so  nur in  Anbetracht von Grenouilles nicht allt

u

glicher
Begabung, eines tadellosen k

u

nftigen Verhaltens und  wegen seiner, Baldinis,
unendlichen  Gutherzigkeit,  die  er,  auch  wenn  sie ihm  oft  zum Schaden
gereicht habe, niemals verleugnen k

u

nne.
     Es   hatte   freilich   mit   der  Einl

u

sung  dieses  Versprechens  der
Gutm

u

tigkeit gute  Weile, n

u

mlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erf

u

llte
sich  Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Tr

u

ume. Er gr

u

ndete
die Manufaktur  im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven
Parfums   bei   Hofe  durch,   bekam   k

u

nigliches  Privileg.  Seine  feinen
Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach
Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt,
wo  man doch  weiß Gott genug  eigene D

u

fte besaß. In den feinen
Kontoren  der  Londoner City duftete es  ebenso nach Baldinis Parfums wie am
Hofe  von  Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im  Schl

u

sschen des
Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit
abgefunden hatte,  sein Alter in bitterer Armut bei Messina  zu  verbringen,
mit   siebzig   Jahren  zum  unumstritten  gr

u

ßten  Parfumeur  Europas
aufgestiegen und zu einem der reichsten B

u

rger von Paris.
     Anfang des  Jahres 1756  - er hatte sich unterdessen  das Nebenhaus auf
dem Pont  au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte
Haus  war  nun  buchst

u

blich bis unters Dach mit  Duftstoffen und Spezereien
vollgestopft -  er

u

ffnete  er  Grenouille,  dass  er  nun  gewillt  sei, ihn
freizusprechen,  allerdings nur  unter drei  Bedingungen:  Erstens d

u

rfe  er
s

u

mtliche  unter  Baldinis Dach  entstandenen Parfums  k

u

nftig  weder selbst
herstellen noch ihre Formel  an Dritte weitergeben;  zweitens m

u

sse er Paris
verlassen  und d

u

rfe  es  zu Baldinis  Lebzeiten nicht wieder betreten;  und
drittens habe er 

u

ber die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen
zu bewahren. Dies alles solle er beschw

u

ren bei s

u

mtlichen Heiligen, bei der
armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre.
     Grenouille, der weder eine Ehre hatte  noch an  Heilige oder gar an die
arme Seele  seiner  Mutter glaubte, schwor. Er h

u

tte  alles  geschworen.  Er
h

u

tte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen l

u

cherlichen
Gesellenbrief  haben, der  es  ihm  erm

u

glichte,  unauff

u

llig zu  leben  und
unbehelligt  zu  reisen  und  Anstellung  zu  finden.  Das  andere  war  ihm
gleichg

u

ltig. Was waren  das auch schon  f

u

r  Bedingungen!  Paris nicht mehr
betreten? Wozu  brauchte er  Paris!  Er  kannte es ja  bis  in  den  letzten
stinkenden  Winkel,  er  f

u

hrte  es  mit  sich,  wohin  immer  er  ging,  er
besaß  Paris,  seit  Jahren.  -  Keinen  von  Baldinis   Erfolgsd

u

ften
herstellen,  keine  Formeln  weitergeben?  Als  ob er nicht  tausend  andere
erfinden k

u

nnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte
ja gar nicht. Er hatte ja gar  nicht vor, in  Konkurrenz zu  Baldini oder zu
irgendeinem anderen  der b

u

rgerlichen Parfumeure  zu  treten.  Er war  nicht
darauf  aus, mit seiner Kunst das große Geld zu  machen,  nicht einmal
leben  wollte er  von ihr, wenn's  anders m

u

glich  war zu  leben.  Er wollte
seines  Innern sich ent

u

ußern, nichts  anderes, seines Innern,  das er
f

u

r wunderbarer hielt als  alles, was die 

u

ußere Welt zu bieten hatte.
Und deshalb waren Baldinis Bedingungen f

u

r Grenouille keine Bedingungen.
     Im Fr

u

hjahr zog er  los, an einem Tag im Mai, fr

u

hmorgens. Er hatte von
Baldini  einen  kleinen  Rucksack bekommen,  ein  zweites  Hemd,  zwei  Paar
Str

u

mpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und f

u

nfundzwanzig Franc.
Das  sei  weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini,  zumal
Grenouille f

u

r die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld
bezahlt  habe. Verpflichtet  sei er  zu  zwei Franc  Weggeld, zu  sonst  gar
nichts. Aber  er k

u

nne eben seine Gutm

u

tigkeit so wenig  verleugnen  wie die
tiefe Sympathie, die sich  im Lauf der Jahre in seinem Herzen f

u

r den  guten
Jean-Baptiste  angesammelt habe.  Er  w

u

nsche  ihm  viel  Gl

u

ck  auf  seiner
Wanderschaft und ermahne  ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht
zu vergessen. Damit brachte er ihn an die T

u

r des Dienstboteneingangs, wo er
ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn.
     Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder
nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand  gegeben. Er hatte 

u

berhaupt immer
vermieden, ihn zu ber

u

hren, aus einer Art frommem Ekel, so, als best

u

nde die
Gefahr,  dass er sich anstecke an  ihm,  sich besudele. Er  sagte  nur  kurz
adieu.  Und  Grenouille  nickte  und duckte  sich  weg und  ging  davon. Die
Straße war menschenleer.
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     Baldini schaute ihm nach, wie er die Br

u

cke hinunterhatschte, zur Insel
hin

u

ber, klein, geb

u

ckt, den Rucksack wie einen  Buckel tragend, von  hinten
aussehend wie ein alter Mann. Dr

u

ben am Parlamentspalast, wo  die Gasse eine
Biegung  machte, verlor er ihn aus den  Augen und war  außerordentlich
erleichtert.
     Er hatte  den  Kerl nie  gemocht,  nie, jetzt konnte er es sich endlich
eingestehen.  Die ganze Zeit,  die er ihn unter  seinem Dach beherbergt  und
ausgepl

u

ndert  hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie
einem unbescholtenen  Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein
Spiel mit  unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man  ihm auf
die   Schliche   kam,  war  klein  und  die  Aussicht  auf  den  Erfolg  war
riesengroß gewesen; aber  ebenso groß waren auch Nervosit

u

t  und
schlechtes Gewissen.  Tats

u

chlich  war in all den Jahren kein Tag vergangen,
an dem  er nicht von der  unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen w

u

re, er
m

u

sse auf irgendeine Weise daf

u

r bezahlen, dass er sich mit  diesem Menschen
eingelassen  hatte.  Wenn's nur  gutgeht! so  hatte  er  sich  immer  wieder

u

ngstlich  vorgebetet,  wenn's mir nur  gelingt, dass ich  den Erfolg dieses
gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche daf

u

r zu  bezahlen! Wenn's mir
nur  gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich  tue, aber Gott wird ein Auge
zudr

u

cken, bestimmt  wird Er  es tun! Er  hat mich im Verlaufe meines Lebens
oftmals hart genug  gestraft,  ohne jeden Anlass, also  w

u

re es nur gerecht,
wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen
schon, wenn es 

u

berhaupt eines ist? H

u

chstens darin, dass ich mich ein wenig
außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich  die wunderbare  Begabung
eines Ungelernten  exploitiere und seine F

u

higkeit  als meine eigne ausgebe.
H

u

chstens darin, dass  ich  um  ein  Kleines  vom  traditionellen  Pfad  der
handwerklichen Tugend abgewichen bin. H

u

chstens  darin,  dass ich heute tue,
was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere  betr

u

gen
ihr Leben  lang. Ich  habe nur ein paar Jahre  ein bisschen geschummelt. Und
auch  nur,  weil mir der Zufall die  einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat.
Vielleicht war  es nicht einmal  der Zufall, vielleicht war  es Gott selbst,
der  mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung  f

u

r  die
Zeit   der  Erniedrigung  durch  Pelissier  und  seine  Spießgesellen.
Vielleicht  richtet sich  die g

u

ttliche F

u

gung  

u

berhaupt  nicht  auf  mich,
sondern 
gegen
  Pelissier! Das  k

u

nnte  sehr  wohl m

u

glich sein!  Wie  anders
n

u

mlich w

u

re Gott imstande,  Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich
erh

u

hte? Mein  Gl

u

ck w

u

re infolgedessen das Mittel g

u

ttlicher Gerechtigkeit,
und als solches d

u

rfte ich nicht nur, ich m

u

sste es  akzeptieren, ohne Scham
und ohne die geringste Reue...
     So hatte Baldini in den vergangenen Jahren  oft gedacht, morgens,  wenn
er die schmale Treppe in den  Laden  hinunterstieg, abends,  wenn er mit dem
Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silberm

u

nzen in seinen
Geldschrank  z

u

hlte, und nachts, wenn er  neben  dem  schnarchenden  Gerippe
seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gl

u

ck nicht schlafen konnte.
     Aber  jetzt,  endlich,  war es vorbei mit den  sinistren Gedanken.  Der
unheimliche Gast war fort und w

u

rde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber
blieb  und war f

u

r  alle  Zukunft sicher. Baldini legte  die  Hand auf seine
Brust und sp

u

rte durch den Stoff  des Rocks das B

u

chlein 

u

ber seinem Herzen.
Sechshundert  Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen
von  Parfumeuren  jemals  w

u

rden  realisieren  k

u

nnen.  Wenn  er heute alles
verl

u

re,  so  k

u

nnte  er  allein  mit  diesem  wunderbaren  B

u

chlein  binnen
Jahresfrist abermals ein  reicher Mann  sein.  Wahrlich, was konnte er  mehr
verlangen!
     Die Morgensonne fiel 

u

ber die Giebel der gegen

u

berliegenden H

u

user gelb
und  warm  auf sein Gesicht.  Immer  noch  schaute  Baldini nach  S

u

den  die
Straße  hinunter   in  Richtung  Parlamentspalastes   war  einfach  zu
angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus
einem  

u

berbordenden  Gef

u

hl  von  Dankbarkeit  noch  heute  nach Notre-Dame
hin

u

berzupilgern, ein Goldst

u

ck in  den  Opferstock  zu werfen, drei  Kerzen
anzuz

u

nden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel
Gl

u

ck 

u

berh

u

uft und vor Rache verschont hatte.
     Aber  dummerweise  kam  ihm  dann  wieder  etwas  dazwischen,  denn  am
Nachmittag, als er sich  gerade auf  den Weg  in die Kirche  machen  wollte,
wurde das Ger

u

cht laut, die Engl

u

nder  h

u

tten  Frankreich den Krieg erkl

u

rt.
Das war  zwar  an und f

u

r  sich  nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just
dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob
er  den  Besuch  in  Notre-Dame  und  ging  stattdessen  in  die  Stadt,  um
Erkundigungen  einzuholen,  und  anschließend in  seine  Manufaktur im
Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London f

u

rs erste zu stornieren.
Nachts im Bett, kurz vor dem  Einschlafen, hatte er  dann eine geniale Idee:
Er    wollte    in    Anbetracht     der     bevorstehenden    kriegerischen
Auseinandersetzungen um die Kolonien in  der Neuen Welt ein Parfum lancieren
unter dem Namen >Prestige  du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen
Erfolg - das stand fest  - ihn f

u

r den Wegfall des Englandgesch

u

fts mehr als
entsch

u

digen w

u

rde.  Mit  diesem s

u

ßen Gedanken in seinem dummen alten
Kopf,  den  er erleichtert auf das  Kissen bettete,  unter welchem  sich der
Druck des Formelb

u

chleins angenehm sp

u

rbar machte, entschlief Maitre Baldini
und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.
     In  der  Nacht n

u

mlich  geschah eine kleine  Katastrophe,  welche,  mit
geb

u

hrender Verz

u

gerung, den  Anlass dazu  gab, dass nach und nach s

u

mtliche
H

u

user auf  s

u

mtlichen Br

u

cken der Stadt  Paris  auf k

u

niglichen  Befehl hin
abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au  Change
auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich
zusammen.  Zwei  H

u

user  st

u

rzten  in  den  Fluss,  so  vollst

u

ndig  und  so
pl

u

tzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Gl

u

cklicherweise
handelte es sich nur um zwei Personen, n

u

mlich um Giuseppe Baldini und seine
Frau  Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt,  Ausgang
genommen. Chenier, der  erst in den fr

u

hen  Morgenstunden leicht angetrunken
nach  Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte,  denn das  Haus war  ja
nicht  mehr  da  -,  erlitt  einen  nerv

u

sen  Zusammenbruch.  Er hatte  sich
dreißig Jahre  lang der Hoffnung hingegeben,  von Baldini,  der  keine
Kinder  und Verwandte  hatte, im Testament als  Erbe eingesetzt zu sein. Und
nun,  mit  einem  Schlag, war das gesamte Erbe  weg, alles, Haus,  Gesch

u

ft,
Rohstoffe,  Werkstatt,  Baldini  selbst  -  ja  sogar   das  Testament,  das
vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben h

u

tte!
     Nichts  wurde gefunden, die Leichen nicht,  der Geldschrank nicht,  die
B

u

chlein mit den  sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von  Giuseppe
Baldini,  Europas  gr

u

ßtem  Parfumeur,   zur

u

ckblieb,   war  ein  sehr
gemischter Duft von  Moschus,  Zimt, Essig,  Lavendel  und  tausend  anderen
Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf  der Seine von Paris bis nach
Le Havre 

u

berschwebte.


     Zu  der  Zeit,  da  das  Haus  Giuseppe Baldini  st

u

rzte,  befand  sich
Grenouille  auf der Straße nach  Orleans. Er hatte den Dunstkreis  der
großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er  sich
weiter  von ihr  entfernte, wurde  die  Luft um  ihn her klarer, reiner  und
sauberer. Sie d

u

nnte sich gleichsam  aus.  Es hetzten sich nicht mehr  Meter
f

u

r  Meter  Hunderte, Tausende  verschiedener  Ger

u

che in rasendem  Wechsel,
sondern die wenigen, die es  gab - der Geruch der sandigen Straße, der
Wiesen, der Erde, der Pflanzen,  des Wassers -,  zogen in langen Bahnen 

u

ber
das   Land,  langsam  sich  bl

u

hend,  langsam  schwindend,  kaum  je  abrupt
unterbrochen.
     Grenouille   empfand  diese   Simplizit

u

t   wie   eine  Erl

u

sung.   Die
gem

u

chlichen D

u

fte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben
musste  er  nicht  mit  jedem  Atemzug  darauf  gefasst  sein,   ein  Neues,
Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein  Angenehmes zu verlieren. Zum
ersten  Mal konnte er fast frei atmen, ohne  dabei immer lauernd riechen  zu
m

u

ssen. >Fast< sagen  wir, denn wirklich frei str

u

mte nat

u

rlich nichts
durch Grenouilles  Nase.  Es blieb, auch wenn er nicht den  kleinsten Anlass
dazu hatte, immer  eine instinktive Reserviertheit in ihm wach  gegen alles,
was  von  außen kam und in  ihn  eingelassen werden sollte. Sein Leben
lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Ankl

u

nge  von so etwas wie
Genugtuung,  Zufriedenheit,  ja vielleicht  sogar Gl

u

ck  erlebte,  atmete er
lieber  aus  als  ein  -  wie  er  ja  auch   sein  Leben  nicht  mit  einem
hoffnungsvollen  Atemholen  begonnen  hatte, sondern mit einem  m

u

rderischen
Schrei.  Aber  von   dieser   Einschr

u

nkung  abgesehen,  die  bei  ihm  eine
konstitutionelle Beschr

u

nkung  war, f

u

hlte sich  Grenouille,  je  weiter  er
Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete  er immer  leichter, ging
er immer  beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch  zu einer
geraden K

u

rperhaltung auf, so  dass er von  ferne betrachtet beinahe wie ein
gew

u

hnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch.
     Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den  Menschen.  In Paris
lebten mehr Menschen  auf  engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf
der Welt.  Sechs-, siebenhunderttausend Menschen  lebten in  Paris. Auf  den
Straßen  und  Pl

u

tzen wimmelte  es  von  ihnen, und  die  H

u

user waren
vollgepfropft  mit ihnen vom Keller  bis unter die D

u

cher. Es gab kaum einen
Winkel  in Paris,  der  nicht  vor  Menschen  starrte,  keinen  Stein,  kein
Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch.
     Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang
wie  gewitterschw

u

le  Luft bedr

u

ckt hatte, das wurde  Grenouille erst  jetzt
klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es
sei die Welt im allgemeinen, von der er  sich  wegkr

u

mmen m

u

sse. Es war aber
nicht die Welt,  es  waren  die Menschen.  Mit der Welt, so schien  es,  der
menschenleeren Welt, ließ sich leben.
     Am   dritten   Tag   seiner   Reise   geriet   er   ins   olfaktorische
Gravitationsfeld von Orleans.  Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen
auf  die N

u

he der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des
Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner urspr

u

nglichen
Absicht,  Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit
nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen.  Er
machte  einen großen Bogen  um  die Stadt, stieß bei Ch

u

teauneuf
auf die Loire und 

u

berquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst.
Er   kaufte   sich  eine  neue  und  zog  dann,  den  Flusslauf  verlassend,
landeinw

u

rts.
     Er  mied jetzt nicht mehr  nur die St

u

dte,  er mied auch die D

u

rfer. Er
war  wie  berauscht  von  der   sich  immer  st

u

rker   ausd

u

nnenden,   immer
menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, n

u

herte er  sich
einer Siedlung oder einem alleinstehenden Geh

u

ft, kaufte Brot und verschwand
wieder in den W

u

ldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen
mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht
mehr den punktuell auftretenden Geruch  der Bauern,  die auf den Wiesen  das
erste Gras m

u

hten. 

u

ngstlich wich er jeder  Schafherde aus, nicht der Schafe
wegen,  sondern  um  den  Geruch  der  Hirten  zu  umgehen.  Er  schlug sich
querfeldein,  nahm meilenweite  Umwege  in Kauf, wenn  er  eine noch Stunden
entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere
Handwerksburschen   und  Herumtreiber,  f

u

rchtete,   kontrolliert  und  nach
Papieren gefragt und wom

u

glich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden  - er
wusste nicht einmal, dass  Krieg war -, sondern einzig  und allein, weil ihn
vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und
ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse
zu  gehen,  allm

u

hlich  verblasste;  der  Plan  l

u

ste sich sozusagen  in der
Freiheit auf, wie alle anderen Pl

u

ne und  Absichten. Grenouille wollte nicht
mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen.
     Schließlich  wanderte  er nur noch nachts.  Tags

u

ber  verkroch er
sich  ins  Unterholz,  schlief  unter B

u

schen,  im  Gestr

u

pp,  an  m

u

glichst
unzug

u

nglichen   Orten,  zusammengerollt   wie   ein   Tier,  die  erdbraune
Pferdedecke  

u

ber K

u

rper und Kopf  gezogen,  die Nase  in die  Ellbogenbeuge
verkeilt  und abw

u

rts  zur  Erde gerichtet, damit  auch nicht  der  kleinste
fremde Geruch seine Tr

u

ume st

u

rte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte
nach allen  Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass
auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer
vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine  Unterkunft aufgesucht hatten, erst
wenn die  Nacht  mit  ihren vermeintlichen Gefahren  das  Land von  Menschen
reingefegt hatte,  kam Grenouille  aus  seinem Versteck  hervorgekrochen und
setzte seine  Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fr

u

her,
als  er noch  tags

u

ber  gewandert war, hatte  er oft stundenlang  die  Augen
geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der
Landschaft, das Blendende, die Pl

u

tzlichkeit und die Sch

u

rfe des  Sehens mit
den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ  er sich gefallen.
Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des
Gel

u

ndes. Es 

u

berzog das  Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte f

u

r eine
Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei  gegossene  Welt, in der sich nichts
regte als  der Wind, der manchmal wie  ein  Schatten

u

ber  die grauen  W

u

lder
fiel,  und in der  nichts  lebte als die  D

u

fte der  nackten Erde,  war  die
einzige Welt, die er  gelten  ließ, denn sie 

u

hnelte  der  Welt seiner
Seele.
     So zog er in s

u

dliche  Richtung. Ungef

u

hr in s

u

dliche Richtung, denn er
folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der
ihn  jede Stadt, jedes Dorf,  jede  Siedlung umgehen ließ.  Wochenlang
traf er  keinen Menschen. Und  er h

u

tte sich im beruhigenden  Glauben wiegen
k

u

nnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen
Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt h

u

tte.
     Auch  nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab  es
Menschen.  Sie  hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel  zur

u

ckgezogen wie die
Ratten und  schliefen. Die  Erde  war nicht  rein  von ihnen, denn selbst im
Schlaf  d

u

nsteten sie ihren Geruch  aus,  der durch die offenen Fenster  und
durch die Ritzen  ihrer Behausungen hinaus ins  Freie dr

u

ngte  und  die sich
scheinbar selbst  

u

berlassene Natur  verpestete.  Je mehr sich Grenouille an
die  reinere  Luft  gew

u

hnt  hatte,  desto empfindlicher  traf  ihn  so  ein
Menschengeruch, der  pl

u

tzlich,  v

u

llig unerwartet, n

u

chtens daherflatterte,
scheußlich   wie   Adelgestank,   und   die  Anwesenheit   irgendeiner
Hirtenunterkunft oder einer  K

u

hlerkate oder einer R

u

uberh

u

hle verriet.  Und
er  fl

u

chtete  weiter, immer sensibler  reagierend  auf  den immer  seltener
werdenden Geruch  des  Menschlichen.  So  f

u

hrte  ihn  seine  Nase in  immer
abgelegenere  Gegenden  des  Landes,  entfernte ihn  immer  weiter  von  den
Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der gr

u

ßtm

u

glichen
Einsamkeit entgegen.

     Dieser Pol,  n

u

mlich der menschenfernste Punkt  des ganzen K

u

nigreichs,
befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa f

u

nf Tagesreisen s

u

dlich von
Clermont, auf  dem Gipfel eines zweitausend  Meter hohen Vulkansnamens Plomb
du Cantal.
     Der Berg  bestand aus einem  riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war
umgeben von einem endlosen, kargen, nur von  grauem Moos und grauem Gestr

u

pp
bewachsenen Hochland, aus dem hier und da  braune  Felsspitzen wie verfaulte
Z

u

hne  aufragten  und  ein  paar  von  Br

u

nden  verkohlte B

u

ume.  Selbst  am
helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der

u

rmste  Schafhirte  der  ohnehin  armen Provinz  seine  Tiere nicht  hierher
getrieben h

u

tte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie
in ihrer  gottverlassenen 

u

de nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der
weithin gesuchte auvergnatische  Bandit Lebrun hatte es  vorgezogen, sich in
die  Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen  und vierteilen  zu lassen,
als sich am  Plomb  du  Cantal zu verstecken,  wo  ihn  zwar  sicher niemand
gesucht  und  gefunden h

u

tte,  wo er aber  ebenso sicher  den  ihm schlimmer
erscheinenden   Tod   der  lebenslangen  Einsamkeit   gestorben   w

u

re.   In
meilenweitem Umkreis  des Berges  lebten kein  Mensch und  kein ordentliches
warmbl

u

tiges Tier, bloß ein paar Flederm

u

use  und ein  paar  K

u

fer und
Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
     Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als
der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine
Reise hier zu Ende war. Er dachte,  dies sei nur eine Etappe auf dem  Weg in
immer noch reinere L

u

fte,  und  er drehte sich im Kreise und  ließ den
Blick seiner  Nase  

u

ber  das  gewaltige Panorama  des  vulkanischen 

u

dlands
streifen:  nach Osten hin, wo  die  weite Hochebene von Saint-Flour und  die
S

u

mpfe des  Flusses Riou lagen; nach  Norden hin, in  die Gegend, aus der er
gekommen  und  wo  er tagelang durch  karstiges Gebirge  gewandert war; nach
Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein
und hartem Gras entgegentrug; nach S

u

den schließlich, wo die Ausl

u

ufer
des  Plomb  sich  meilenweit hinzogen  bis  zu  den  dunklen Schluchten  der
Truyere.   

u

berall,   in   jeder   Himmelsrichtung,  herrschte  die  gleiche
Menschenferne, und zugleich h

u

tte jeder  Schritt  in  jede  Richtung  wieder
gr

u

ßere Menschenn

u

he  bedeutet. Der Kompass  kreiselte.  Er  gab keine
Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
     Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und  hielt
seine Nase  in  die Luft.  Mit verzweifelter Anstrengung  versuchte er,  die
Richtung  zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche  kam, und  die
Gegenrichtung, in  die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung  argw

u

hnte
er, doch  noch einen  verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs  zu entdecken.
Doch  da war nichts. Da war nur  Ruhe, wenn man  so sagen  kann, geruchliche
Ruhe. Ringsum herrschte nur  der  wie ein leises Rauschen  wehende, homogene
Duft  der toten Steine, der grauen Flechten und der d

u

rren Gr

u

ser, und sonst
nichts.
     Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was  er nicht roch.
Er war auf sein  Gl

u

ck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte  sich lange
gegen die  bessere  Einsicht. Er  nahm sogar, w

u

hrend die Sonne stieg, seine
Augen  zuhilfe   und  suchte  den  Horizont  nach   dem  geringsten  Zeichen
menschlicher  Gegenwart  ab, nach  dem  Dach  einer H

u

tte,  dem  Rauch eines
Feuers,  einem 
Zaun,
  einer Br

u

cke, einer Herde. Er hielt die  H

u

nde an  die
Ohren und lauschte, nach dem Dengeln  einer Sense etwa oder dem Gebell eines
Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag 

u

ber verharrte er in der
gl

u

hendsten Hitze auf dem Gipfel  des Plomb du Cantal und wartete vergeblich
auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne  unterging,  wich sein Misstrauen
allm

u

hlich einem immer  st

u

rker  werdenden Gef

u

hl  der Euphorie: Er war  dem
verhassten Odium entkommen!  Er war tats

u

chlich vollst

u

ndig  allein! Er  war
der einzige Menschauf der Welt!
     Ein ungeheurer Jubel  brach in ihm aus. So wie ein Schiffbr

u

chiger nach
wochenlanger  Irrfahrt  die  erste  von Menschen  bewohnte Insel  ekstatisch
begr

u

ßt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit.
Er schrie  vor Gl

u

ck. Rucksack, Decke, Stock warf er  von sich und trampelte
mit  den F

u

ßen auf den  Boden, warf die Arme in  die H

u

he,  tanzte  im
Kreis, br

u

llte  seinen  eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die F

u

uste,
sch

u

ttelte sie triumphierend gegen das  ganze weite unter  ihm liegende Land
und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als h

u

tte er sie pers

u

nlich vom
Himmel  verjagt. Er  f

u

hrte sich auf wie  ein Wahnsinniger, bis  tief in die
Nacht hinein.

     Die n

u

chsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten -
denn das stand f

u

r ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht
mehr  verlassen w

u

rde. Als erstes schnupperte  er nach Wasser und fand es in
einem Einbruch etwas unterhalb  des Gipfels, wo es  in einem  d

u

nnen Film am
Fels entlangrann. Es  war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang
leckte, hatte er seinen  Feuchtigkeitsbedarf f

u

r einen Tag gestillt. Er fand
auch Nahrung,  n

u

mlich kleine Salamander und Ringelnattern, die  er, nachdem
er ihnen  den Kopf  abgeknipst hatte,  mit Haut und Knochen verschlang. Dazu
aß  er   trockene  Flechten   und  Gras  und  Moosbeeren.  Diese  nach
b

u

rgerlichen  Maßst

u

ben  v

u

llig  undiskutable Ern

u

hrungsweise verdross
ihn  nicht im mindesten.  Schon in den letzten Wochen  und Monaten hatte  er
sich nicht mehr  von  menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und  Wurst und
K

u

se  ern

u

hrt, sondern, wenn  er  Hunger versp

u

rte, alles zusammengefressen,
was  ihm  an irgendwie Essbarem  in die Quere gekommen  war.  Er  war nichts
weniger  als ein Gourmet. Er hatte  es 

u

berhaupt nicht mit dem  Genuss, wenn
der Genuss in  etwas anderem als dem  reinen k

u

rperlosen Geruch bestand.  Er
hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und w

u

re zufrieden gewesen,  sein
Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres.
     Nahe der Wasserstelle  entdeckte er  einen nat

u

rlichen  Stollen, der in
vielen engen  Windungen  in  das Innere des Berges f

u

hrte, bis er nach  etwa
dreißig  Metern an  einer  Versch

u

ttung  endete.  Dort,  am  Ende  des
Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern  das Gestein  ber

u

hrten,
und so niedrig, dass  er nur  geb

u

ckt  stehen konnte. Aber er konnte sitzen,
und  wenn  er  sich kr

u

mmte,  konnte  er sogar liegen.  Das  gen

u

gte  seinem
Bed

u

rfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort  hatte unsch

u

tzbare Vorz

u

ge:
Am Ende des Tunnels herrschte selbst  tags

u

ber  stockfinstere Nacht,  es war
totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige K

u

hle. Grenouille roch
sofort,  dassnoch  kein lebendes  Wesen  diesen Platz  je betreten hatte. Es

u

berfiel  ihn beinahe ein  Gef

u

hl  von heiliger  Scheu, als er ihn in Besitz
nahm.  Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf  den  Boden, als bedecke er
einen Altar, und legte sich darauf. Er f

u

hlte sich himmlisch wohl. Er lag im
einsamsten Berg Frankreichs f

u

nfzig Meter tief unter der Erde wie in  seinem
eigenen Grab. Noch nie im  Leben hatte er sich so sicher gef

u

hlt - schon gar
nicht im Bauch seiner  Mutter. Es mochte draußen die  Welt verbrennen,
hier  w

u

rde er  nichts  davon merken. Er begann still zu  weinen.  Er wusste
nicht, wem er danken sollte f

u

r so viel Gl

u

ck. In der folgenden Zeit ging er
nur  noch ins Freie,  um  an der  Wasserstelle zu lecken,  sich rasch seines
Urins  und seiner Exkremente zu entledigen, und um  Echsen  und Schlangen zu
jagen.  Nachts waren  sie leicht  zu erwischen, denn sie  hatten  sich unter
Steinplatten oder  in kleine H

u

hlen zur

u

ckgezogen, wo er sie mit seiner Nase
aufsp

u

rte.
     Zum Gipfel hinauf stieg er w

u

hrend der ersten Wochen wohl noch ein paar
Mal,  um  den Horizont  abzuwittern.  Bald aber  war  dies mehr eine l

u

stige
Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte  er
Bedrohliches gerochen. Und so stellte  er schließlich die  Exkursionen
ein und war  nur noch darauf bedacht, so schnell wie m

u

glich in  seine Gruft
zur

u

ckzukehren,   wenn  er   die  f

u

rs  schiere   

u

berleben   allern

u

tigsten
Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der  Gruft, lebte er
eigentlich.  Das heißt, er saß weit 

u

ber zwanzig  Stunden am Tag
in  vollkommener  Dunkelheit  und  vollkommener  Stille   und   vollkommener
Bewegungslosigkeit  auf seiner Pferdedecke am  Ende des  steinernen  Ganges,
hatte den R

u

cken gegen das Ger

u

ll gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen
geklemmt, und gen

u

gte sich selbst.
     Man weiß  von  Menschen, die  die Einsamkeit suchen: B

u

ßer,
Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in W

u

sten
zur

u

ck, wo  sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche  wohnen auch
in  H

u

hlen und Klausen  auf  abgelegenen  Inseln oder  hocken  sich  - etwas
spektakul

u

rer - in K

u

fige,  die auf Stangen  montiert  sind und hoch in  den
L

u

ften schweben. Sie  tun das, um Gott n

u

her zu sein. Sie kasteien sich  mit
der Einsamkeit  und tun Buße durch sie.  Sie handeln im  Glauben,  ein
gottgef

u

lliges Leben  zu  f

u

hren.  Oder  sie warten monate-  oder  jahrelang
darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine g

u

ttliche Mitteilung zukomme,  die
sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen.
     Nichts  von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das
geringste  im  Sinn.  Er  b

u

ßte  nicht  und  wartete  auf keine h

u

here
Eingebung.  Nur  zu  seinem  eigenen,  einzigen  Vergn

u

gen   hatte  er  sich
zur

u

ckgezogen, nur,  um sich selbst  nahe  zu  sein.  Er  badete  in  seiner
eigenen, durch nichts mehr  abgelenkten Existenz und fand das herrlich.  Wie
seine eigene Leiche  lag er in der Felsengruft,  kaum noch atmend, kaum dass
sein Herz  noch  schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend,  wie
nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.

     Schauplatz dieser  Ausschweifungen war  - wie k

u

nnte  es  anders sein -
sein inneres Imperium, in das  er  von  Geburt an die Konturen aller Ger

u

che
eingegraben  hatte,  denen er jemals  begegnet  war. Um sich in  Stimmung zu
bringen, beschwor  er  zun

u

chst die  fr

u

hesten, die  allerentlegensten:  den
feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig
verdorrte Odeur  ihrer H

u

nde;  den essigsauren  Atem des Pater  Terrier; den
hysterischen, heißen m

u

tterlichen Schweiß  der  Amme Bussie; den
Leichengestank des Cimetiere des  Innocents; den M

u

rdergeruch seiner Mutter.
Und er schwelgte in  Ekel und Hass, und  es str

u

ubten sich  seine  Haare vor
wohligem Entsetzen.
     Manchmal,  wenn  ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten  noch  nicht
gen

u

gend in Fahrt  gebracht  hatte, gestattete  er sich auch  einen  kleinen
geruchlichen  Abstecher  zu  Grimal  und  kostete  vom  Gestank  der  rohen,
fleischigen H

u

ute und der Gerbbr

u

hen,  oder er imaginierte den  versammelten
Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schw

u

len lastenden  Hitze des
Hochsommers.
     Und  dann  brach mit  einem  Mal - das  war  der Sinn  der 

u

bung  - mit
orgastischer  Gewalt  sein angestauter  Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er
her  

u

ber  diese  Ger

u

che,  die es gewagt  hatten,  seine erlauchte Nase  zu
beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld  drosch er auf sie ein, wie ein Orkan
zerst

u

ubte  er  das Geluder  und ers

u

ufte  es  in einer riesigen reinigenden
Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß  war
seine Rache. Ah!  Welch sublimer Augenblick!  Grenouille, der kleine Mensch,
zitterte vor Erregung, sein K

u

rper krampfte sich in  woll

u

stigem Behagen und
w

u

lbte sich auf, so dass er f

u

r einen Moment mit  dem Scheitel an  die Decke
des  Stollens  stieß,  um  dann langsam zur

u

ckzusinken  und  liegen zu
bleiben,  gel

u

st und  tief  befriedigt. Er war wirklich zu angenehm,  dieser
eruptive  Akt  der  Extinktion  aller  widerw

u

rtigen  Ger

u

che,  wirklich  zu
angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste  in der ganzen Szenenfolge
seines inneren  Welttheaters,  denn  sie vermittelte  das  wunderbare Gef

u

hl
rechtschaffener Ersch

u

pfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften
Taten folgt.
     Er  durfte nun eine Weile lang guten  Gewissens ruhen. Er streckte sich
aus; k

u

rperlich, so gut es eben  ging im engen steinernen Gelass.  Innerlich
jedoch,  auf den  reingefegten  Matten seiner  Seele ,  da  streckte er sich
bequem der vollen L

u

nge nach und d

u

ste dahin und ließ sich feine D

u

fte
um  die Nase  spielen:  ein w

u

rziges  L

u

ftchen etwa, wie von Fr

u

hlingswiesen
hergetragen;  einen  lauen   Maienwind,   der   durch   die  ersten   gr

u

nen
Buchenbl

u

tter weht; eine Brise vom Meer,  herb wie gesalzene Mandeln. Es war
sp

u

ter Nachmittag, als  er sich erhob - sozusagen sp

u

ter Nachmittag, denn es
gab nat

u

rlich keinen Nachmittag oder  Vormittag oder  Abend  oder Morgen, es
gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine  Fr

u

hlingswiesen  und
keine gr

u

nen Buchenbl

u

tter...  es gab 

u

berhaupt  keine Dinge in  Grenouilles
innerem Universum,  sondern nur  die D

u

fte von Dingen.  (Darum  ist es  eine
fa

u

on de parler,
 von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine
ad

u

quate freilich und die einzig m

u

gliche,  denn unsere Sprache  taugt nicht
zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sp

u

ter Nachmittag, will
sagen ein  Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles  Seele, wie  er im S

u

den  am
Ende der Siesta  herrscht,  wenn die mitt

u

gliche L

u

hmung langsam abf

u

llt von
der  Landschaft  und  das zur

u

ckgehaltne  Leben  wieder  beginnen will.  Die
wutentbrannte Hitze  -  Feindin der  sublimen D

u

fte  -  war  verflogen,  das
D

u

monenpack  vernichtet.  Die inneren Gefilde  lagen blank  und weich in der
lasziven Ruhe  des Erwachens und warteten, dass der  Wille ihres Herrn  

u

ber
sie k

u

me.
     Und Grenouille erhob sich -  wie gesagt - und sch

u

ttelte den Schlaf aus
seinen  Gliedern. Er stand  auf, der große  innere Grenouille, wie ein
Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gr

u

ße, herrlich
war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die
Runde, stolz und hoheitsvoll:
     Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem
einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verw

u

stet,  wann
es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet,  von ihm ins Unermessliche erweitert
und mit dem  Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling.  Hier  galt
nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen
Grenouille. Und nachdem die  

u

blen Gest

u

nke der Vergangenheit  hinweggetilgt
waren,  wollte  er  nun, dass  es  dufte  in seinem Reich. Und  er ging  mit
m

u

chtigen  Schritten   

u

ber  die   brachen   Fluren   und   s

u

te  Duft   der
verschiedensten  Sorten,  verschwenderisch  hier,  sparsam dort,  in  endlos
weiten   Plantagen  und  kleinen  intimen  Rabatten,  den  Samen  faustweise
verschleudernd oder  einzeln an eigens ausgew

u

hlten Pl

u

tzen  versenkend. Bis
in  die  entlegensten  Regionen   seines  Reiches   eilte  der   Große
Grenouille, der rasende G

u

rtner, und bald  war kein  Winkel mehr, in  den er
kein Duftkorn geworfen h

u

tte.
     Und als er  sah,  dass es gut war und  dass das  ganze Land  von seinem
g

u

ttlichen Grenouillesamen durchtr

u

nkt war,  da ließ  der  Große
Grenouille  einen  Weingeistregen herniedergehen, sanft und  stetig, und  es
begann  all

u

berall zu keimen und zu  sprießen, und die Saat trieb aus,
dass es  das Herz erfreute. Schon wogte es 

u

ppig auf den  Plantagen, und  in
den verborgenen G

u

rten  standen die Stengel im Saft.  Die Knospen der Bl

u

ten
platzten schier aus ihrer H

u

lle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt
dem  Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines  L

u

chelns

u

ber das  Land, worauf sich mit  einem Schlag die millionenfache Pracht  der
Bl

u

ten  erschloss,  von  einem Ende  des Reichs  bis zum anderen,  zu  einem
einzigen bunten Teppich, gekn

u

pft aus Myriaden von k

u

stlichen Duftbeh

u

ltern.
Und der Große Grenouille sah, dass es gut war,  sehr, sehr gut. Und er
blies  den  Wind  seines Odems  

u

ber  das Land.  Und  die  Bl

u

ten, liebkost,
verstr

u

mten  Duft und  vermischten  ihre  Myriaden  D

u

fte  zu  einem st

u

ndig
changierenden   und   doch  in  st

u

ndigem  Wechsel   vereinten   universalen
Huldigungsduft  an  Ihn, den  Großen,  den  Einzigen,  den  Herrlichen
Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem
schnuppernd wieder ein, und der Geruch des  Opfers war ihm angenehm.  Und er
ließ  sich  herab,  seine Sch

u

pfung  mehrmals zu segnen, was  ihm  von
dieser   mit   Jauchzen    und   Jubilieren   und   abermaligen   herrlichen
Duftausst

u

ßen  gedankt  wurde. Unterdessen war es Abend geworden,  und
die D

u

fte  verstr

u

mten sich weiter und mischten sich in der Bl

u

ue der  Nacht
zu immer  phantastischeren Noten. Es  stand eine  wahre Ballnacht  der D

u

fte
bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk.
     Der Große Grenouille aber war etwas  m

u

de geworden und g

u

hnte und
sprach: "Siehe, ich  habe  ein  großes Werk getan,  und es gef

u

llt mir
sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich  zu langweilen. Ich will
mich zur

u

ckziehen  und mir zum Abschluss  dieses arbeitsreichen Tages in den
Kammern  meines Herzens noch eine kleine Begl

u

ckung g

u

nnen." Also sprach der
Große Grenouille und segelte, w

u

hrend das  einfache Duftvolk unter ihm
freudig tanzte und feierte,  mit weitausgespannten Fl

u

geln  von der goldenen
Wolke herab 

u

ber das n

u

chtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz.

     Ach,  es war  angenehm,  heimzukehren!  Das Doppelamt des  R

u

chers  und
Weltenerzeugers strengte  nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen
Brut stundenlang  feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der
g

u

ttlichen Sch

u

pfungs-  und Repr

u

sentationsverpflichtungen m

u

de, sehnte sich
der Große Grenouille nach h

u

uslichen Freuden.
     Sein Herz war ein  purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen W

u

ste,
getarnt hinter  D

u

nen, umgeben von einer  Oase aus Sumpf  und hinter  sieben
steinernen Mauern.  Es war nur im Flug  zu erreichen. Es besaß tausend
Kammern und  tausend Keller  und  tausend feine  Salons, darunter einen  mit
einem einfachen  purpurnen  Kanapee, auf welchem  Grenouille,  der nun nicht
mehr der  Große Grenouille war, sondern  Grenouille  ganz  privat oder
einfach der liebe Jean-Baptiste, sich  von  der M

u

hsal des Tages  auszuruhen
pflegte.
     In den  Kammern des Schlosses aber standen Regale  vom Boden bis hinauf
an die Decke, und  darin befanden sich alle Ger

u

che, die Grenouille im Laufe
seines  Lebens  gesammelt hatte, mehrere Millionen.  Und  in den Kellern des
Schlosses, da ruhten in F

u

ssern die besten  D

u

fte seines Lebens. Sie wurden,
wenn   sie   gereift  waren,  auf  Flaschen   gezogen   und  lagen  dann  in
kilometerlangen  feuchtk

u

hlen  G

u

ngen,  geordnet nach Jahrgang und Herkunft,
und es waren  ihrer  so viele,  dass ein  Leben  nicht reichte,  sie alle zu
trinken.
     Und  als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein 
chez soi,
im purpurnen Salon auf  seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die  Stiefel,
wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -,  klatschte er in die H

u

nde und
rief seine Diener herbei, die  unsichtbar, unf

u

hlbar, unh

u

rbar und vor allem
unriechbar,  also vollst

u

ndig imagin

u

re  Diener  waren, und befahl ihnen, in
die Kammern  zu gehen und aus der großen Bibliothek der Ger

u

che diesen
oder jenen Band zu besorgen und  in den Keller zu steigen und ihm zu trinken
zu  holen.  Es  eilten die imagin

u

ren  Diener, und  in peinigender Erwartung
krampfte sich  Grenouilles Magen  zusammen. Es war ihm  pl

u

tzlich zumute wie
einem  Trinker,  den  am  Tresen  die  Angst  bef

u

llt,  man k

u

nnte  ihm  aus
irgendeinem  Grund  das  bestellte  Glas  Schnaps verweigern. Was,  wenn die
Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der  Wein  in  den  F

u

ssern
verdorben  war? Warum ließ  man  ihn  warten? Warum kam man nicht?  Er
brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war s

u

chtig danach, er
w

u

rde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bek

u

me.
     Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was
du begehrst.  Schon fliegen die Diener  herbei. Sie  tragen auf unsichtbarem
Tablett  das  Buch  der  Ger

u

che,  sie  tragen  in  weißbehandschuhten
unsichtbaren  H

u

nden  die  kostbaren  Flaschen,  sie  setzen  sie  ab,  ganz
behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden.
     Und  alleine   gelassen,  endlich  -  mal  wieder!   -  allein,  greift
Jean-Baptiste nach den ersehnten Ger

u

chen, 

u

ffnet die erste Flasche, schenkt
sich ein  Glas voll bis zum Rand, f

u

hrt es an  die Lippen und trinkt. Trinkt
das Glas k

u

hlen Geruchs in einem Zug  leer, und  es  ist k

u

stlich! Es ist so
erl

u

send gut, dass dem  lieben Jean-Baptiste  vor  Wonne das  Wasser  in die
Augen  schießt  und  er  sich  sofort  das  zweite  Glas  dieses Dufts
einschenkt:  eines Dufts  aus dem  Jahr 1752, aufgeschnappt im Fr

u

hjahr, vor
Sonnenaufgang  auf dem Pont Royal,  mit nach Westen  gerichteter Nase, woher
ein leichter Wind  kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom
teerigen  Geruch der K

u

hne mischten, die  am Ufer lagen. Es war der Duft der
ersten  zu Ende  gehenden  Nacht, die  er,  ohne Grimals Erlaubnis, in Paris
herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich n

u

hernden
Tages, des ersten Tagesanbruchs, den  er in  Freiheit erlebte. Dieser Geruch
hatte  ihm  damals die Freiheit  verheißen.  Er hatte ihm ein  anderes
Leben verheißen.  Der  Geruch jenes  Morgens  war f

u

r  Grenouille  ein
Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank t

u

glich davon.
     Nachdem er das zweite Glas geleert hatte,  fiel alle Nervosit

u

t, fielen
Zweifel  und  Unsicherheit von ihm  ab,  und es erf

u

llte ihn  eine herrliche
Ruhe. Er presste seinen R

u

cken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug
ein Buch auf und  begann, in seinen Erinnerungen zu  lesen. Er  las  von den
Ger

u

chen  seiner  Kindheit, von  den Schulger

u

chen,  von  den  Ger

u

chen  der
Straßen  und Winkel  der Stadt,  von  Menschenger

u

chen. Und  angenehme
Schauer durchrieselten ihn,  denn es waren durchaus die verhassten  Ger

u

che,
die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las
Grenouille  im  Buch  der  ekligen  Ger

u

che, und  wenn  der  Widerwille  das
Interesse 

u

berwog,  so klappte er  es einfach zu, legte es  weg und nahm ein
anderes.
     Nebenher trank er ohne Pause von den edlen D

u

ften. Nach der Flasche mit
dem Hoffnungsduft entkorkte er  eine aus dem Jahre 1744, die gef

u

llt war mit
dem warmen  Holzgeruch vor  dem  Haus  der  Madame Gaillard. Und nach diesem
trank  er  eine  Flasche   sommerabendlichen  Dufts,   parfumdurchweht   und
bl

u

tenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno
1753.
     Er  war nun m

u

chtig  angef

u

llt von  D

u

ften.  Die  Glieder  lagen  immer
schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er
noch nicht am Ende  des Gelages. Zwar konnten seine Augen  nicht mehr lesen,
war ihm das Buch l

u

ngst  aus  der Hand geglitten - aber er wollte den  Abend
nicht beschließen, ohne  noch  die  letzte Flasche,  die  herrlichste,
geleert zu haben: Es war der Duft des M

u

dchens aus der Rue des Marais...
     Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu  diesem Zweck aufrecht auf
das Kanapee,  obwohl ihm das schwerfiel, denn  der purpurne Salon  schwankte
und kreiste um  ihn bei jeder Bewegung. In  sch

u

lerhafter  Haltung, die Knie
aneinandergepresst, die F

u

ße dicht an  dicht  gestellt, auf den linken
Oberschenkel seine linke  Hand gelegt - so trank  der  kleine Grenouille den
k

u

stlichsten Duft aus den  Kellern seines Herzens, Glas  um  Glas, und wurde
immer trauriger  dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er
so viel Gutes nicht  vertrug. Und trank  doch, bis die Flasche leer war:  Er
ging durch den dunklen Gang von der  Straße in  den Hinterhof. Er ging
auf  den  Lichtschein zu.  Das M

u

dchen saß und schnitt die  Mirabellen
auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks...
     Er stellte  das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalit

u

t und vom
Suff wie versteinert, ein  paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch  der
letzte  Nachgeschmack  von  der Zunge verschwunden war. Er glotzte  vor sich
hin. In  seinem Hirn war  es pl

u

tzlich  so leer wie  in  den Flaschen.  Dann
kippte  er um, seitlich  aufs purpurne Kanapee und versank  von einem Moment
zum anderen in einen bet

u

ubenden Schlaf.
     Zur gleichen Zeit  schlief auch  der 

u

ußere Grenouille auf seiner
Pferdedecke ein. Und sein  Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren
Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen
nicht weniger ersch

u

pft -  schließlich waren beide ja ein und dieselbe
Person.
     Als  er aufwachte allerdings, wachte  er nicht auf  im  purpurnen Salon
seines  purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und  auch  nicht in den
fr

u

hlingshaften  Duftgefilden  seiner  Seele,  sondern einzig und allein  im
Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und
ihm  war spei

u

bel  vor Hunger und  Durst und fr

u

stelig  und elend wie  einem
s

u

chtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem
Stollen.
     Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens  die  beginnende  oder
die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach  ihm die Helligkeit des
Sternenlichts  wie Nadeln in  die  Augen.  Die  Luft  erschien  ihm staubig,
raß, lungenbrennend, die Landschaft  hart, er  stieß sich an den
Steinen. Und selbst  die zartesten Ger

u

che  wirkten  streng und beizend  auf
seine weltentw

u

hnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie
ein Krebs, der  sein  Muschelgeh

u

use  verlassen  hat  und nackt durchs  Meer
wandert.
     Er ging zur Wasserstelle, leckte die  Feuchtigkeit von  der  Wand, ein,
zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in
der ihm  die wirkliche  Welt auf  der  Haut  brannte. Er riss sich ein  paar
Fetzen  Moos  von  den Steinen, w

u

rgte sie in  sich hinein, hockte sich hin,
schiss w

u

hrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -,
und  wie  gejagt, wie wenn er ein  kleines  weichfleischiges  Tier w

u

re  und
droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zur

u

ck zu seiner H

u

hle
bis ans  Ende des Stollens,  wo  die  Pferdedecke lag.  Hier  war er endlich
wieder sicher.
     Er lehnte sich zur

u

ck gegen  die Sch

u

tte von Ger

u

ll, streckte die Beine
aus und  wartete.  Er  musste  seinen K

u

rper  jetzt ganz still halten,  ganz
still,  wie ein Gef

u

ß, das von zu viel Bewegung 

u

berzuschwappen droht.
Allm

u

hlich gelang es ihm,  den Atem zu z

u

geln. Sein  aufgeregtes Herz schlug
ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und pl

u

tzlich fiel
die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfl

u

che  

u

ber sein Gem

u

t. Er  schloss
die Augen. Die  dunkle T

u

re in sein Inneres tat sich  auf,  und er trat ein.
Die n

u

chste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann.

     So ging  es Tag  f

u

r Tag, Woche  f

u

r Woche, Monat f

u

r Monat. So ging es
sieben ganze Jahre lang.
     W

u

hrend dieser Zeit herrschte in der 

u

ußeren Welt Krieg, und zwar
Weltkrieg. Man  schlug  sich  in  Schlesien  und  Sachsen,  in  Hannover und
Belgien, in B

u

hmen und Pommern. Die Truppen des K

u

nigs starben in Hessen und
Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern
sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem  Typhus erlagen. Der Krieg kostete
einer  Million  Menschen   das   Leben,  den  K

u

nig   von  Frankreich   sein
Kolonialreich  und  alle  beteiligten  Staaten so  viel Geld, dass sie  sich
schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden.
     Grenouille w

u

re einmal  in dieser Zeit, im Winter, fast  erfroren, ohne
es  zu  merken. F

u

nf Tage lag er im purpurnen  Salon, und als er im  Stollen
erwachte, konnte er  sich vor  K

u

lte nicht mehr  bewegen.  Er schloss sofort
wieder  die  Augen,  um  sich  zu  Tode  zu  schlafen.  Doch  dann  kam  ein
Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn.
     Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich
bis zu den Flechten durchzuw

u

hlen.  Da ern

u

hrte er sich von  steifgefrorenen
Flederm

u

usen.
     Einmal lag ein toter Rabe vor der H

u

hle. Den aß er. Das waren die
einzigen  Vorkommnisse,  die er  von  der  

u

ußeren Welt  in den sieben
Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten  lebte er  nur in  seinem  Berg, nur  im
selbstgeschaffenen Reich  seiner Seele. Und er  w

u

re bis zu seinem Tode dort
geblieben  (denn  es mangelte ihm  an nichts), wenn  nicht  eine Katastrophe
eingetreten  w

u

re,  die  ihn  aus  dem  Berg  vertrieben  und  in  die  Welt
zur

u

ckgespieen h

u

tte.

     Die Katastrophe war kein  Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und
kein  Stolleneinsturz.  Sie  war 

u

berhaupt keine  

u

ußere  Katastrophe,
sondern  eine  innere, und  daher  besonders peinlich,  denn  sie blockierte
Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie  geschah im Schlaf.  Besser gesagt im
Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie.
     Er lag  auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn  standen
die leeren Flaschen. Er hatte enorm  viel getrunken, zum  Abschluss gar zwei
Flaschen  vom Duft des rothaarigen  M

u

dchens. Wahrscheinlich war das zu viel
gewesen,  denn sein Schlaf,  wiewohl  von  todes

u

hnlicher Tiefe, war diesmal
nicht traumlos, sondern von  geisterhaften Traumschlieren durchzogen.  Diese
Schlieren  waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs.  Zuerst zogen sie
nur in d

u

nnen Bahnen an Grenouilles  Nase vorbei,  dann wurden  sie dichter,
wolkenhaft. Es war nun,  als st

u

nde er inmitten  eines  Moores,  aus dem der
Nebel  stieg. Der  Nebel stieg  langsam  immer  h

u

her. Bald  war  Grenouille
vollkommen  umh

u

llt  von  Nebel,  durchtr

u

nkt  von  Nebel,  und zwischen den
Nebelschwaden war  kein bisschen freie Luft  mehr. Er musste, wenn  er nicht
ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel  war, wie gesagt, ein
Geruch. Und Grenouille wusste  auch, was f

u

r  ein Geruch. Der Nebel war sein
eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel.
     Und nun war das Entsetzliche, dass  Grenouille, obwohl er wusste,  dass
dieser  Geruch 
sein
  Geruch war, ihn  nicht riechen  konnte. Er konnte sich,
vollst

u

ndig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen!
     Als ihm das klargeworden war, schrie er so f

u

rchterlich laut, als w

u

rde
er  bei lebendigem  Leibe  verbrannt.  Der  Schrei zerschlug die  W

u

nde  des
Purpursalons,  die  Mauern des  Schlosses, er fuhr aus  dem Herzen 

u

ber  die
Gr

u

ben und  S

u

mpfe und W

u

sten hinweg, raste 

u

ber  die n

u

chtliche  Landschaft
seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte  aus seinem Mund hervor,  durch  den
gewundenen Stollen,  hinaus in  die  Welt, weithin  

u

ber  die  Hochebene von
Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem
eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als m

u

sse er den unriechbaren
Nebel vertreiben,  der  ihn  ersticken  wollte.  Er  war  zutode ge

u

ngstigt,
schlotterte am  ganzen K

u

rper  vor schierem Todesschrecken. H

u

tte der Schrei
nicht  den Nebel  zerrissen, dann  w

u

re  er  an sich selber ertrunken -  ein
grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zur

u

ckdachte. Und w

u

hrend er
noch  schlotternd  saß  und  versuchte,  seine  konfusen ver

u

ngstigten
Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz  sicher: Er w

u

rde sein
Leben  

u

ndern, und  sei es  nur deshalb, weil er einen so  furchtbaren Traum
kein zweites Mal tr

u

umen wollte. Er w

u

rde das zweite Mal  nicht  

u

berstehen.
Er warf sich die Pferdedecke 

u

ber die  Schultern und kroch hinaus ins Freie.
Draußen war gerade  Vormittag, ein Vormittag  Ende Februar.  Die Sonne
schien. Das  Land roch nach  feuchtem  Stein, Moos und Wasser.  Im  Wind lag
schon  ein  wenig Duft von Anemonen.  Er hockte sich  vor der  H

u

hle auf den
Boden. Das  Sonnenlicht  w

u

rmte ihn. Er  atmete  die  frische  Luft ein.  Es
schauderte  ihn  immer  noch,  wenn  er  an den  Nebel zur

u

ckdachte,  dem er
entronnen war, und es schauderte  ihn vor  Wohligkeit, als er die W

u

rme  auf
dem R

u

cken sp

u

rte.  Es  war doch  gut, dass  diese  

u

ußere  Welt  noch
bestand,  und  sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken  das Grauen,
wenn  er  am  Ausgang  des Tunnels keine  Welt mehr vorgefunden  h

u

tte! Kein
Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch  diesen entsetzlichen Nebel,
innen, außen, 

u

berall...
     Allm

u

hlich wich der  Schock. Allm

u

hlich lockerte  sich  der  Griff  der
Angst, und  Grenouille begann sich sicherer zu f

u

hlen. Gegen Mittag hatte er
seine  Kaltbl

u

tigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige-  und  Mittelfinger der
linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerr

u

cken hindurch. Er
roch die feuchte, anemonenw

u

rzige Fr

u

hlingsluft.  Von seinen Fingern roch er
nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er sp

u

rte
die W

u

rme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen

u

rmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der  Ellbogenbeuge. Er wusste,
dass dies  die Stelle war, wo alle  Menschen nach  sich  selber riechen.  Er
jedoch roch  nichts. Er roch  auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den
F

u

ßen,  nichts  am  Geschlecht,  zu  dem er sich,  so  weit  es  ging,
hinunterbeugte.  Es war grotesk: Er, Grenouille, der  jeden anderen Menschen
meilenweit erschnuppern  konnte,  war nicht imstande,  sein weniger als eine
Handspanne  entferntes  eigenes Geschlecht  zu riechen!  Trotzdem  geriet er
nicht  in Panik, sondern sagte sich, k

u

hl 

u

berlegend, das folgende:  "Es ist
nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass
ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich  mich seit meiner Geburt  tagaus
tagein  gerochen habe  und  meine Nase  daher  gegen  meinen eigenen  Geruch
abgestumpft ist. K

u

nnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon,
von  mir  trennen  und  nach einer  gewissen  Zeit  der  Entw

u

hnung  zu  ihm
zur

u

ckkehren, so w

u

rde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen k

u

nnen."
     Er legte die Pferdedecke ab und zog seine  Kleider aus der das, was von
seinen Kleidern noch 

u

briggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er  aus.
Sieben Jahre lang hatte  er sie nicht vom  Leib genommen. Sie  mussten durch
und  durch getr

u

nkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor
den Eingang der H

u

hle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit
sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich
an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt
die Nase  nach  Westen und ließ  sich den Wind um den  nackten  K

u

rper
pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen  auszul

u

ften, sich  so sehr  mit
Westwind - und das  hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen -
vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen K

u

rpers 

u

berwog und sich
somit  ein  Duftgef

u

lle  zwischen  ihm,   Grenouille,  und  seinen  Kleidern
herstellen m

u

ge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage w

u

re. Und
um m

u

glichst  wenig  Eigengeruch in  die  Nase  zu bekommen,  beugte  er den
Oberk

u

rper nach vorn, machte  den Hals  so lang  es ging gegen den  Wind und
streckte die  Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor  er
ins Wasser springt.
     In  dieser  

u

ußerst  l

u

cherlichen  Haltung verharrte  er  mehrere
Stunden lang,  wobei sich seine  lichtentw

u

hnte madenweiße Haut  trotz
der noch schwachen Sonne  langustenrot f

u

rbte. Gegen  Abend stieg er  wieder
zur H

u

hle hinab. Schon von  weitem sah  er den Kleiderhaufen liegen. Auf den
letzten Metern hielt er sich die Nase zu und 

u

ffnete sie erst wieder, als er
sie  dicht 

u

ber den Haufen  gesenkt hatte. Er machte die Schn

u

ffelprobe, wie
er  sie  bei Baldini gelernt  hatte, riss  die Luft  ein und  ließ sie
etappenweise wieder ausstr

u

men. Um  den  Geruch zu  fangen,  bildete er  mit
seinen beiden  H

u

nden eine Glocke 

u

ber den  Kleidern, in  die  er wie  einen
Kl

u

ppel seine Nase steckte.  Er stellte alles m

u

gliche an, um seinen eigenen
Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er
war entschieden nicht  darin. Tausend  andre Ger

u

che waren darin. Der Geruch
von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch  der Wurst, die er
vor  Jahren  in  der  N

u

he  von  Sully  gekauft  hatte,  war  noch  deutlich
wahrnehmbar. Die Kleider  enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten
sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in
dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht.
     Nun  wurde ihm doch etwas bang. Die  Sonne war  untergegangen. Er stand
nackt am Eingang des Stollens, an  dessen dunklem Ende er sieben  Jahre lang
gelebt hatte.  Der Wind blies kalt, und er fror, aber er  merkte nicht, dass
er  fror, denn in ihm  war  eine  Gegenk

u

lte, n

u

mlich Angst.  Es  war  nicht
dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese gr

u

ßliche Angst
des Ansich-selbst-Erstickens, die es  um jeden Preis abzusch

u

tteln  galt und
der er hatte  entfliehen k

u

nnen. Was  er jetzt empfand,  war die Angst, 

u

ber
sich selbst  nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener  Angst entgegengesetzt.
Ihr  konnte  er  nicht entfliehen, sondern er musste  ihr  entgegengehen. Er
musste - und wenn auch die  Erkenntnis furchtbar war - ohne  Zweifel wissen,
ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort.
     Er ging zur

u

ck in den Stollen.  Nach  ein paar Metern schon  umgab  ihn
v

u

llige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im  hellsten Licht.  Viele
tausend Male war  er  den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung,
roch jede niederh

u

ngende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden  Stein.
Den Weg zu  finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die  Erinnerung
an den klaustrophobischen Traum anzuk

u

mpfen, die wie  eine Flutwelle  in ihm
hoch und h

u

her schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er  war mutig. Das
heißt, er bek

u

mpfte mit der Angst,  nicht zu wissen, die Angst vor dem
Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste,  dass er keine Wahl hatte. Als er
am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Ger

u

llversch

u

ttung anstieg,
fielen beide 

u

ngste von ihm  ab. Er  f

u

hlte sich ruhig,  sein  Kopf war ganz
klar und seine Nase gesch

u

rft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte
die H

u

nde  

u

ber die  Augen  und  roch. An diesem  Ort, in diesem  weltfernen
steinernen  Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo  auf der
Welt, so  musste  es  hier nach  ihm riechen.  Er  atmete langsam. Er pr

u

fte
genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb
er hocken. Er hatte ein untr

u

gliches Ged

u

chtnis und wusste genau, wie es vor
sieben Jahren  an dieser Stelle  gerochen hatte: steinig und nach  feuchter,
salziger K

u

hle und so rein, dass kein  lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den
Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt.
     Er blieb  noch eine Weile hocken,  ganz ruhig, nur leise mit dem  Kopfe
nickend. Dann drehte er sich um und ging, zun

u

chst geb

u

ckt, und als die H

u

he
des  Stollens es zuließ,  in  aufrechter  Haltung,  hinaus ins  Freie.
Draußen zog er seine Lumpen  an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren
vermodert), legte sich  die Pferdedecke 

u

ber die Schultern und verließ
noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in s

u

dlicher Richtung.

     Er  sah f

u

rchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen,
der  d

u

nne Bart  bis zum  Nabel. Seine N

u

gel  waren wie Vogelkrallen, und an
Armen und Beinen,  wo  die  Lumpen nicht  mehr  hinreichten,  den  K

u

rper zu
bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab.
     Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der
Stadt  Pierrefort, rannten schreiend davon,  als sie ihn sahen. In der Stadt
selbst dagegen machte  er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen,
um   ihn  zu   begaffen.  Manche   hielten   ihn   f

u

r   einen   entkommenen
Galeerenstr

u

fling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger  Mensch, sondern
eine Mischung aus einem Menschen und einem B

u

ren, eine Art Waldwesen. Einer,
der  fr

u

her zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angeh

u

rige
eines  wilden Indianerstammes  in Cayenne, welches jenseits des großen
Ozeans  liege. Man  f

u

hrte  ihn  dem B

u

rgermeister  vor. Dort  wies  er  zum
Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund  auf
und erz

u

hlte  in  ein wenig  kollernden Worten  - denn  es waren die  ersten
Worte,  die  er  nach  siebenj

u

hriger  Pause   von  sich  gab  -,  aber  gut
verst

u

ndlich,  dass  er  auf seiner  Wanderschaft  von  R

u

ubern  

u

berfallen,
verschleppt  und sieben Jahre lang  in einer H

u

hle  gefangengehalten  worden
sei. Er  habe  in  dieser  Zeit  weder das Sonnenlicht  noch  einen Menschen
gesehen,  sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen
Korbes ern

u

hrt und  schließlich mit  einer Leiter befreit worden, ohne
zu wissen, warum, und ohne seine Entf

u

hrer oder Retter  je gesehen zu haben.
Diese Geschichte hatte er sich  ausgedacht, denn  sie schien ihm glaubhafter
als  die  Wahrheit,  und  sie  war  es  auch, denn  dergleichen  r

u

uberische

u

berf

u

lle  geschahen  in den Bergen der  Auvergne, des Languedoc  und in den
Cevennen  durchaus  nicht  selten.  Jedenfalls nahm  sie  der  B

u

rgermeister
anstandslos  zu Protokoll  und  erstattete 

u

ber den  Vorfall Bericht an  den
Marquis  de la  Taillade-Espinasse, Lehensherrn  der Stadt  und Mitglied des
Parlaments in Toulouse.
     Der Marquis hatte  schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den
R

u

cken   gekehrt,   sich  auf  seine   G

u

ter   zur

u

ckgezogen  und  dort  den
Wissenschaften  gelebt.  Aus seiner  Feder stammte ein bedeutendes Werk 

u

ber
dynamische National

u

konomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf
Grundbesitz und  landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einf

u

hrung  einer
umgekehrt  progressiven  Einkommenssteuer  vorschlug,  die  den  

u

rmsten  am
h

u

rtesten   traf   und   ihn   somit   zur   st

u

rkeren   Entfaltung   seiner
wirtschaftlichen  Aktivit

u

ten   zwang.   Durch  den  Erfolg   des  B

u

chleins
ermuntert,  verfasste  er  ein  Traktat  

u

ber die Erziehung  von Knaben  und
M

u

dchen im  Alter zwischen f

u

nf  und  zehn  Jahren, wandte  sich hierauf der
experimentellen Landwirtschaft zu und  versuchte, durch die  

u

bertragung von
Stiersamen    auf    verschiedene    Grassorten    ein    animalovegetabiles
Kreuzungsprodukt zur  Milchgewinnung zu z

u

chten, eine  Art  Euterblume. Nach
anf

u

nglichen  Erfolgen,  die  ihn  sogar  zur  Herstellung eines  K

u

ses  aus
Grasmilch  bef

u

higten, der von der Wissenschaftlichen Akademie  von Lyon als
>von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet
wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise

u

ber  die  Felder  verspr

u

hten  Stiersamens einstellen.  Immerhin hatte  die
Besch

u

ftigung mit  agrarbiologischen  Problemen sein Interesse nicht  nur an
der  sogenannten Ackerscholle, sondern  an der Erde  

u

berhaupt und  an ihrer
Beziehung zur Biosph

u

re geweckt.
     Kaum hatte er die praktischen  Arbeiten an der Milcheuterblume beendet,
st

u

rzte er sich mit ungebrochenem  Forscherelan auf einen großen Essay

u

ber die  Zusammenh

u

nge zwischen  Erdn

u

he und Vitalkraft. Seine  These  war,
dass sich Leben nur in einer  gewissen  Entfernung von  der Erde  entwickeln
k

u

nne,  da  die  Erde  selbst  st

u

ndig  ein   Verwesungsgas  verstr

u

me,  ein
sogenanntes  "fluidum  letale", welches die Vitalkr

u

fte lahme  und 

u

ber kurz
oder lang vollst

u

ndig  zum Erliegen bringe.  Deshalb  seien  alle  Lebewesen
bestrebt, sich durch Wachstum  von  der Erde zu  entfernen, w

u

chsen also von
ihr weg und nicht etwa in sie  hinein;  deshalb tr

u

gen sie ihre wertvollsten
Teile himmelw

u

rts: das Korn die  

u

hre, die Blume ihre Bl

u

te, der Mensch  den
Kopf; und deshalb m

u

ssten sie auch,  wenn das Alter sie beuge und wieder zur
Erde  hinkr

u

mme, unweigerlich dem Letalgas  verfallen, in das sie sich durch
den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
     Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu  Ohren kam, es habe sich in
Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer H

u

hle
- also  v

u

llig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe,  war  er
außer sich vor Entz

u

cken und  ließ Grenouille  sofort zu sich in
sein  Laboratorium  bringen,  wo  er  ihn  einer  gr

u

ndlichen   Untersuchung
unterzog. Aufs  Anschaulichste fand er seine Theorie best

u

tigt: Das  fluidum
letale   hatte  Grenouille  schon  dermaßen  angegriffen,   dass  sein
f

u

nfundzwanzigj

u

hriger  K

u

rper  deutlich greisenhafte  Verfallserscheinungen
aufwies.  Einzig  die  Tatsache -  so  erkl

u

rte Taillade-Espinasse  -,  dass
Grenouille w

u

hrend  seiner  Gefangenschaft Nahrung  von erdfernen  Pflanzen,
vermutlich  Brot  und  Fr

u

chte,  zugef

u

hrt  worden  seien,  habe  seinen Tod
verhindert. Nun  k

u

nne der fr

u

here Gesundheitszustand nur  wiederhergestellt
werden durch die gr

u

ndliche Austreibung des Fluidums  vermittels  eines  von
ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations-  Apparates. Einen
solchen habe er im Speicher  seines Stadtpalais  in  Montpellier stehen, und
wenn    Grenouille    bereit     w

u

re,     sich    als    wissenschaftliches
Demonstrationsobjekt zur  Verf

u

gung  zu stellen, wolle er ihn nicht nur  von
seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch  ein
gutes St

u

ck Geld zukommen lassen...
     Zwei  Stunden  sp

u

ter  saßen  sie   im  Wagen.  Obwohl  sich  die
Straßen  in  einem  miserablen  Zustand befanden,  schafften  sie  die
vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis
ließ  es sich  trotz  seines  vorgeschrittenen  Alters  nicht  nehmen,
pers

u

nlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel-
und Federbr

u

chen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von  seiner
Trouvaille, so begierig, sie raschestens  einer gebildeten 

u

ffentlichkeit zu
pr

u

sentieren.  Grenouille  hingegen  durfte die  Kutsche  kein einziges  Mal
verlassen. Er hatte in seinen Lumpen,  von einer mit  feuchter Erde und Lehm
getr

u

nkten Decke vollst

u

ndig umh

u

llt, dazusitzen. Zu essen bekam  er w

u

hrend
der  Reise rohes  Wurzelgem

u

se. Auf  diese Weise  hoffte  der  Marquis,  die
Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.
     In  Montpellier  angekommen,  ließ  er Grenouille  sofort in  den
Keller  seines  Palais  verbringen,  verschickte  Einladungen  an  s

u

mtliche
Mitglieder   der   medizinischen   Fakult

u

t,   des   Botanikervereins,   der
Landwirtschaftsschule,    der    chemo-physikalischen    Vereinigung,    der
Freimaurerloge  und  der 

u

brigen Gelehrtengesellschaften,  deren  die  Stadt
nicht weniger  als ein Dutzend  besaß. Und einige Tage sp

u

ter -  genau
eine Woche  nachdem  er  die  Bergeinsamkeit  verlassen hatte  -  fand  sich
Grenouille  auf einem  Podest in  der großen Aula der Universit

u

t  von
Montpellier  einer  vielhundertk

u

pfigen   Menge  als  die  wissenschaftliche
Sensation des Jahres pr

u

sentiert.
     In seinem Vortrag bezeichnete ihn  Taillade-Espinasse als  den lebenden
Beweis  f

u

r die  Richtigkeit der  letalen Erdfluidumtheorie. W

u

hrend er  ihm
nach  und  nach  die Lumpen  vom  Leibe riss, erkl

u

rte er  den  verheerenden
Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles K

u

rper ausge

u

bt habe:  Da sehe
man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasver

u

tzung; dort auf der Brust
ein  riesiges  gl

u

nzendrotes Gaskarzinom;  allenthalben eine  Zersetzung der
Haut; und sogar eine deutliche fluidale  Verkr

u

ppelung des Skeletts, die als
Klumpfuß  und  Buckel  sichtbar hervortrete.  Auch  seien  die inneren
Organe Milz, Leber, Lunge, Galle  und Verdauungstrakt  schwer gasgesch

u

digt,
wie die Analyse einer  Stuhlprobe, die sich in einer Sch

u

ssel zu F

u

ßen
des  Demonstranten f

u

r  jedermann  zug

u

nglich befinde, zweifelsfrei erwiesen
habe.  Zusammenfassend  k

u

nne  daher  gesagt  werden, dass die  L

u

hmung  der
Vitalkr

u

fte  aufgrund siebenj

u

hriger Verseuchung  durch  >fluidum  letale
Taillade< schon  so  weit  fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen

u

ußere Erscheinung im  

u

brigen  bereits signifikant maulwurfhafte Z

u

ge
aufweise - mehr  als  ein dem Tode denn als ein  dem Leben zugewandtes Wesen
bezeichnet werden m

u

sse. Dennoch mache  Referent sich anheischig, den an und
f

u

r sich  Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit
Vitaldi

u

t innerhalb  von  acht  Tagen wieder soweit  herzustellen, dass  die
Anzeichen  f

u

r  eine  vollst

u

ndige  Heilung  jedermann in die Augen springen
werde, und fordere  die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der
dann  freilich  als  g

u

ltiger  Beweis   f

u

r   die  Richtigkeit  der  letalen
Erdfluidumstheorie angesehen werden m

u

sse, binnen Wochenfrist zu 

u

berzeugen.
     Der  Vortrag  war  ein  Riesenerfolg. Heftig applaudierte das  gelehrte
Publikum dem  Referenten und  defilierte  dann am  Podest  vorbei,  auf  dem
Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten
Narben und Verkr

u

ppelungen sah er tats

u

chlich  so beeindruckend f

u

rchterlich
aus,  dass  ihn jedermann f

u

r  halb  verwest und  unrettbar  verloren hielt,
obwohl er  selbst sich durchaus gesund und kr

u

ftig f

u

hlte. Manche der Herren
beklopften ihn fachm

u

nnisch,  vermaßen ihn, schauten  ihm in Mund  und
Auge. Einige richteten das  Wort an ihn  und erkundigten  sich  nach  seinem
H

u

hlenleben  und  nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich  jedoch
streng an eine im  voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete  auf
solche Fragen nur mit einem  gepressten R

u

cheln,  wobei er mit beiden H

u

nden
hilflose Gesten gegen seinen  Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch
dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei.
     Am Ende der Veranstaltung packte ihn  Taillade-Espinasse wieder ein und
verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines  Palais. Dort schloss er
ihn  im  Beisein einiger ausgew

u

hlter Doktoren der medizinischen Fakult

u

t in
den Vitalluftventilationsapparat, einen  aus  dichtverfugten Fichtenbrettern
gefertigten Verschlag, der mittels eines weit 

u

ber das Dach hinausreichenden
Ansaugekamins mit  letalgasfreier H

u

henluft  durchflutet wurde, welche durch
eine am  Boden angebrachte  Lederventilklappe wieder entweichen  konnte.  In
Betrieb  gehalten wurde die  Anlage  von einer Staffel von Bediensteten, die
Tag und  Nacht daf

u

r sorgten,  dass  die  im  Kamin eingebauten Ventilatoren
nicht zur Ruhe  kamen.  Und w

u

hrend  Grenouille  auf diese  Weise von  einem
st

u

ndigen reinigenden  Luftstrom  umgeben  war, wurden  ihm  in  st

u

ndlichem
Abstand     durch     ein     seitlich     eingearbeitetes    doppelwandiges
Luftschleusent

u

rchen  di

u

tetische  Speisen  erdferner Provenienz dargeboten:
Taubenbr

u

he,  Lerchenpastete,  Ragout von  Flugenten, eingemachtes Baumobst,
Brot  von extra  hochwachsenden Weizensorten,  Pyren

u

enwein, Gemsenmilch und
Eischaumcreme von H

u

hnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.
     F

u

nf   Tage   lang  dauerte   diese   kombinierte   Entseuchungs-   und
Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis  die Ventilatoren  anhalten
und verbrachte  Grenouille in einen Waschraum, wo er in B

u

dern von lauwarmem
Regenwasser   mehrere   Stunden  eingeweicht   und   schließlich   mit
Nuss

u

lseife  aus  der  Andenstadt Potosi  von Kopf  bis  Fuß gewaschen
wurde. Man schnitt  ihm die Finger- und Zehenn

u

gel, reinigte seine Z

u

hne mit
feingeschl

u

mmtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, k

u

rzte und k

u

mmte seine Haare,
coiffierte und puderte  sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und
Grenouille  bekam ein seidenes Hemd  verpasst, mit  weißem  Jabot  und
weißen R

u

schen  an den Manschetten, seidene  Str

u

mpfe,  Rock, Hose und
Weste aus blauem Samt und sch

u

ne Schnallenschuhe von  schwarzem Leder, deren
rechter geschickt den verkr

u

ppelten Fuß  kaschierte. H

u

chsteigenh

u

ndig
legte  der  Marquis  weiße  Talkumschminke  auf  Grenouilles  narbiges
Gesicht,  tupfte  ihm  Karmesin  auf  Lippen  und  Wangen  und  verlieh  den
Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich
edle W

u

lbung.  Dann st

u

ubte er ihn mit seinem pers

u

nlichen Parfum ein, einer
ziemlich  simplen  Veilchennote,  trat einige  Schritte zur

u

ck und  brauchte
lange Zeit, sein Entz

u

cken in Worte zu fassen.
     "Monsieur",  begann  er  endlich, "ich bin von mir  begeistert. Ich bin
ersch

u

ttert 

u

ber  meine  Genialit

u

t. Ich  habe  an  der  Richtigkeit  meiner
fluidalen  Theorie  zwar  nie  gezweifelt;  nat

u

rlich  nicht;  sie  aber  in
praktizierter  Therapie  so herrlich best

u

tigt zu finden,  ersch

u

ttert mich.
Sie waren ein  Tier,  und ich  habe einen  Menschen aus  Ihnen gemacht. Eine
geradezu g

u

ttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich ger

u

hrt bin! - Treten Sie vor
diesen Spiegel dort, und schauen  Sie sich an! Sie werden  zum ersten Mal in
Ihrem  Leben   erkennen,  dass  Sie  ein   Mensch   sind;   kein   besonders
außergew

u

hnlicher oder irgendwie  hervorragender, aber  doch  immerhin
ein  ganz passabler Mensch.  Gehen  Sie,  Monsieur! Schauen Sie sich an, und
bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!"
     Es war das erste  Mal,  dass  jemand  "Monsieur" zu  Grenouille  gesagt
hatte.
     Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis  dato hatte er auch noch nie in
einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in  feinem blauem Gewand vor sich,
mit  weißem  Hemd   und  Seidenstr

u

mpfen,  und  er  duckte  sich  ganz
instinktiv, wie er sich immer vor solch  feinen  Herren  geduckt hatte.  Der
feine  Herr  aber  duckte  sich  auch,  und  indem  Grenouille  sich  wieder
aufrichtete, tat  der  feine Herr dasselbe, und  dann erstarrten  beide  und
fixierten sich.
     Was  Grenouille  am meisten  verbl

u

ffte, war  die  Tatsache, dass er so
unglaublich normal  aussah. Der Marquis hatte Recht: Er  sah nicht besonders
aus,  nicht  gut, aber auch nicht besonders  h

u

ßlich. Er war ein wenig
klein  geraten, seine Haltung war ein  wenig linkisch, das Gesicht ein wenig
ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von  anderen Menschen auch. Wenn
er  jetzt  hinunter auf die Straße ginge, w

u

rde  kein Mensch sich nach
ihm umdrehen. Nicht einmal  ihm selbst w

u

rde ein solcher, wie er  jetzt war,
irgendwie auffallen, wenn  er ihm begegnete. Es  sei denn, er w

u

rde riechen,
dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig r

u

che wie der Herr im
Spiegel und er selbst, der davorstand.
     Und   doch   waren   vor   zehn   Tagen  die   Bauern   noch  schreiend
auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er  hatte sich damals  nicht  anders
gef

u

hlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, f

u

hlte er sich kein
bisschen  anders  als  damals.  Er  sog die  Luft  ein, die an seinem K

u

rper
aufstieg und roch  das schlechte Parfum und den Samt und das  frischgeleimte
Leder  seiner Schuhe; er roch  das Seidenzeug, den Puder,  die Schminke, den
schwachen Duft der Seife aus  Potosi. Und pl

u

tzlich wusste er, dass es nicht
die  Taubenbr

u

he und  der  Ventilationshokuspokus gewesen  waren,  die einen
normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar
Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade.
     Er 

u

ffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm
zublinzelte  und  wie ein  kleines  L

u

cheln um  seine  karmesinroten  Lippen
strich, ganz so, als wolle er  ihm signalisieren, dass er ihn nicht g

u

nzlich
unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel,
diese  als Mensch verkleidete,  maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz
ohne sei;  zumindest schien  ihm,  als k

u

nnte sie w

u

rde man  ihre Maske  nur
vervollkommnen -  eine  Wirkung  auf  die  

u

ußere  Welt  tun,  wie er,
Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut h

u

tte. Er  nickte  der  Gestalt zu
und  sah,  dass  sie,  w

u

hrend  sie wieder  nickte,  verstohlen die  N

u

stern
bl

u

hte...

     Am folgenden Tag  -  der Marquis war  gerade  dabei, ihm die  n

u

tigsten
Posen,  Gesten und  Tanzschritte f

u

r  den bevorstehenden  gesellschaftlichen
Auftritt  beizubringen  -  fingierte Grenouille  einen  Schwindelanfall  und
st

u

rzte scheinbar vollkommen entkr

u

ftet und wie von  Erstickung  bedroht auf
einem Diwan nieder.
     Der Marquis war außer  sich. Er schrie  nach  den Dienern, schrie
nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und  w

u

hrend die  Diener eilten,
kniete  er  an   Grenouilles   Seite  nieder,   f

u

chelte   ihm   mit  seinem
veilchenduftgetr

u

nkten  Taschentuch  Luft  zu  und beschwor, bebettelte  ihn
regelrecht, doch  ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele
auszuhauchen,  sondern  damit,  wenn  irgend  m

u

glich, noch  bis  

u

bermorgen
hinzuwarten,  da  sonst  das  

u

berleben  der  letalen   Fluidaltheorie  aufs

u

ußerste gef

u

hrdet sei.
     Grenouille wand und kr

u

mmte sich, keuchte, 

u

chzte, fuchtelte mit seinen
Armen  gegen  das Taschentuch,  ließ  sich schließlich  auf sehr
dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke
des Zimmers.  "Nicht dieses  Parfum!"  rief er  wie mit  allerletzter Kraft,
"nicht dieses  Parfum! Es  t

u

tet mich!" Und  erst als Taillade-Espinasse das
Taschentuch  aus dem Fenster und seinen  ebenfalls nach  Veilchen riechenden
Rock  ins  Nebenzimmer  geworfen hatte, ließ  Grenouille seinen Anfall
abebben  und  erz

u

hlte mit ruhiger  werdender Stimme,  dass er als Parfumeur
eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber
jetzt in der  Zeit  der Genesung,  auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere.
Dass ausgerechnet der Duft  des Veilchens, einer an und f

u

r  sich lieblichen
Blume, ihm  so stark zusetze, k

u

nne er  sich nur  dadurch erkl

u

ren, dass das
Parfum  des  Marquis  einen   hohen   Bestandteil  an  Veilchenwurzelextrakt
enthalte,  welcher  wegen  seiner  unterirdischen  Herkunft auf  eine  letal
fluidal angegriffene Person wie ihn,  Grenouille, verderblich  wirke.  Schon
gestern, bei der ersten Applikation des  Duftes, habe er sich ganz bl

u

merant
gef

u

hlt und heute, als  er den Wurzelgeruch  abermals wahrgenommen habe, sei
ihm gar gewesen, als stoße man ihn zur

u

ck in das entsetzliche stickige
Erdloch, in  dem  er  sieben  Jahre vegetiert  habe.  Seine  Natur habe sich
dagegen emp

u

rt, anders k

u

nne er  nicht sagen, denn  nachdem ihm einmal durch
die  Kunst des  Herrn  Marquis ein  Leben als  Mensch  in fluidalfreier Luft
geschenkt worden sei, st

u

rbe er lieber  sofort, als dass er sich noch einmal
dem  verhassten  Fluidum  ausliefere. Noch  jetzt  krampfe sich alles in ihm
zusammen,  wenn er  bloß  an  das  Wurzelparfum  denke. Er glaube aber
zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein w

u

rde, wenn es
ihm  der Marquis gestatte, zur vollst

u

ndigen Austreibung des  Veilchenduftes
ein eigenes  Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an  eine besonders leichte,
aerierte Note, die haupts

u

chlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel-  und
Orangenbl

u

tenwasser,  Eukalyptus,  Fichtennadel

u

l  und  Zypressen

u

l bestehe.
Einen  Spritzer nur von  einem  solchen  Duft  auf  seine Kleider,  ein paar
Tropfen nur an Hals und  Wangen - und er  w

u

re ein  f

u

r allemal gefeit gegen
eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben 

u

bermannt habe...
     Was  wir  hier der Verst

u

ndlichkeit  halber  in ordentlicher indirekter
Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbst

u

ndiger, von vielen  Hustern
und  Keuchern  und  Atemn

u

ten  unterbrochener blubbernder  Wortausbruch, den
Grenouille  mit  Gezittre  und  Gefuchtle  und Augenrollen  untermalte.  Der
Marquis  war  schwer  beeindruckt.  Mehr  noch  als  die  Leidenssymptomatik

u

berzeugte ihn die feine Argumentation seines Sch

u

tzlings, die ganz im Sinne
der letal fluidalen Theorie  vorgebracht  war. Nat

u

rlich das Veilchenparfum!
Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt!  Wahrscheinlich war
er selbst, der es  seit Jahren benutzte,  schon infiziert davon. Hatte keine
Ahnung,  dass er sich  Tag f

u

r Tag durch  diesen Duft dem Tode n

u

herbrachte.
Die  Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das
H

u

morrhoid, der  Ohrendruck, der faule Zahn - all  das kam zweifelsohne  von
dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme
Mensch, das H

u

uflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht.
Er war ger

u

hrt. Am liebsten w

u

re  er  zu ihm gegangen,  h

u

tte ihn aufgehoben
und an sein aufgekl

u

rtes Herz gedr

u

ckt. Aber er  f

u

rchtete, noch  immer nach
Veilchen zu duften,  und so schrie er abermals nach  den Dienern und befahl,
alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu l

u

ften,
seine Kleider im Vitalluftventilator zu  entseuchen und Grenouille sofort in
seiner S

u

nfte  zum  besten Parfumeur der Stadt zu bringen.  Genau dies  aber
hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt.
     Das Duftwesen hatte  alte  Tradition in Montpellier,  und  obwohl es in
j

u

ngster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen
war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister  in
der  Stadt.  Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erkl

u

rte sich
im Hinblick  auf  die Gesch

u

ftsbeziehungen  mit  dem Hause desMarquis  de la
Taillade-Espinasse, dessen  Seifen-, 

u

l- und  Duftstofflieferant er war,  zu
dem außergew

u

hnlichen Schritt bereit, sein Atelier f

u

r eine Stunde dem
in  der  S

u

nfte  herbeigeschafften  sonderbaren   Pariser  Parfumeurgesellen
abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkl

u

ren, wollte gar nicht wissen,
wo  er was zu  finden habe,  er kenne sich schon aus,  sagte er, finde  sich
schon zurecht;  und  schloss sich in der  Werkstatt ein und blieb  dort eine
gute Stunde, w

u

hrend Runel  mit dem Haushofmeister des Marquis auf  ein paar
Gl

u

ser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein
Veilchenwasser nicht mehr riechen k

u

nne.
     Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so 

u

ppig ausgestattet
wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Bl

u

ten

u

len,
W

u

ssern  und   Gew

u

rzen   h

u

tte  ein   durchschnittlicher   Parfumeur  keine
großen  Spr

u

nge  machen  k

u

nnen.  Grenouille  jedoch erkannte mit  dem
ersten schnuppernden Atemzug, dass  die  vorhandenen Stoffe f

u

r seine Zwecke
durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte
kein  Prestigew

u

sserchen  zusammenmischen  wie damals f

u

r Baldini, so eines,
das hervorstach aus  dem Meer  des  Mittelmaßes  und die  Leute  kirre
machte. Nicht einmal  ein einfaches  Orangenbl

u

tend

u

ftchen,  wie dem Marquis
versprochen,  war  sein eigentliches Ziel. Die g

u

ngigen Essenzen von Neroli,
Eukalyptus und  Zypressenblatt sollten den eigentlichen  Duft,  den  er sich
herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren:  dies aber war der  Duft des
Menschlichen. Er wollte sich,  und wenn es vorl

u

ufig auch nur ein schlechtes
Surrogat  war, den  Geruch  der  Menschen  aneignen,  den  er  selber  nicht
besaß. Freilich 
den
 Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie
es 
das
 menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das
besser als Grenouille,  der Tausende und Abertausende von Individualger

u

chen
kannte und Menschen schon von Geburt an  witternd unterschied. Und doch - es
gab ein parfumistisches  Grundthema des  Menschendufts, ein ziemlich simples

u

brigens:  ein   schweißig-fettes,  k

u

sigs

u

uerliches,  ein  im  ganzen
reichlich  ekelhaftes Grundthema,  das  allen  Menschen  gleichermaßen
anhaftete und 

u

ber welchem erst  in feinerer Vereinzelung die W

u

lkchen einer
individuellen Aura schwebten.
     Diese  Aura aber, die h

u

chst komplizierte, unverwechselbare Chiffre 
des
pers

u

nlichen
   Geruchs,  war   f

u

r   die  meisten  Menschen   ohnehin  nicht
wahrnehmbar.  Die meisten  Menschen  wussten nicht, dass  sie sie  

u

berhaupt
besaßen,  und taten 

u

berdies alles,  um sie unter  Kleidern oder unter
modischen  Kunstger

u

chen zu verstecken. Nur jener Grundduft,  jene primitive
Menschend

u

nstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und f

u

hlten
sich geborgen,  und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde
von ihnen schon als ihresgleichen angesehen.
     Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein
seltsameres  hatte  es bis dahin  auf der Welt  noch nicht gegeben. Es  roch
nicht  wie  ein Duft, sondern wie  
ein  Mensch,  der duftet.
 Wenn man dieses
Parfum in einem dunklen Raum gerochen h

u

tte, so h

u

tte man geglaubt, es stehe
da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie  ein Mensch roch,
es  verwendet h

u

tte, so  w

u

re  dieser uns  geruchlich  vorgekommen wie  zwei
Menschen oder, schlimmer noch,  wie ein  monstr

u

ses  Doppelwesen,  wie  eine
Gestalt,  die  man  nicht  mehr  eindeutig  fixieren  kann,  weil  sie  sich
verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem
die Wellen zittern.
     Um diesen  Menschenduft zu imitieren - recht ungen

u

gend,  wie er selber
wusste,  aber doch geschickt  genug,  um andere zu  t

u

uschen  -, suchte sich
Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da
war  ein  H

u

ufchen  Katzendreck hinter  der  Schwelle  der T

u

r, die  zum Hof
f

u

hrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes L

u

ffelchen und gab es
zusammen  mit  einigen  Tropfen  Essig  und zerstoßenem  Salz  in  die
Mischflasche.  Unter  dem  Werktisch  fand  er  ein  daumennagelgroßes
St

u

ckchen K

u

se, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon
ziemlich  alt,  begann,  sich  zu zersetzen und str

u

mte einen  beißend
scharfen  Duft aus. Vom  Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil  des
Ladens stand, kratzte  er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte
es  mit  faulem  Ei und  Castoreum,  Ammoniak,  Muskat,  gefeiltem H

u

rn  und
angesengter Schweineschwarte,  fein gebr

u

selt. Dazu gab er ein relativ hohes
Quantum  Zibet, mischte diese  entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ
digerieren  und  filtrierte  ab  in eine  zweite  Flasche.  Die  Br

u

he  roch
verheerend.  Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausd

u

nstung
mit einem F

u

cherschlag von reiner  Luft vermischte, so war's, als st

u

nde man
an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la
Lingerie, wo sich die D

u

fte von den Hallen, vom Cimetiere des  Innocents und
von den 

u

berf

u

llten H

u

usern trafen.
     

u

ber diese grauenvolle  Basis, die an und f

u

r sich eher kadaverhaft als
menschen

u

hnlich roch, legte  Grenouille nun eine  Schicht von  

u

lig-frischen
D

u

ften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone,  Eukalyptus,  die er durch
ein  Bouquet  von  feinen Bl

u

ten

u

len wie  Geranium,  Rose, Orangenbl

u

te  und
Jasmin  zugleich z

u

gelte  und angenehm kaschierte. Nach  weiterer Verd

u

nnung
mit  Alkohol und  etwas  Essig war  von dem  Fundament,  auf  dem  die ganze
Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte
sich  durch die  frischen  Ingredienzen  bis  ins  Unmerkliche verloren, das
Ekelhafte war vom Duft der Blumen gesch

u

nt, ja beinahe interessant geworden,
und,  sonderbar,  von  Verwesung war  nichts  mehr  zu  riechen,  nicht  das
geringste mehr.  Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter  Duft  von
Leben von dem Parfum auszugehen.
     Grenouille f

u

llte es auf zwei Flakons, die er verst

u

pselte  und zu sich
steckte. Dann wusch er die Flaschen,  M

u

rser, Trichter und L

u

ffel sorgf

u

ltig
mit  Wasser, rieb sie mit Bittermandel

u

l ab, um alle geruchlichen Spuren  zu
verwischen, und nahm  eine zweite Mischflasche.  In ihr komponierte er rasch
ein anderes Parfum,  eine  Art Kopie des ersten, das  ebenfalls aus frischen
und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von
dem Hexensud  enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein
klein wenig  Zibet und  

u

l von Zedernholz. F

u

r sich  genommen roch es v

u

llig
anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn  es fehlte
ihm die Komponente  des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gew

u

hnlicher
Mensch  es  applizierte und es sich mit seinem  eigenen Geruch verm

u

hlte, so
w

u

rde es von  dem,  das Grenouille ausschließlich f

u

r sich  geschaffen
hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein.
     Nachdem er auch  das  zweite Parfum auf Flakons  gef

u

llt hatte,  zog er
sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit  jenem ersten. Dann betupfte
er sich selbst damit unter  den Achseln, zwischen den Zehen,  am Geschlecht,
auf  der  Brust,  an  Hals,  Ohren  und  Haaren,  zog  sich  wieder  an  und
verließ die Werkstatt.

     Als  er die  Straße  betrat, bekam  er  pl

u

tzlich Angst, denn  er
wusste, dass er zum ersten  Mal in seinem  Leben einen  menschlichen  Geruch
verbreitete. Er selbst aber fand, dass  er stinke, ganz  widerw

u

rtig stinke.
Und er konnte sich nicht  vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht
ebenfalls als stinkend  empf

u

nden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke
zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des  Marquis auf  ihn warteten. Es
schien  ihm  weniger riskant,  die neue  Aura erst  in  anonymer Umgebung zu
erproben.
     Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss  hinunter,
wo  die  Gerber und  die  Stoff

u

rber  ihre  Ateliers besaßen  und  ihr
stinkendes Gesch

u

ft betrieben.  Wenn  ihm  jemand begegnete, oder wenn er an
einem  Hauseingang  vor

u

berkam,  wo  Kinder  spielten   oder   alte   Frauen
saßen, zwang er sich,  langsamer zu gehen und  seinen  Duft  in  einer
großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen.
     Er war von Jugend an  gewohnt, dass Menschen, die an ihm vor

u

bergingen,
keinerlei  Notiz  von ihm  nahmen,  nicht  aus  Verachtung -  wie  er einmal
geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner  Existenz bemerkten. Es
war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in
der Atmosph

u

re schlug, kein Schatten, sozusagen, den er 

u

ber das Gesicht der
andern Menschen  h

u

tte  werfen  k

u

nnen.  Nur  wenn  er direkt  mit  jemandem
zusammengestoßen   war,   im  Gedr

u

nge  oder   urpl

u

tzlich  an   einer
Straßenecke, dann hatte es  einen  kurzen  Augenblick der  Wahrnehmung
gegeben; und  mit Entsetzen meistens prallte der  Getroffene zur

u

ck, starrte
ihn, Grenouille, f

u

r ein paar  Sekunden  an, als sehe  er ein Wesen, das  es
eigentlich  nicht  geben  d

u

rfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar 
da,
  auf
irgendeine Weise nicht pr

u

sent war -  und suchte  dann das  Weite und  hatte
seiner augenblicks wieder vergessen...
     Jetzt  aber,  in  den Gassen Montpelliers, sp

u

rte  und  sah  Grenouille
deutlich  -  und jedesmal,  wenn  er es wieder  sah,  durchrieselte  ihn ein
heftiges Gef

u

hl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen  aus

u

bte.
Als er an einer Frau vor

u

berging, die 

u

ber einen  Brunnenrand gebeugt stand,
bemerkte er, wie sie f

u

r einen Augenblick den Kopf hob,  um zu sehen, wer da
sei, und sich dann,  offenbar beruhigt,  wieder  ihrem Eimer  zuwandte.  Ein
Mann, der mit dem R

u

cken zu ihm stand, drehte  sich um und schaute ihm  eine
ganze Weile lang neugierig nach. Kinder,  denen  er begegnete,  wichen aus -
nicht  

u

ngstlich,  sondern um  ihm  Platz  zu  machen;  und selbst  wenn sie
seitlich aus  den  Hauseing

u

ngen  gelaufen kamen und  unvermittelt  auf  ihn
stießen,    erschraken    sie    nicht,    sondern    schl

u

pften   wie
selbstverst

u

ndlich an ihm vorbei,  als h

u

tten  sie eine Vorahnung von seiner
sich n

u

hernden Person gehabt.
     Durch  mehrere solche Begegnungen lernte  er, die Kraft und Wirkungsart
seiner  neuen  Aura  pr

u

ziser  einzusch

u

tzen, und  wurde selbstsicherer  und
kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei,
spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zuf

u

llig den Arm
eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen  Mann an,
den er  

u

berholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann,
der  noch gestern  von Grenouilles pl

u

tzlicher  Erscheinung  wie  vom Donner
ger

u

hrt gewesen w

u

re, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung
an, l

u

chelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter.
     Er  verließ die  Gassen  und  trat  auf  den Platz  vor  dem  Dom
Saint-Pierre.  Die  Glocken l

u

uteten.  Zu beiden Seiten des Portals dr

u

ngten
sich Menschen. Eine Trauung  war eben zu Ende.  Man  wollte die Braut sehen.
Grenouille lief hin  und mischte sich  unter die Menge.  Er  dr

u

ngte, bohrte
sich  in sie  hinein, dorthin wollte  er,  wo  die  Menschen  am  dichtesten
standen, hautnah  sollten sie  um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er
ihnen seinen eigenen  Duft reiben.  Und  er spreizte  die Arme mitten in der
drangvollen Enge und spreizte die  Beine und riss sich den Kragen auf, damit
der Duft ungehindert von seinem K

u

rper abstr

u

men k

u

nne...  und seine  Freude
war  grenzenlos,  als er merkte,  dass die andern  nichts merkten,  rein gar
nichts,  dass all  diese M

u

nner und Frauen  und Kinder,  die ringsum an  ihn
gepresst  standen,  sich  so leicht  betr

u

gen  ließen  und  seinen aus
Katzenscheiße,  K

u

se und Essig zusammengepantschten  Gestank  als  den
Geruch  von ihresgleichen inhalierten und ihn,  Grenouille, die Kuckucksbrut
in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten.
     An  seinen Knien  sp

u

rte er ein Kind, ein kleines M

u

dchen, das zwischen
den Erwachsenen verkeilt  stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer F

u

rsorge,
und nahm es auf  den Arm, damit es besser sehen k

u

nne. Die Mutter duldete es
nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergn

u

gen.
     So stand  Grenouille wohl eine Viertelstunde im  Schoß der Menge,
ein  fremdes Kind  gegen die scheinheilige Brust  gedr

u

ckt.  Und w

u

hrend die
Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom dr

u

hnenden  Glockengel

u

ut und
vom Jubel der  Menschen, 

u

ber die ein Regen von M

u

nzen herabprasselte, brach
in  Grenouille  ein  anderer  Jubel los,  ein  schwarzer  Jubel,  ein  b

u

ses
Triumphgef

u

hl, das  ihn zittern  machte und  berauschte  wie ein Anfall  von
Geilheit, und  er hatte M

u

he, es nicht wie  Gift  und Galle 

u

ber  all  diese
Menschen herspritzen zu  lassen  und  ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien:
dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern  dass er
sie  mit ganzer  Inbrunst verachte, weil  sie stinkend dumm waren;  weil sie
sich von ihm bel

u

gen und  betr

u

gen  ließen; weil sie nichts waren, und
er war alles!  Und wie zum Hohn presste  er das Kind  enger an sich,  machte
sich  Luft und schrie mit den  

u

ndern im  Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die
Braut! Es lebe das herrliche Paar!"
     Als die Hochzeitsgesellschaft  sich entfernt hatte und  die  Menge sich
aufzul

u

sen  begann,  gab er  das Kind  seiner Mutter zur

u

ck und  ging in die
Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des
Domes  stand die  Luft  voll  Weihrauch,  der in  kalten  Schwaden aus  zwei
R

u

ucherpfannen zu beiden Seiten des Altars  hervorquoll  und  sich  wie eine
erstickende Decke 

u

ber die  zarteren  Ger

u

che  der Menschen legte,  die eben
noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte  sich auf eine  Bank  unter dem
Chor.
     Mit  einem  Mal  kam  eine  große Zufriedenheit 

u

ber  ihn.  Keine
trunkene, wie er sie damals  im Sch

u

ße des Berges  bei seinen einsamen
Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und n

u

chterne Zufriedenheit,
wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt,  wozu er
f

u

hig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte  er, dank seinem eigenen Genie,
den  Duft  des  Menschen  nachgeschaffen und  ihn auf Anhieb  gleich so  gut
getroffen,  dass  selbst  ein Kind  sich von ihm hatte t

u

uschen  lassen.  Er
wusste jetzt, dass er noch  mehr  vermochte. Er wusste, dass er  diesen Duft
verbessern konnte.  Er  w

u

rde  einen Duft  kreieren k

u

nnen,  der  nicht  nur
menschlich, sondern 

u

bermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich
gut  und  lebenskr

u

ftig,  dass,  wer  ihn  roch,  bezaubert  war   und  ihn,
Grenouille, den Tr

u

ger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste.
     Ja, lieben sollten sie  ihn, wenn sie im Banne  seines Duftes  standen,
nicht nur ihn als ihresgleichen  akzeptieren, ihn lieben  bis  zum Wahnsinn,
bis  zur Selbstaufgabe, zittern vor  Entz

u

cken sollten sie, schreien, weinen
vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie  sollten sie sinken wie unter
Gottes  kaltem Weihrauch, wenn sie nur 
ihn,
 Grenouille, zu riechen  bekamen!
Er  wollte  der  omnipotente  Gott des Duftes sein, so wie er  es  in seinen
Phantasien gewesen war, aber nun in der  wirklichen Welt  und 

u

ber wirkliche
Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner  Macht stand. Denn die Menschen
konnten die Augen zumachen  vor der Gr

u

ße, vor dem  Schrecklichen, vor
der Sch

u

nheit und die  Ohren verschließen vor Melodien oder bet

u

renden
Worten. Aber  sie konnten sich nicht dem Duft entziehen.  Denn der Duft  war
ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in  die Menschen ein, sie konnten sich
seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging
der Duft, direkt ans  Herz, und unterschied dort  kategorisch 

u

ber Zuneigung
und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass.  Wer die Ger

u

che beherrschte,
der beherrschte die Herzen der Menschen.
     Ganz  gel

u

st  saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre
und  l

u

chelte. Er war nicht euphorischer Stimmung,  als er den Plan  fasste,
Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in  seinen Augen,
und keine verr

u

ckte Grimasse 

u

berzog sein Gesicht. Er war  nicht von Sinnen.
So klaren und heiteren  Geistes war er, dass er sich fragte, warum 

u

berhaupt
er  es wollte. Und  er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch
b

u

se  sei. Und  er l

u

chelte  dabei  und  war  sehr  zufrieden.  Er  sah ganz
unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der gl

u

cklich ist.
     Eine Weile lang blieb er so sitzen, in and

u

chtiger Ruhe, und atmete die
weihrauchsatte  Luft  in  tiefen Z

u

gen  ein.  Und wieder  ging  ein heiteres
Schmunzeln 

u

ber  sein  Gesicht: Wie  miserabel dieser Gott  doch  roch!  Wie
l

u

cherlich  schlecht doch der  Duft gemacht  war, den  dieser Gott von  sich
verstr

u

men ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den
Pfannen qualmte.  Schlechtes Surrogat war es, verf

u

lscht mit Lindenholz  und
Zimtstaub und  Salpeter. Gott stank. Gott war ein  kleiner armer Stinker. Er
war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betr

u

ger, nicht anders als
Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!

     Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entz

u

ckt von dem neuen Parfum.
Es  sei,  so sagte  er, selbst f

u

r ihn  als Entdecker  des letalen Fluidums,
verbl

u

ffend zu sehen,  welch eklatanten  Einfluss ein so nebens

u

chliches und
fl

u

chtiges Ding  wie ein  Parfum,  je nachdem, ob  es aus erdverbundnen oder
erdentr

u

ckten  Provenienzen  stamme,   auf  den  allgemeinen  Zustand  eines
Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass  und einer
Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bl

u

hend aus wie nur irgendein
gesunder  Mensch  seines Alters,  ja, man k

u

nne sagen,  dass er - mit  allen
Einschr

u

nkungen,  die  bei einem  Manne seines Standes  und seiner  geringen
Bildung angebracht  seien - fast  so etwas wie Pers

u

nlichkeit gewonnen habe.
Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel 

u

ber vitale Di

u

tetik
seiner demn

u

chst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem
Vorfall Mitteilung  machen. Zun

u

chst wolle er  sich nun aber selbst mit  dem
neuen Duft parfumieren.
     Grenouille h

u

ndigte  ihm  die  beiden Flakons  mit dem  konventionellen
Bl

u

tenduft  aus,  und  der Marquis  besprengte  sich damit.  Er zeigte  sich
hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er
jahrelang von dem entsetzlichen  Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen,
als w

u

chsen  ihm  bl

u

tene Fl

u

gel;  und  wenn  er  nicht  irre,  so lasse der
gr

u

ßliche Schmerz seines Knies  ebenso  nach wie das Sausen der Ohren;
alles in allem  f

u

hle er  sich beschwingt,  ionisiert und  um etliche  Jahre
verj

u

ngt.  Er  ging auf  Grenouille  zu,  umarmte ihn und  nannte ihn  "mein
fluidaler  Bruder", hinzuf

u

gend,  es  handle sich  dabei  keineswegs um eine
gesellschaftliche,  sondern  um  eine rein spirituelle  Anrede in  conspectu
universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle
Menschen gleich  seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von
Grenouille  l

u

ste,  und  zwar  sehr  freundschaftlich,  nicht im  geringsten
angewidert,  fast  wie  von   seinesgleichen   l

u

ste   -  ,  in  B

u

lde  eine
internationale suprast

u

ndische  Loge zu  gr

u

nden, deren  Ziel  es  sei,  das
fluidum  letale  vollst

u

ndig zu 

u

berwinden, um  es  in k

u

rzester Zeit  durch
reines  fluidum  vitale  zu  ersetzen,   und  als  deren  ersten  Proselyten
Grenouille zu gewinnen  er  schon jetzt verspreche. Dann ließ  er sich
die Rezeptur f

u

r das Bl

u

tenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen
zu sich und schenkte Grenouille f

u

nfzig Louisdor.
     P

u

nktlich  eine  Woche nach  seinem  ersten  Vortrag  pr

u

sentierte  der
Marquis  de la Taillade-Espinasse seinen Sch

u

tzling abermals in der Aula der
Universit

u

t. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht
allein  das   wissenschaftliche,  auch  und   gerade  das  gesellschaftliche
Montpellier, darunter viele Damen, die  den sagenhaften H

u

hlenmenschen sehen
wollten.  Und  obwohl die  Gegner  Taillades,  haupts

u

chlich  Vertreter  des
>Freundeskreises der botanischen  Universit

u

tsg

u

rten<  und  Mitglieder
des  >Vereins  zur   F

u

rderung  der  Agrikultur<,  all  ihre  Anh

u

nger
mobilisiert  hatten, wurde die Veranstaltung  ein fulminanter Erfolg. Um dem
Publikum  Grenouilles  Zustand  vor  Wochenfrist ins  Ged

u

chtnis  zu  rufen,
ließ  Taillade-Espinasse   zun

u

chst  Zeichnungen  kursieren,  die  den
H

u

hlenmenschen in seiner ganzen H

u

ßlichkeit und Verkommenheit zeigten.
ann ließ er den  neuen Grenouille hereinf

u

hren, im  sch

u

nen samtblauen
Rock  und seidenen  Hemd,  geschminkt, gepudert und frisiert;  und schon die
Art,  wie  er  ging, aufrecht  n

u

mlich  und  mit  zierlichen  Schritten  und
elegantem H

u

ftschwung,  wie er ganz  ohne  fremde Hilfe  das Podest erklomm,
sich tief verbeugte,  bald hier-, bald dorthin  l

u

chelnd nickte,  ließ
alle Zweifler und  Kritiker verstummen.  Selbst die Freunde  der botanischen
Universit

u

tsg

u

rten schwiegen  betreten.  Zu eklatant war die Ver

u

nderung, zu

u

berw

u

ltigend  das   Wunder,  das  hier   offenbar  geschehen  war:  Wo  vor
Wochenfrist ein  geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt
wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter  Mensch.  Es breitete  sich eine
fast  and

u

chtige Stimmung  im  Saale  aus, und  als  Taillade-Espinasse  zum
Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille.  Er entwickelte  abermals seine
sattsam  bekannte  Theorie  des  letalen  Erdfluidums, erl

u

uterte dann,  mit
welchen mechanischen  und  di

u

tetischen Mitteln  er es  aus  dem  K

u

rper des
Demonstranten vertrieben und durch  Vitalfluidum  ersetzt habe, und forderte
schließlich alle Anwesenden  auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch

u

berw

u

ltigender  Evidenz den  Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und
gemeinsam  mit  ihm,  Taillade-Espinasse, das b

u

se  Fluidum zu bek

u

mpfen und
sich dem guten  vitalen Fluidum  zu 

u

ffnen. Hierbei breitete er die Arme aus
und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten M

u

nner taten es ihm
gleich, und die Frauen weinten.
     Grenouille stand auf dem Podest und h

u

rte nicht zu.  Er beobachtete mit
gr

u

ßter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel
realeren:  seines eignen. Er hatte  sich, den r

u

umlichen Erfordernissen  der
Aula  entsprechend,  sehr  stark  parfumiert,  und  die  Aura  seines Duftes
strahlte, kaum dass  er das Podium bestiegen hatte, m

u

chtig von  ihm  ab. Er
sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit  Augen! - die zuvorderst sitzenden
Zuschauer  erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen  und  endlich  die
letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im
Leibe sprang Grenouille vor Freude  -, den ver

u

nderte sie sichtbar. Im Banne
seines  Duftes,  aber  ohne  sich  dessen bewusst  zu  sein, wechselten  die
Menschen ihren  Gesichtsausdruck,  ihr  Gehabe, ihr Gef

u

hl. Wer ihn zun

u

chst
nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der  sah ihn  nun mit milderem Auge
an;  wer  zur

u

ckgelehnt   in  seinem  Stuhl  verharrt  hatte,  mit  kritisch
gefurchter Stirn  und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte  sich
jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gel

u

stes Gesicht; und selbst
in den Gesichtern der 

u

ngstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten,
die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin
noch  mit  geh

u

riger  Skepsis  ertragen  konnten,  zeigten sich Anfl

u

ge  von
Freundlichkeit, ja Sympathie,  als sein  Duft  sie  erreichte.  Am Ende  des
Vertrags  erhob sich  die ganze Versammlung  und brach in frenetischen Jubel
aus.  "Es  lebe  das vitale  Fluidum!  Es lebe Taillade-Espinasse!  Hoch die
fluidale  Theorie!  Nieder  mit  der  orthodoxen Medizin!"  - so schrie  das
gelehrte  Volk  von  Montpellier,  der bedeutendsten  Universit

u

tsstadt  des
franz

u

sischen S

u

dens, und der  Marquis  de  la Taillade-Espinasse  hatte die
gr

u

ßte Stunde seines Lebens.
     Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter
die Menge  mischte, wusste, dass die  Ovationen eigentlich  ihm  galten, ihm
Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner  der Jubler  im Saal davon
etwas ahnte.

     Er blieb noch  einige Wochen in  Montpellier. Er hatte  eine  ziemliche
Ber

u

hmtheit erlangt  und  wurde in die  Salons  eingeladen, wo man ihn  nach
seinem H

u

hlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer
wieder  musste  er  die  Geschichte  von  den  R

u

ubern   erz

u

hlen,  die  ihn
verschleppt hatten, und  von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von  der
Leiter. Und jedesmal schm

u

ckte er sie pr

u

chtiger aus und erfand neue Details
hinzu.  So bekam  er wieder eine gewisse 

u

bung  im Sprechen - freilich  eine
sehr beschr

u

nkte, denn mit  der Sprache hatte er es zeitlebens  nicht - und,
was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der L

u

ge.
     Im Grunde, so  stellte er fest, konnte  er den Leuten erz

u

hlen, was  er
wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen
zu ihm mit  dem ersten  Atemzug,  den  sie  von  seinem  k

u

nstlichen  Geruch
inhalierten  -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren  eine gewisse
Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie  niemals besessen hatte.
Sie  dr

u

ckte  sich sogar k

u

rperlich aus. Es  war, als sei er gewachsen. Sein
Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er
angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht
stehen und hielt den auf  ihn gerichteten Blicken stand.  Freilich, es wurde
in dieser  Zeit kein  Mann von Welt aus ihm, kein Salonl

u

we oder  souver

u

ner
Gesellschafter.  Aber es fiel doch zusehends  das Verdruckte,  Linkische von
ihm ab  und machte einer  Haltung Platz,  die als  nat

u

rliche Bescheidenheit
oder  allenfalls als eine leichte  angeborene Sch

u

chternheit  gedeutet wurde
und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anr

u

hrenden  Eindruck machte
-  man  hatte damals in mond

u

nen Kreisen ein Faible  f

u

rs Nat

u

rliche und f

u

r
eine Art ungehobelten Charmes.
     Anfang M

u

rz packte  er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags
in  aller  Fr

u

h,  kaum dass die  Tore  ge

u

ffnet waren,  bekleidet  mit einem
unscheinbaren  braunen  Rock,  den  er  am  Vortag  auf dem  Altkleidermarkt
erworben  hatte, und einem sch

u

bigen Hut,  der sein Gesicht  halb verdeckte.
Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem
Tag  mit  Vorbedacht  auf sein Parfum verzichtet. Und  als der Marquis gegen
Mittag Nachforschungen anstellen  ließ, schworen die  Wachen Stein und
Bein, sie  h

u

tten zwar  alle m

u

glichen  Leute  die  Stadt verlassen gesehen,
nicht  aber  jenen  bekannten   H

u

hlenmenschen,   der  ihnen  ganz  bestimmt
aufgefallen  w

u

re. Der  Marquis ließ daraufhin verbreiten,  Grenouille
habe   Montpellier   mit   seinem    Einverst

u

ndnis    verlassen,   um    in
Familienangelegenheiten nach  Paris  zu reisen. Insgeheim  

u

rgerte  er  sich
allerdings  f

u

rchterlich,  denn er  hatte  vorgehabt,  mit  Grenouille  eine
Tournee  durch  das ganze K

u

nigreich zu unternehmen, um  Anh

u

nger  f

u

r seine
Fluidaltheorie zu werben.
     Nach einiger  Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete
sich  auch ohne Tournee, fast ohne sein  Zutun. Es erschienen lange  Artikel

u

ber das fluidum letale Taillade im >Journal des S

u

avans< und sogar im
>Courier  de  l'Europe<,  und  von  weit  her  kamen   letalverseuchte
Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764  gr

u

ndete er die
erste >Loge des vitalen Fluidums<,  die in Montpellier 120  Mitglieder
z

u

hlte und Zweigstellen in Marseille  und  Lyon einrichtete. Dann  beschloss
er,  den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt
f

u

r seine Lehre  zu erobern, wollte  vorher aber noch zur propagandistischen
Unterst

u

tzung  seines  Feldzugs  eine  fluidale  Großtat  vollbringen,
welche die Heilung  des H

u

hlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den
Schatten stellte,  und  ließ  sich  Anfang Dezember  von einer  Gruppe
unerschrockener  Adepten  zu  einer   Expedition  auf  den  Pic  du  Canigou
begleiten,  der auf  demselben Meridian wie  Paris  lag und f

u

r den h

u

chsten
Berg  der Pyren

u

en galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende  Mann
wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei
Wochen lang  der  schiersten,  frischesten Vitalluft aussetzen,  um,  wie er
verk

u

ndigte, p

u

nktlich am  Heiligen Abend  als kregler J

u

ngling  von zwanzig
Jahren wieder herabzusteigen.
     Die  Adepten  gaben schon kurz hinter Vernet, der  letzten menschlichen
Siedlung am Fuße des f

u

rchterlichen Gebirges,  auf. Den Marquis jedoch
focht nichts an.  In der Eisesk

u

lte seine Kleider von sich werfend und laute
Jauchzer ausstoßend,  begann er  den Aufstieg allein.  Das letzte, was
von  ihm gesehen wurde, war seine Silhouette,  die mit ekstatisch zum Himmel
erhobenen H

u

nden und singend im Schneesturm verschwand.
     Am Heiligen Abend warteten die J

u

nger vergebens auf die Wiederkunft des
Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis  noch als J

u

ngling.
Auch im Fr

u

hsommer des n

u

chsten  Jahres, als sich die Wagemutigsten  auf die
Suche  machten  und den noch immer verschneiten Gipfel  des  Pic du  Canigou
erklommen,  fand  sich  nichts  mehr  von  ihm,  kein  Kleidungsst

u

ck,  kein
K

u

rperteil, kein Kn

u

chelchen.
     Seiner Lehre  tat dies freilich  keinen Abbruch. Im Gegenteil.  Es ging
bald die Sage,  er  habe  sich  auf der  Spitze  des  Berges mit  dem ewigen
Vitalfluidum  verm

u

hlt, sich in  es und  es in  sich  aufgel

u

st  und schwebe
fortan unsichtbar,  aber in ewiger Jugend 

u

ber den Gipfeln der Pyren

u

en, und
wer hinaufsteige zu ihm, der werde  seiner teilhaftig  und  bliebe ein  Jahr
lang  von Krankheit und vom Prozess des Alterns  verschont. Bis weit ins 19.
Jahrhundert  hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an  manchem medizinischen
Lehrstuhl  verfochten  und  in   vielen  okkulten   Vereinen   therapeutisch
angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyren

u

en, namentlich
in Perpignan  und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die  sich  einmal  im
Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
     Dort z

u

nden sie ein großes  Feuer an, vorgeblich aus  Anlass  der
Sonnenwende  und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit  aber,  um
ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen
und um das ewige Leben zu erlangen.


     W

u

hrend Grenouille  f

u

r die erste Etappe seiner Reise durch  Frankreich
sieben Jahre  gebraucht hatte,  brachte  er die zweite in weniger als sieben
Tagen  hinter sich. Er mied die belebten Straßen  und die St

u

dte nicht
mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte
Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
     Schon  am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte
er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt  s

u

dwestlich von Aigues-Mortes, wo
er sich  auf  einen  Lastensegler  nach  Marseille einschiffte. In Marseille
verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff,
das ihn weiter die K

u

ste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sp

u

ter war er
in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu
Fuß.  Er folgte  einem Pfad, der landeinw

u

rts nach  Norden f

u

hrte, die
H

u

gel hinauf.
     Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein
mehrere Meilen umfassendes Becken aus,  eine Art  riesiger  landschaftlicher
Sch

u

ssel,  deren  Umgrenzung  ringsum  aus  sanft  ansteigenden  H

u

geln  und
schroffen  Bergketten  bestand  und  deren  weite Mulde mit frischbestellten
Feldern, G

u

rten und  Olivenhainen 

u

berzogen war.  Es  lag ein v

u

llig eignes,
sonderbar  intimes Klima 

u

ber dieser Sch

u

ssel.  Obwohl das Meer  so nah war,
dass  man es von den H

u

gelkuppen  aus  sehen  konnte,  herrschte hier nichts
Maritimes,   nichts   Salzig-Sandiges,   nichts  Offenes,   sondern   stille
Abgeschiedenheit,  ganz  so,  als  w

u

re man  viele Tagesreisen von der K

u

ste
entfernt.  Und obwohl nach Norden zu  die großen Gebirge  standen, auf
denen  noch  der  Schnee  lag und noch lange liegen w

u

rde,  war  hier nichts
Rauhes oder  Karges zu sp

u

ren und kein kalter Wind.  Der Fr

u

hling war weiter
vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder  Dunst deckte die Felder wie
eine gl

u

serne Glocke. Aprikosen- und Mandelb

u

ume bl

u

hten, und die warme Luft
durchzog der Duft von Narzissen.
     Am anderen Ende  der  großen  Sch

u

ssel,  vielleicht  zwei  Meilen
entfernt, lag, oder  besser gesagt, klebte  an den ansteigenden Bergen  eine
Stadt.  Sie  machte  aus der Entfernung gesehen  keinen  besonders  pomp

u

sen
Eindruck. Da  war kein m

u

chtiger Dom, der  die H

u

user  

u

berragte, bloß
ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend
pr

u

chtiges Geb

u

ude.  Die  Mauern  schienen alles andere als  trutzig, da und
dort  quollen die H

u

user 

u

ber  ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach  unten
zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen.
Es war, als sei  dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden,
als sei  er es m

u

de,  k

u

nftigen Eindringlingen noch  ernsthaften  Widerstand
entgegenzusetzen  - aber  nicht  aus Schw

u

che,  sondern  aus L

u

ssigkeit oder
sogar aus einem Gef

u

hl von St

u

rke. Er sah aus, als habe er es nicht n

u

tig zu
prunken.  Er   beherrschte  die  große  duftende  Sch

u

ssel  zu  seinen
F

u

ßen, und das schien ihm zu gen

u

gen.
     Dieser zugleich  unansehnliche und  selbstbewusste  Ort  war die  Stadt
Grasse,   seit   einigen   Jahrzehnten   unumstrittene    Produktions-   und
Handelsmetropole  f

u

r  Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und 

u

le. Giuseppe
Baldini   hatte   ihren   Namen   immer   mit   schw

u

rmerischer   Verz

u

ckung
ausgesprochen.  Ein  Rom der  D

u

fte  sei  die Stadt,  das  gelobte  Land der
Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient  habe, der trage  nicht
zu Recht den Namen Parfumeur.
     Grenouille  sah  mit  sehr n

u

chternem Blick  auf die Stadt  Grasse.  Er
suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im
Angesicht des Nestes,  das da dr

u

ben an den H

u

ngen klebte.  Er war gekommen,
weil er wusste, dass es  dort einige  Techniken der Duftgewinnung  besser zu
lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte
sie f

u

r  seine Zwecke.  Er zog den Flakon mit seinem  Parfum aus der Tasche,
betupfte  sich  sparsam  und  machte  sich auf den Weg.  Anderthalb  Stunden
sp

u

ter, gegen Mittag, war er in Grasse.
     Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux
Aires. Der Platz  war der  L

u

nge nach von einem  Bach durchschnitten, an dem
die Gerber  ihre  H

u

ute  wuschen,  um sie  anschließend  zum  Trocknen
auszubreiten.  Der  Geruch  war  so stechend, dass  manchem  der  G

u

ste  der
Geschmack  am Essen verging. Ihm,  Grenouille,  nicht.  Ihm  war der  Geruch
vertraut, ihm gab  er ein Gef

u

hl von Sicherheit. In  allen St

u

dten suchte er
immer zuerst  die Viertel  der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er,  aus
der Sph

u

re  des  Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des
Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
     Den  ganzen  Nachmittag  

u

ber  durchstreifte  er  die  Stadt.  Sie  war
unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des  vielen Wassers,
das aus  Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten B

u

chen
und Rinnsalen  stadtabw

u

rts gurgelte und  die Gassen unterminierte  oder mit
Schlamm 

u

berschwemmte. Die H

u

user standen in manchen Vierteln so dicht, dass
f

u

r die Durchl

u

sse und Treppchen  nur  noch  eine  Elle weit Platz blieb und
sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und
selbst auf den Pl

u

tzen  und den wenigen breiteren  Straßen konnten die
Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
     Dennoch, bei allem Schmutz,  bei aller  Schmuddligkeit und Enge,  barst
die  Stadt  vor  gewerblicher  Betriebsamkeit.   Nicht  weniger  als  sieben
Seifenkochereien  machte Grenouille bei  seinem  Rundgang  aus,  ein Dutzend
Parfumerie-   und  Handschuhmachermeister,  unz

u

hlige   kleinere  Destillen,
Pomadeateliers  und Spezereien und schließlich einige sieben  H

u

ndler,
die D

u

fte en gros vertrieben.
     Dies    waren    nun    allerdings    Kaufleute,    die    

u

ber   wahre
Duftstoffgroßkontore verf

u

gten. Anzusehen war es ihren H

u

usern oftmals
kaum.   Die  zur  Straße  hin   gelegenen  Fassaden  sahen  b

u

rgerlich
bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften
Kellern, an F

u

ssern  von  

u

l,  an Stapeln  von  feinster  Lavendelseife,  an
Ballons  von Bl

u

tenw

u

ssern, Weinen, Alkoholen, an  Ballen von Duftleder,  an
S

u

cken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gew

u

rzen... - Grenouille roch
es in allen Einzelheiten  durch die dicksten Mauern -, das waren Reicht

u

mer,
wie sie F

u

rsten nicht besaßen. Und wenn er sch

u

rfer hinroch, durch die
zur Straße gelegenen prosaischen Gesch

u

fts- und  Lagerr

u

ume  hindurch,
dann entdeckte er, dass auf der R

u

ckseite dieser kleinkarierten B

u

rgerh

u

user
sich  Geb

u

ulichkeiten  der  luxuri

u

sesten  Art  befanden.  Um  kleine,  aber
reizende  G

u

rten,  in denen Oleander und Palmen gediehen  und  zierliche von
Rabatten  umfasste Springbrunnen  gur  gelten, dehnten  sich, meist U-f

u

rmig
nach   S

u

den   gebaut,   die   eigentlichen    Fl

u

gel   der   Anwesen   aus:
sonnendurchflutete,    seidentapetenbespannte    Schlafgem

u

cher    in    den
Obergeschossen, pr

u

chtige  mit exotischem  Holz  get

u

felte  Salons zu ebener
Erde und Speises

u

le, bisweilen terrassenhaft  ins Freie vorgebaut, in  denen
tats

u

chlich,   wie  Baldini   erz

u

hlt   hatte,  mit  goldenem   Besteck  von
porzellanenen  Tellern  gegessen  wurde.  Die  Herren,  die   hinter  diesen
bescheidenen  Kulissen  wohnten,  rochen  nach  Gold  und nach  Macht,  nach
schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen st

u

rker danach als  alles, was
Grenouille  bisher  auf seiner  Reise  durch die Provinz  in dieser Hinsicht
gerochen hatte.
     Vor einem der camouflierten  Palazzi blieb er  l

u

ngere Zeit stehen. Das
Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße,  die die
Stadt in  ihrer  ganzen L

u

nge von  Westen nach Osten durchzog. Es war  nicht
außergew

u

hnlich  anzusehen,  wohl  etwas breiter  und beh

u

biger an der
Front  als  die  Nachbargeb

u

ude,  aber  durchaus  nicht  imposant.  Vor  der
Toreinfahrt stand ein  Wagen  mit F

u

ssern, die 

u

ber  eine  Pritsche entladen
wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor,
kam  mit  einem  anderen Mann  wieder  heraus,  beide  verschwanden  in  der
Toreinfahrt. Grenouille stand  an der gegen

u

berliegenden  Straßenseite
und  sah  dem  Treiben  zu. Was da  vor sich ging, interessierte  ihn nicht.
Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
     Er  schloss die  Augen und konzentrierte sich auf die  Ger

u

che, die ihm
von dem Geb

u

ude gegen

u

ber  zuflogen. Da waren die Ger

u

che  der F

u

sser, Essig
und  Wein,  dann  die hundertf

u

ltigen schweren  Ger

u

che des Lagers, dann die
Ger

u

che des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener
Schweiß, und schließlich  die Ger

u

che eines Gartens, der auf der
anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese  zarteren
D

u

fte des Gartens  aufzufangen,  denn sie zogen nur in d

u

nnen Streifen  

u

ber
den  Giebel  des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte
Magnolien aus,  Hyazinthen, Seidelbast und  Rhododendron... - aber da schien
noch etwas anderes zu sein,  etwas m

u

rderisch  Gutes,  was  in diesem Garten
duftete, ein Geruch so  exquisit, wie er ihn  in  seinem Leben noch nicht  -
oder  doch nur  ein einziges Mal - in die  Nase  bekommen hatte... Er musste
n

u

her an diesen Duft heran.
     Er  

u

berlegte,  ob  er  einfach  durch die Toreinfahrt  in das  Anwesen
eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so  viele Leute mit dem Abladen
und dem Kontrollieren der F

u

sser  besch

u

ftigt, dass  er  sicher  aufgefallen
w

u

re. Er entschloss sich, die Straße zur

u

ckzugehen, um eine Gasse oder
einen  Durchlaß  zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses
entlangf

u

hrte. Nach wenigen Metern hatte er  das Stadttor am  Beginn der Rue
Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und  folgte dem
Verlauf der Stadtmauer bergabw

u

rts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst
schwach,  noch  mit  der  Luft der Felder  vermischt,  dann  immer  st

u

rker.
Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war.  Der Garten  grenzte
an  die  Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn  er ein wenig zur

u

cktrat,
konnte er 

u

ber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenb

u

ume sehen.
     Wieder schloss er die Augen. Die D

u

fte des Gartens fielen 

u

ber ihn her,
deutlich und klar konturiert wie  die farbigen B

u

nder eines Regenbogens. Und
der eine, der kostbare, der,  auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille
wurde es heiß vor Wonne  und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu
Kopfe  wie einem  ertappten  Buben,  und  es  wich zur

u

ck in  die Mitte  des
K

u

rpers, und es stieg wieder und wich  wieder, und er  konnte nichts dagegen
tun. Zu  pl

u

tzlich war diese Geruchsattacke gekommen.  F

u

r einen Augenblick,
f

u

r einen Atemzug  lang,  f

u

r die Ewigkeit  schien  ihm, als  sei  die  Zeit
verdoppelt  oder radikal verschwunden,  denn er wusste nicht mehr, war jetzt
jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort,
n

u

mlich  Rue des Marais  in  Paris,  September  1753: Der  Duft, der aus dem
Garten her

u

berwehte, war der  Duft  des rothaarigen M

u

dchens, das  er damals
ermordet hatte. Dass  er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb
ihm  Tr

u

nen der Gl

u

ckseligkeit in die  Augen - und dass  es nicht wahr  sein
konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.
     Ihm  schwindelte, und er taumelte ein wenig  und musste sich  gegen die
Mauer st

u

tzen und langsam  an  ihr  herab  in die Hocke gleiten lassen. Sich
dort versammelnd und seinen Geist  bez

u

hmend, begann er, den fatalen Duft in
k

u

rzeren, weniger riskanten Atemz

u

gen einzuziehen. Und er stellte fest, dass
der  Duft hinter der  Mauer dem Duft  des  rothaarigen M

u

dchens zwar  extrem

u

hnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von
einem  rothaarigen M

u

dchen,  daran  war kein Zweifel m

u

glich. Grenouille sah
dieses M

u

dchen in seiner olfaktorischen Vorstellung  wie auf einem Bilde vor
sich: Es saß nicht still,  sondern es sprang hin und her,  es erhitzte
sich und k

u

hlte sich wieder ab, offenbar  spielte es  ein Spiel, bei dem man
sich  rasch  bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten
Person    

u

brigens   von    v

u

llig    unsignifikantem   Geruch.   Es   hatte
blendendweiße Haut. Es hatte  gr

u

nliche Augen. Es hatte Sommersprossen
im Gesicht, am Hals und an  den Br

u

sten... das heisst  - Grenouille  stockte
f

u

r einen  Moment der Atem,  dann schnupperte er heftiger und versuchte, die
Geruchserinnerung an das M

u

dchen aus der Rue des Marais zur

u

ckzudr

u

ngen -...
das heißt, dieses  M

u

dchen hatte noch gar keine Br

u

ste im wahren Sinne
des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ans

u

tze von Br

u

sten. Es hatte unendlich
zart und gering duftende,  von Sommersprossen  umsprenkelte, sich vielleicht
erst seit  wenigen  Tagen,  vielleicht  erst  seit  wenigen Stunden,... seit
diesem  Augenblick  eigentlich erst, sich zu  dehnen beginnende H

u

ubchen von
Br

u

stchen. Mit  einem Wort:  Das M

u

dchen war noch ein Kind. Aber was f

u

r ein
Kind!
     Grenouille  stand  der  Schweiß  auf der Stirn.  Er wusste,  dass
Kinder   nicht    sonderlich    rochen,    ebensowenig    wie    die    gr

u

n
aufschießenden  Blumen  vor ihrer Bl

u

te.  Diese aber, diese fast  noch
geschlossene  Bl

u

te  hinter  der  Mauer, die gerade eben  erst, und noch von
niemandem  als  ihm,  Grenouille,  bemerkt,  die  ersten  duftenden  Spitzen
hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstr

u

ubend himmlisch, dass, wenn  sie
sich erst  zu ganzer Pracht entfaltet haben w

u

rde, sie ein Parfum verstr

u

men
w

u

rde, wie es  die Welt noch  nicht gerochen  hatte. Sie  riecht schon jetzt
besser, dachte Grenouille, als damals  das M

u

dchen aus der Rue des  Marais -
nicht  so  kr

u

ftig, nicht  so  volumin

u

s, aber  feiner,  facettenreicher und
zugleich  nat

u

rlicher. In  ein  bis zwei  Jahren  aber  w

u

rde dieser  Geruch
gereift sein und  eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch
Frau,  w

u

rde  entziehen k

u

nnen.  Und  die  Leute  w

u

rden  

u

berw

u

ltigt  sein,
entwaffnet, hilflos  vor dem  Zauber dieses  M

u

dchens, und  sie w

u

rden nicht
wissen, warum.  Und  weil sie dumm  sind und  ihre  Nasen  nur zum Schnaufen
gebrauchen k

u

nnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben,
w

u

rden sie sagen, es  sei, weil dieses M

u

dchen Sch

u

nheit besitze  und Grazie
und Anmut. Sie w

u

rden in  ihrer Beschr

u

nktheit seine ebenm

u

ßigen  Z

u

ge
r

u

hmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, w

u

rden sie
sagen,  seien  wie  Smaragde  und  die Z

u

hne  wie Perlen  und  ihre  Glieder
elfenbeinglatt - und  was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie
w

u

rden sie zur Jasmink

u

nigin k

u

ren, und  sie w

u

rde gemalt werden von  bl

u

den
Portr

u

tisten,  ihr  Bild  w

u

rde begafft werden, man w

u

rde sagen, sie sei die
sch

u

nste   Frau   Frankreichs.    Und   J

u

nglinge   werden   n

u

chtelang   zu
Mandolinenkl

u

ngen  heulend unter  ihrem Fenster sitzen... dicke  reiche alte
M

u

nner  auf den Knien rutschend ihren Vater um  ihre  Hand  anbetteln... und
Frauen  jeden Alters werden bei ihrem Anblick  seufzen  und im Schlaf  davon
tr

u

umen, nur einen Tag lang so  verf

u

hrerisch auszusehen  wie sie.  Und  sie
werden  alle  nicht  wissen, dass  es nicht  ihr Aussehen ist,  dem  sie  in
Wahrheit  verfallen  sind,  nicht  ihre   angeblich  makellose  

u

ußere
Sch

u

nheit, sondern einzig  ihr unvergleichlicher,  herrlicher  Duft! Nur  er
w

u

rde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.
     Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf  so  vergebliche, t

u

ppische
Weise haben wie damals den Duft  des  M

u

dchens aus der Rue  des  Marais. Den
hatte er ja nur in  sich  hineingesoffen und damit zerst

u

rt. Nein, den  Duft
des M

u

dchens hinter der Mauer wollte  er sich  wahrhaftig aneignen;  ihn wie
eine  Haut  von  ihr abziehen  und zu seinem  eigenen Duft  machen.  Wie das
geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es
zu lernen. Es  konnte im Grunde nicht schwieriger  sein, als den Duft  einer
seltenen Blume zu rauben.
     Er stand auf. And

u

chtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder
eine Schl

u

ferin, entfernte er sich, geduckt,  leise, dass  niemand ihn sehe,
niemand ihn  h

u

re,  niemand  auf seinen k

u

stlichen Fund aufmerksam werde. So
floh  er an  der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte  Ende der  Stadt, wo
sich das  M

u

dchenparfum  endlich verlor und  er  an  der Porte des  Feneants
wieder Einlass  fand. Im Schatten der H

u

user blieb er stehen.  Der stinkende
Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit  und half ihm, die Leidenschaft, die ihn

u

berfallen  hatte,  zu b

u

ndigen.  Nach einer  Viertelstunde  war  er  wieder
vollkommen ruhig geworden. F

u

rs erste, dachte er, w

u

rde er nicht mehr in die
N

u

he des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war  nicht n

u

tig. Es erregte ihn
zu sehr. Die Blume  dort gedieh ohne  sein Zutun, und  auf welche Weise  sie
gedeihen w

u

rde,  wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem
Duft  berauschen.  Er  musste  sich  in  Arbeit  st

u

rzen.  Er  musste  seine
Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen F

u

higkeiten vervollkommnen, um
f

u

r die Zeit der Ernte ger

u

stet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.

     Nicht  weit  von  der  Porte  des  Feneants, in der Rue  de  la  Louve,
entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.
     Es  erwies sich,  dass der  Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im
vergangenen  Winter  verstorben  war  und  dass  seine  Witwe, eine lebhafte
schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Gesch

u

ft allein
mit Hilfe eines Gesellen f

u

hrte.
     Madame Arnulfi, nachdem  sie lange  

u

ber die schlechten Zeiten und 

u

ber
ihre  prek

u

re  wirtschaftliche  Lage geklagt hatte, erkl

u

rte, dass sie  sich
zwar eigentlich  keinen  zweiten  Gesellen leisten k

u

nne,  andrerseits  aber
wegen  der  vielen  anfallenden  Arbeit  dringend  einen brauche;  dass  sie
außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht w

u

rde
beherbergen  k

u

nnen,  andrerseits  aber  

u

ber  eine  kleine Kabane auf ihrem
Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine  zehn Minuten von hier -
verf

u

ge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not w

u

rde n

u

chtigen
k

u

nnen; dass sie ferner  zwar  als ehrliche  Meisterin um ihre Verantwortung
f

u

r das leibliche  Wohl  ihrer  Gesellen wisse,  sich  aber andrerseits ganz
außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gew

u

hren - mit einem
Wort: Madame Arnulfi  war - was  Grenouille freilich  schon  l

u

ngst gerochen
hatte - eine Frau von  gesundem Wohlstand und gesundem Gesch

u

ftssinn. Und da
es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche
und den 

u

brigen d

u

rftigen Bedingungen zufrieden erkl

u

rte, wurden sie schnell
einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens  Druot,
von dem  Grenouille  sofort erriet, dass er  gewohnt war,  Madames  Bett  zu
teilen,  und  ohne dessen Konsultation  sie offenbar gewisse  Entscheidungen
nicht  traf.  Er stellte sich  vor Grenouille hin, der  in Gegenwart  dieses
H

u

nen  geradezu  l

u

cherlich  windig  aussah,  breitbeinig,  eine  Wolke  von
Spermiengeruch  verbreitend,  musterte ihn, fasste ihn scharf  ins Auge, als
wolle  er  auf  diese  Weise  irgendwelche  unlauteren Absichten oder  einen
m

u

glichen Nebenbuhler erkennen,  grinste  schließlich herablassend und
gab mit einem Nicken sein Einverst

u

ndnis.
     Damit  war  alles geregelt.  Grenouille  erhielt einen  H

u

ndedruck, ein
kaltes Abendbrot,  eine Decke  und  den  Schl

u

ssel  f

u

r  die  Kabane,  einen
fensterlosen Verschlag, der  angenehm  nach altem Schafmist und Heu roch und
in dem er sich,  so gut es ging, einrichtete.  Am n

u

chsten Tag trat er seine
Arbeit bei Madame Arnulfi an.
     Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf
eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb  der Stadt in der
großen Sch

u

ssel besaß, oder  sie kaufte  sie von den Bauern, mit
denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bl

u

ten wurden schon in aller
Fr

u

h geliefert,  k

u

rbeweise  in das  Atelier gesch

u

ttet, zehntausendfach, in
volumin

u

sen,   aber   federleichten  duftenden   Haufen.  Druot  unterdessen
verfl

u

ssigte in einem großen  Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer
cremigen  Suppe,  in die  er,  w

u

hrend  Grenouille  unaufh

u

rlich  mit  einem
besenlangen  Spatel  r

u

hren  musste,   scheffelweise  die   frischen  Bl

u

ten
sch

u

ttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie f

u

r eine Sekunde  auf der
Oberfl

u

che und erbleichten  in dem Moment, da der Spatel sie unterr

u

hrte und
das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon
erschlafft  und verwelkt, und offenbar kam der Tod so  rasch  

u

ber sie, dass
ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren  letzten duftenden Seufzer
eben  jenem Medium  einzuhauchen,  das  sie  ertr

u

nkte;  denn  -  Grenouille
gewahrte  es  zu seinem  unbeschreiblichen Entz

u

cken -  je mehr Bl

u

ten er in
seinem Kessel unterr

u

hrte, desto st

u

rker duftete das Fett. Und zwar waren es
nicht etwa  die toten  Bl

u

ten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war  das
Fett selbst, das sich den Duft der Bl

u

ten angeeignet hatte.
     Mitunter wurde die Suppe  zu dick,  und  sie mussten  sie  rasch  durch
große  Siebe  gießen,  um  sie  von den ausgelaugten Leichen  zu
befreien  und f

u

r  frische  Bl

u

tenbereit  zu  machen.  Dann scheffelten  und
r

u

hrten und seihten  sie weiter, den ganzen  Tag 

u

ber  ohne Pause, denn  das
Gesch

u

ft duldete keine Verz

u

gerung, bis gegen  Abend der ganze  Bl

u

tenhaufen
durch den Fettkessel gewandert war. Die  Abf

u

lle wurden - damit auch  nichts
verloren ginge -  mit kochendem Wasser 

u

berbr

u

ht und in  einer Spindelpresse
bis zum  letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart  duftendes

u

l abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres  von  Bl

u

ten, war
im   Kessel   verblieben,   eingeschlossen   und   bewahrt  im  unansehnlich
grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett.
     Am kommenden Tag wurde  die Mazeration, wie  man diese Prozedur nannte,
fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verfl

u

ssigt und mit neuen
Bl

u

ten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fr

u

h bis sp

u

t. Die Arbeit
war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den H

u

nden und
Schmerzen im R

u

cken, wenn er abends in seine Kabane wankte.  Druot, der wohl
dreimal so kr

u

ftig wie  er war,  l

u

ste ihn kein einziges Mal beim R

u

hren ab,
sondern begn

u

gte  sich, die  federleichten Bl

u

ten  nachzusch

u

tten,  auf  das
Feuer aufzupassen  und gelegentlich, der Hitze  wegen, einen Schluck trinken
zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos r

u

hrte er die Bl

u

ten ins
Fett, von morgens bis abends, und sp

u

rte w

u

hrend des R

u

hrens die Anstrengung
kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter
seinen Augen und  unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bl

u

ten
und der Absorption ihres Duftes.
     Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das  Fett nun ges

u

ttigt sei und
keinen weiteren Duft mehr absorbieren k

u

nne. Sie l

u

schten das Feuer, seihten
die schwere Suppe zum letzten Mal ab und f

u

llten sie in Tiegel aus Steingut,
wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte.
     Dies  war  die  Stunde  von  Madame Arnulfi, die kam, um  das  kostbare
Produkt zu pr

u

fen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualit

u

t
und  Quantit

u

t  in ihren  B

u

chern  zu verzeichnen.  Nachdem  sie die  Tiegel
h

u

chstpers

u

nlich  verschlossen, versiegelt  und in die k

u

hlen  Tiefen  ihres
Kellers  getragen  hatte,  zog  sie  ihr  schwarzes  Kleid  an,  nahm  ihren
Witwenschleier   und   machte   die   Runde   bei    den   Kaufleuten    und
Parfumhandelsh

u

usern der  Stadt. Mit  bewegenden Worten  schilderte sie  den
Herren  ihre  Situation als alleinstehende  Frau,  ließ sich  Angebote
machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich -  oder verkaufte
nicht. Parfumierte Pomade,  k

u

hl gelagert, hielt  sich lange. Und  wenn  die
Preise jetzt  zu  w

u

nschen  

u

brigließen,  wer  weiß,  vielleicht
kletterten sie im  Winter  oder n

u

chsten Fr

u

hjahr in die H

u

he.  Auch  war zu

u

berlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffers

u

cken zu verkaufen, mit andern
kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder
sich  an  einem Konvoi  zur  Herbstmesse  in Beaucaire  beteiligen  sollte -
riskante   Unternehmungen,   gewiss,   doch  im   Erfolgsfall  

u

ußerst
eintr

u

glich. Diese verschiedenen  M

u

glichkeiten  wog  Madame Arnulfi sorgsam
gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil
ihrer  Sch

u

tze,  hob einen anderen auf und  handelte mit  einem  dritten auf
eigenes Risiko. Hatte sie allerdings  bei ihren  Erkundigungen  den Eindruck
gewonnen, der Pomademarkt  sei 

u

bers

u

ttigt und werde sich in absehbarer Zeit
nicht zu  ihren  Gunsten verknappen, so eilte  sie wehenden  Schleiers  nach
Hause  und  gab  Druot  den Auftrag,  die ganze Produktion  einer  Lavage zu
unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln.
     Und   dann  wurde  die  Pomade  wieder  aus   dem  Keller   geholt,  in
verschlossenen  T

u

pfen  aufs  Vorsichtigste erw

u

rmt, mit feinstem  Weingeist
versetzt und  vermittels  eines  eingebauten R

u

hrwerks,  welches  Grenouille
bediente, gr

u

ndlich durchgemischt und  ausgewaschen. Zur

u

ck  in  den  Keller
verbracht, k

u

hlte  diese Mischung  rasch aus, der  Alkohol  schied  sich vom
erstarrenden Fett der Pomade  und  konnte in eine Flasche abgelassen werden.
Er stellte  nun  quasi ein Parfum  dar,  allerdings von enormer  Intensit

u

t,
w

u

hrend die  zur

u

ckbleibende  Pomade  den gr

u

ßten  Teil  ihres  Duftes
verloren  hatte.  Abermals also war der  Bl

u

tenduft  auf  ein anderes Medium

u

bergegangen.  Doch  damit  war  die  Operation  noch  nicht zu  Ende.  Nach
gr

u

ndlicher Filtrage durch Gazet

u

cher, in denen auch die kleinsten Kl

u

mpchen
Fett zur

u

ckgehalten wurden,  f

u

llte Druot den parfumierten Alkohol in  einen
kleinen Alambic und destillierte  ihn 

u

ber dezentestem Feuer langsam ab. Was
nach der Verfl

u

chtigung des  Alkohols in  der  Blase  zur

u

ckblieb,  war eine
winzige Menge blass  gef

u

rbter Fl

u

ssigkeit,  die Grenouille wohlbekannt war,
die er aber in dieser Qualit

u

t und  Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei
Runel  gerochen  hatte:  Das  schiere  

u

l  der  Bl

u

ten,  ihr  blanker  Duft,
hunderttausendfach  konzentriert zu  einerkleinen  Pf

u

tze  Essence  Absolue.
Diese  Essenz  roch  nicht  mehr  lieblich.  Sie  roch  beinahe  schmerzhaft
intensiv,  scharf und  beizend. Und doch gen

u

gte  schon  ein Tropfen  davon,
aufgel

u

st in  einem Liter  Alkohol, um sie wieder zu  beleben und ein ganzes
Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen.
     Die Ausbeute war f

u

rchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons f

u

llte
die  Fl

u

ssigkeit  aus  der  Destillierblase.  Mehr  war  von  dem  Duft  von
hunderttausend Bl

u

ten nicht 

u

briggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie
waren  ein Verm

u

gen wert, schon hier in Grasse. Und um wie  viel  mehr noch,
wenn  man sie  nach Paris verschickte oder  nach  Lyon, nach Grenoble,  nach
Genua oder Marseille! Madame Arnulfi  bekam einen schmelzend  sch

u

nen  Blick
beim  Anschauen dieser  Fl

u

schchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie
sie nahm und mit f

u

gig  geschliffenen  Glaspfropfen verst

u

pselte,  hielt sie
den Atem  an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu  verblasen. Und damit
auch  nach  dem  Verst

u

pseln  nicht  das  kleinste  Atom  verdunstenderweise
entweiche, versiegelte sie die  Pfropfen mit  fl

u

ssigem Wachs und umkapselte
sie mit einer Fischblase,  die sie am  Flaschenhals  fest  verschn

u

rte. Dann
stellte sie sie in ein wattegef

u

ttertes K

u

stchen und brachte sie  im  Keller
hinter Schloss und Riegel.

     Im April mazerierten sie Ginster  und Orangenbl

u

te, im Mai ein Meer von
Rosen,   deren   Duft   die  Stadt  f

u

r   einen  ganzen   Monat   in   einen
cremigs

u

ßen unsichtbaren  Nebel tauchte. Grenouille arbeitete  wie ein
Pferd.  Bescheiden, mit  fast sklavenhafter Bereitschaft  f

u

hrte er all  die
untergeordneten  T

u

tigkeiten aus,  die Druot ihm  auftrug. Aber  w

u

hrend  er
scheinbar  stumpfsinnig  r

u

hrte, spachtelte,  Bottiche  wusch, die Werkstatt
putzte  oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit  nichts  von
den wesentlichen  Dingen  des  Gesch

u

fts,  nichts  von der Metamorphose  der
D

u

fte. Genauer  als  Druot  es  je vermocht h

u

tte, mit seiner Nase  n

u

mlich,
verfolgte und 

u

berwachte Grenouille die Wanderung der D

u

fte von den Bl

u

ttern
der  Bl

u

ten 

u

ber das  Fett  und den  Alkohol bis  in  die k

u

stlichen kleinen
Flakons. Er roch, lange ehe Druot  es bemerkte, wann  sich das Fett zu stark
erhitzte,  er  roch, wann die  Bl

u

te  ersch

u

pft, wann  die  Suppe  mit  Duft
ges

u

ttigt war,  er roch, was im  Innern der Mischgef

u

ße geschah und zu
welchem pr

u

zisen Moment  der Destillationsprozess beendet werden musste. Und
gelegentlich gab er sich zu verstehen,  freilich ganz unverbindlich und ohne
seine unterw

u

rfige Attit

u

de abzulegen. Ihm komme so  vor, sagte er, als  sei
das Fett jetzt  wom

u

glich zu heiß geworden; er  glaube fast, man k

u

nne
demn

u

chst abseihen; er habe es irgendwie im Gef

u

hl,  als  sei der Alkohol im
Alambic  jetzt  verdunstet...  Und Druot,  der  zwar nicht gerade  fabelhaft
intelligent, aber  auch nicht  v

u

llig dumpfk

u

pfig  war, bekam  mit der  Zeit
heraus, dass er mit  seinen  Entscheidungen justament  dann am  besten fuhr,
wenn er  das  tat oder  anordnete,  was Grenouille gerade "so glaubte"  oder
"irgendwie  im  Gef

u

hl"  hatte.  Und  da  Grenouille  niemals  vorlaut  oder
besserwisserisch  

u

ußerte, was er  glaubte oder im Gef

u

hl  hatte,  und
weil er niemals  und  vor allem niemals in  Gegenwart von  Madame Arnulfi  -
Druots Autorit

u

t und  seine pr

u

ponderante Stellung als  des  ersten Gesellen
auch  nur  ironisch in  Zweifel  gezogen  h

u

tte, sah  Druot  keinen  Anlass,
Grenouilles Ratschl

u

gen nicht zu folgen,  ja, ihm  sogar nicht  mit der Zeit
immer mehr Entscheidungen ganz offen zu 

u

berlassen.
     Immer h

u

ufiger  geschah  es,  dass Grenouille  nicht mehr  nur  r

u

hrte,
sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, w

u

hrend Druot auf einen
Sprung in  die  >Quatre Dauphins< verschwand, f

u

r ein Glas  Wein, oder
hinauf zu  Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich
auf Grenouille verlassen  konnte. Und Grenouille, obwohl er  doppelte Arbeit
verrichtete,  genoss  es,  allein  zu sein,  sich  in  der  neuen  Kunst  zu
perfektionieren und  gelegentlich  kleine  Experimente zu  machen.  Und  mit
diebischer  Freude  stellte er  fest,  dass  die  von  ihm bereitete  Pomade
ungleich  feiner,  dass  seine  Essence Absolue  um Grade reiner war als die
gemeinsam mit Druot erzeugte.
     Ende   Juli   begann  die   Zeit   des   Jasmins,  im  August  die  der
Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so  exquisitem  und zugleich fragilem
Parfum,  dass ihre  Bl

u

ten nicht  nur  vor  Sonnenaufgang  gepfl

u

ckt  werden
mussten, sondern  auch die  speziellste, zarteste  Verarbeitung erheischten.
W

u

rme  verminderte  ihren  Duft,   das   pl

u

tzliche   Bad   im  heißen
Mazerationsfett h

u

tte  ihn  v

u

llig  zerst

u

rt.  Diese  edelsten aller  Bl

u

ten
ließen sich ihre Seele nicht  einfach entreißen,  man musste sie
ihnen regelrecht abschmeicheln. In  einem  besonderen Beduftungsraum  wurden
sie  auf  mit  k

u

hlem  Fett  bestrichene  Platten  gestreut oder  locker  in

u

lgetr

u

nkte T

u

cher geh

u

llt und mussten sich  langsam zu Tode  schlafen. Erst
nach  drei oder vier Tagen waren  sie verwelkt und hatten ihren Duft  an das
benachbarte Fett und  

u

l abgeatmet. Dann  zupfte man  sie vorsichtig ab  und
streute frische  Bl

u

ten  aus.  Der  Vorgang  wurde  wohl  zehn,  zwanzig Mal
wiederholt,  und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und  das  duftende 

u

l
aus  den T

u

chern abgepresst werden  konnte,  war es September geworden.  Die
Ausbeute war  noch um ein Wesentliches geringer  als bei der Mazeration. Die
Qualit

u

t  aber einer  solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen  Jasminpaste
oder eines Huile Antique  de Tubereuse 

u

bertraf die  jedes  anderen Produkts
der  parfumistischen Kunst  an  Feinheit und Originaltreue. Namentlich  beim
Jasmin  schien es, als  habe sich der s

u

ßhaftende, erotische Duft  der
Bl

u

te auf  den Fettplatten wie in  einem  Spiegel abgebildet und strahle nun
v

u

llig naturgetreu zur

u

ck - 
cum grano salis
  freilich. Denn Grenouilles Nase
erkannte selbstverst

u

ndlich  noch  den Unterschied zwischen  dem  Geruch der
Bl

u

te  und  ihrem konservierten Duft:  Wie ein  zarter  Schleier lag da  der
Eigengeruch  des  Fetts -  es mochte  so rein sein, wie es wollte - 

u

ber dem
Duftbild  des  Originals,  milderte  es,  schw

u

chte das Eklatante sanft  ab,
machte vielleicht  sogar seine Sch

u

nheit f

u

r gew

u

hnliche  Menschen 

u

berhaupt
erst  ertr

u

glich...  In  jedem  Falle aber  war  die  kalte  Enfleurage  das
raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte D

u

fte einzufangen.  Ein besseres
gab  es  nicht.  Und wenn die  Methode  auch nicht gen

u

gte, Grenouilles Nase
vollkommen  zu 

u

berzeugen, so wusste er doch, dass sie zur  D

u

pierung  einer
Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
     Schon nach kurzer  Zeit  hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso  wie
beim Mazerieren, auch  in der Kunst der kalten Beduftung 

u

berfl

u

gelt und ihm
dies  auf  die  bew

u

hrte,  unterw

u

rfig  diskrete  Weise  klargemacht.  Druot

u

berließ  es ihm gerne,  hinaus  zum Schlachthof zu gehen und dort die
geeignetsten  Fette zu kaufen, sie zu  reinigen,  auszulassen, zu filtrieren
und ihr Mischverh

u

ltnis zu bestimmen - eine f

u

r Druot immer h

u

chst diffizile
und gef

u

rchtete Aufgabe,  denn  ein  unreines, ranziges oder  zu  sehr  nach
Schwein,  Hammel  oder Rind riechendes  Fett  konnte die  kostbarste  Pomade
ruinieren.  Er  

u

berließ  es  ihm,  den  Abstand  der  Fettplatten  im
Beduftungsraum,  den  Zeitpunkt  des Bl

u

tenwechsels, den  S

u

ttigungsgrad der
Pomade zu bestimmen, 

u

berließ  ihm bald alle  prek

u

ren Entscheidungen,
die  er, Druot, 

u

hnlich wie  seinerzeit  Baldini,  immer  nur  ungef

u

hr nach
angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner
Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte.
     "Er hat eine gl

u

ckliche Hand",  sagte  Druot,  "er hat ein gutes Gef

u

hl
f

u

r  die  Dinge." Und  manchmal  dachte er auch:  "Er ist  ganz einfach viel
begabter als ich, er  ist ein hundertmal besserer  Parfumeur."  Und zugleich
hielt er ihn f

u

r einen ausgemachten Trottel,  da Grenouille, wie er glaubte,
nicht das geringste Kapital  aus  seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es
mit seinen bescheideneren F

u

higkeiten  demn

u

chst  zum Meister bringen w

u

rde.
Und  Grenouille best

u

rkte  ihn  in dieser Meinung, gab sich  mit Fleiß
d

u

mmlich, zeigte nicht den geringsten  Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts
von  seiner  eigenen   Genialit

u

t,  sondern  als  handle  er  nur  nach  den
Anordnungen des viel  erfahreneren Druot, ohne den er  ein  Nichts w

u

re. Auf
diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
     Dann  wurde es Herbst und  Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu.
Die Bl

u

tend

u

fte  lagen in  Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und  wenn
nicht  Madame  die  eine  oder andre Pomade auszuwaschen w

u

nschte oder einen
Sack getrockneter Gew

u

rze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel
zu  tun.  Oliven  gab  es noch,  Woche  f

u

r Woche ein paar K

u

rbe  voll.  Sie
pressten ihnen das  Jungfern

u

l ab  und gaben  den Rest in  die  

u

lm

u

hle. Und
Wein,   von   dem  Grenouille  einen  Teil   zu   Alkohol  destillierte  und
rektifizierte.
     Druot  ließ sich immer weniger  blicken. Er tat seine Pflicht  im
Bett  von Madame,  und  wenn  er  erschien,  nach  Schweiß  und  Samen
stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden.
Auch   Madame   kam  selten  herunter.  Sie   besch

u

ftigte  sich  mit  ihren
Verm

u

gensangelegenheiten und mit der  Umarbeitung  ihrer  Garderobe  f

u

r die
Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang  niemanden außer
der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging
kaum   aus.  Am   korporativen  Leben,  namentlich  den   regelm

u

ßigen
Gesellentreffen und  Umz

u

gen beteiligte er sich  gerade so h

u

ufig,  dass  er
weder   durch   seine  Abwesenheit  noch  durch  seine  Gegenwart   auffiel.
Freundschaften  oder  n

u

here  Bekanntschaften  hatte er  keine, achtete aber
peinlich darauf, nicht wom

u

glich als arrogant oder  außenseiterisch zu
gelten. Er 

u

berließ es den  anderen Gesellen,  seine  Gesellschaft fad
und unergiebig  zu finden. Er war  ein Meister in  der Kunst, Langeweile  zu
verbreiten  und sich  als  unbeholfenen Trottel zu  geben -  freilich nie so

u

bertrieben, dass man sich mit Genuss  

u

ber  ihn lustig  machen oder ihn als
Opfer f

u

r irgendeinen der derben  Zunftsp

u

ße gebrauchen  h

u

tte k

u

nnen.
Es gelang  ihm, als vollst

u

ndig uninteressant zu gelten.  Man ließ ihn
in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.

     Er verbrachte seine Zeit im  Atelier. Druot gegen

u

ber behauptete er, er
wolle  ein  Rezept  f

u

r  K

u

lnisches Wasser  erfinden. In  Wirklichkeit  aber
experimentierte  er  mit  ganz  anderen  D

u

ften.  Sein  Parfum,  das  er  in
Montpellier gemischt  hatte,  ging, obwohl er  es  sehr sparsam  verwendete,
allm

u

hlich zu  Ende. Er kreierte  ein neues. Aber diesmal  begn

u

gte  er sich
nicht   mehr   damit,   aus   hastig   zusammengesetzten   Materialien   den
Menschengrundgeruch  schlecht und  recht zu  imitieren,  sondern  er  setzte
seinen  Ehrgeiz  daran,  sich  einen pers

u

nlichen  Duft oder  vielmehr  eine
Vielzahl pers

u

nlicher D

u

fte zuzulegen.
     Zun

u

chst  machte er sich  einen  Unauff

u

lligkeitsgeruch, ein mausgraues
Duftkleid f

u

r  alle Tage, bei dem der k

u

sigs

u

uerliche Duft des  Menschlichen
zwar  noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch  eine dicke
Schicht von  leinenen und  wollenen Gew

u

ndern, die 

u

ber  trockne Greisenhaut
gelegt  sind, an die Außenwelt verstr

u

mte. So riechend  konnte er sich
bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark  genug, um die  Existenz
einer Person olfaktorisch zu begr

u

nden, und zugleich  so  diskret,  dass  es
niemanden  behelligte. Grenouille  war  damit  geruchlich  eigentlich  nicht
vorhanden   und  dennoch  in   seiner  Pr

u

senz   immer   aufs  Bescheidenste
gerechtfertigt - ein  Zwitterzustand, der ihm  sowohl im  Hause  Arnulfi als
auch bei seinen gelegentlichen G

u

ngen durch die Stadt sehr zupass kam.
     Bei  gewissen  Gelegenheiten freilich erwies sich  der bescheidene Duft
als hinderlich. Wenn  er im  Auftrag  von Druot Besorgungen zu machen  hatte
oder f

u

r sich selbst  bei  einem H

u

ndler  etwas Zibet  oder ein paar  K

u

rner
Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten
Unauff

u

lligkeit entweder  v

u

llig  

u

bersah  und nicht bediente oder zwar sah,
aber falsch  bediente  oder  w

u

hrend des Bedienens wieder vergaß.  F

u

r
solche Anl

u

sse hatte  er sich ein etwas  rasseres,  leicht schweißiges
Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen  Ecken und Kanten,  das ihm
eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute  glauben machte,  es  sei ihm
eilig und  ihn  trieben dringende  Gesch

u

fte.  Auch mit einer  Imitation von
Druots  aura  seminalis, die er  mittels Beduftung  eines fettigen Leintuchs
durch   eine  Paste  von  frischen  Enteneiern  und  angegorenem  Weizenmehl
t

u

uschend 

u

hnlich herzustellen wusste,  hatte er gute Erfolge, wenn es darum
ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen.
     Ein anderes Parfum aus seinem  Arsenal war ein mitleiderregender  Duft,
der  sich  bei Frauen mittleren und h

u

heren  Alters bew

u

hrte. Er  roch  nach
d

u

nner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit -  auch wenn
er unrasiert, finsterer Miene und  bem

u

ntelt auftrat - wie ein armer blasser
Bub  in   einem  abgewetzten  J

u

ckchen,  dem  geholfen  werden  musste.  Die
Marktweiber, wenn sie seiner anr

u

chig wurden, steckten ihm N

u

sse und trockne
Birnen zu, weil er  so  hungrig  und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei
der Frau des Metzgers,  einer an und  f

u

r sich unerbittlich strengen Vettel,
durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis
mitnehmen, denn sein Unschuldsduft r

u

hrte ihr m

u

tterliches Herz. Aus  diesen
Resten  wiederum  bezog  er  durch  direktes  Digerieren  mit   Alkohol  die
Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein
und gemieden sein  wollte.  Der Geruch schuf  um ihn eine  Atmosph

u

re leisen
Ekels,  einen fauligen  Hauch, wie  er  beim Erwachen aus alten ungepflegten
M

u

ndern  schl

u

gt. Er war  so wirkungsvoll, dass sogar der  wenig zimperliche
Druot sich unwillk

u

rlich  abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich
freilich ganz deutlich  bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen
hatte.  Und  ein paar  Tropfen des Repellents, auf  die Schwelle  der Kabane
getr

u

ufelt,  gen

u

gten,  jeden  m

u

glichen  Eindringling,  Mensch  oder  Tier,
fernzuhalten.
     Im   Schutz  dieser  verschiedenen  Ger

u

che,  die  er   je   nach   den

u

ußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu
dienten, in der  Welt der Menschen unbehelligt zu  sein  und in seinem Wesen
unerkannt  zu  bleiben,  widmete  sich  Grenouille  nun  seiner   wirklichen
Leidenschaft: der subtilen Jagd nach  D

u

ften.  Und  weil er ein großes
Ziel vor der Nase  hatte und noch 

u

ber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur
mit brennendem  Eifer, sondern auch ungemein planvoll und  systematisch  vor
beim  Sch

u

rfen  seiner Waffen,  beim Ausfeilen  seiner  Techniken,  bei  der
allm

u

hlichen  Perfektionierung seiner Methoden. Er fing  dort an,  wo er bei
Baldini aufgeh

u

rt hatte, bei der Gewinnung der D

u

fte lebloser Dinge:  Stein,
Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft...
     Was damals  mit Hilfe des groben  Verfahrens  der Destillation kl

u

glich
misslungen war, gelang nun dank der starken  absorbierenden Kraft der Fette.
Einen  messingnen  T

u

rknauf,  dessen  k

u

hl-schimmliger,  belegter  Duft  ihm
gefiel,  umkleidete Grenouille f

u

r  ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe,
als  er  den  Talg herunterschabte  und pr

u

fte,  so  roch  er, in  zwar sehr
geringem  Maße, aber doch  eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst
nach  einer  Lavage in Alkohol  war  der Geruch  noch  da,  unendlich  zart,
entfernt, vom Dunst  des  Weingeists 

u

berschattet und auf der Welt  wohl nur
von  Grenouilles  feiner  Nase  wahrnehmbar  aber  eben  doch  da,  und  das
hieß: zumindest  im Prinzip verf

u

gbar. H

u

tte er zehntausend Kn

u

ufe und
w

u

rde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden,  er k

u

nnte einen winzigen
Tropfen  Essence  Absolue  von Messingknaufduft  erzeugen,  so  stark,  dass
jedermann die Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase h

u

tte.
     Das  gleiche gelang  ihm mit dem por

u

sen Kalkduft  eines Steins, den er
auf dem Olivenfeld  vor seiner Kabane gefunden  hatte. Er mazerierte ihn und
gewann ein kleines  B

u

tzchen Steinpomade,  deren infinitesimaler  Geruch ihn
unbeschreiblich   erg

u

tzte.  Er  kombinierte  ihn  mit  anderen,  von  allen
m

u

glichen Gegenst

u

nden aus dem Umkreis seiner H

u

tte abgezogenen Ger

u

chen und
produzierte   nach  und   nach   ein   olfaktorisches  Miniaturmodell  jenes
Olivenhains hinter dem  Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon
verschlossen mit sich f

u

hren und wann es  ihm  gefiel geruchlich auferstehen
lassen konnte.
     Es waren virtuose Duftkunstst

u

cke,  die  er  vollbrachte,  wundersch

u

ne
kleine Spielereien,  die  freilich niemand  außer ihm  selbst w

u

rdigen
oder  

u

berhaupt  nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entz

u

ckt
von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fr

u

her noch
sp

u

ter  Momente eines tats

u

chlich unschuldigen  Gl

u

cks wie zu jener Zeit, da
er  mit spielerischem Eifer  duftende  Landschaften,  Stilleben  und  Bilder
einzelner Gegenst

u

nde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten 

u

ber.
     Er machte Jagd  auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen  und
ertr

u

nkte sie  in warmem Fett.  Nachts schlich er  sich in  St

u

lle, um K

u

he,
Ziegen und  Ferkel  f

u

r  ein paar  Stunden  mit fettbeschmierten T

u

chern  zu
umh

u

llen oder in 

u

lige Bandagen  einzuwickeln.  Oder er  stahl  sich  in ein
Schafgehege, um heimlich ein Lamm  zu scheren, dessen  duftende  Wolle er in
Weingeist   wusch.  Die  Ergebnisse  waren   zun

u

chst   noch   nicht   recht
befriedigend.  Denn  anders  als  die  geduldigen  Dinge   Knauf  und  Stein
ließen  sich  die  Tiere  ihren  Duft  nur widerwillig  abnehmen.  Die
Schweine schabten die  Bandagen an den Pfosten ihrer  Koben  ab.  Die Schafe
schrien, wenn er sich nachts  mit  dem  Messer n

u

herte. Die K

u

he sch

u

ttelten
stur  die  fetten  T

u

cher  von  den  Eutern.  Einige  K

u

fer,  die  er  fing,
produzierten,  w

u

hrend er sie  verarbeiten wollte, eklig  stinkende Sekrete,
und   Ratten,   wohl  aus   Angst,   schissen   ihm  in  seine  olfaktorisch
hochempfindlichen  Pomaden.  Jene Tiere,  die  er  mazerieren wollte, gaben,
anders als die Bl

u

ten, ihren Duft nicht klaglos oder nur  mit  einem stummen
Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich
partout nicht unterr

u

hren  lassen,  strampelten  und  k

u

mpften und erzeugten
dadurch  unverh

u

ltnism

u

ßig  hohe Mengen Angst- und Todesschweiß,
die das arme Fett  durch  

u

bers

u

uerung verdarben.  So  konnte man  nat

u

rlich
nicht  vern

u

nftig arbeiten. Die  Objekte  mussten  ruhiggestellt werden, und
zwar so pl

u

tzlich, dass sie gar nicht  mehr dazu kamen, Angst zu haben  oder
sich zu widersetzen. Er musste sie t

u

ten.
     Als  erstes  probierte  er  es mit  einem kleinen Hund.  Dr

u

ben vor dem
Schlachthaus lockte er ihn mit einem St

u

ck Fleisch von seiner Mutter weg bis
in die Werkstatt, und w

u

hrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem
Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit,
den er in der Rechten hielt,  kurz  und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam
so pl

u

tzlich 

u

ber  den kleinen  Hund, dass  der  Ausdruck des Gl

u

cks noch um
seine  Lefzen  und in  seinen  Augen  war,  als  Grenouille  ihn  l

u

ngst  im
Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er
nun seinen reinen, von  Angstschweiß ungetr

u

bten Hundeduft verstr

u

mte.
Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfl

u

ckte Bl

u

ten, waren
rasch  verderblich. Und  so hielt Grenouille bei seinem  Opfer  Wache,  etwa
zw

u

lf Stunden  lang, bis er bemerkte, dass  die  ersten Schlieren  des  zwar
angenehmen, doch  verf

u

lschend riechenden Leichendufts aus  dem  K

u

rper  des
Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg
und  barg  das wenige beduftete Fett in  einem Kessel, wo  er  es sorgf

u

ltig
auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab
und  f

u

llte  diesen  Rest  in  ein  winziges  Glasr

u

hrchen. Das Parfum  roch
deutlich  nach dem feuchten,  frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des
Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und  als Grenouille  die
alte  H

u

ndin vom  Schlachthaus daran schnuppern ließ, da  brach sie in
Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre N

u

stern  nicht mehr  von  dem
R

u

hrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu  sich
und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an
dem es  ihm zum ersten  Mal gelungen war, einem lebenden  Wesen die duftende
Seele zu rauben.
     Dann, sehr allm

u

hlich  und mit 

u

ußerster Vorsicht, machte er sich
an  die  Menschen heran.  Er  pirschte zun

u

chst  aus  sicherer  Distanz  mit
weitmaschigem Netz, denn es kam  ihm weniger darauf an, große Beute zu
machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben.
     Mit  seinem leichten Duft der Unauff

u

lligkeit getarnt,  mischte er sich
im  Wirtshaus zu  den  >Quatre  Dauphins<  abends unter die  G

u

ste und
heftete winzige Fetzen 

u

l- und fettgetr

u

nkten  Stoffs unter B

u

nke und Tische
und in verborgene  Nischen. Ein paar Tage sp

u

ter sammelte er  sie wieder ein
und  pr

u

fte. Tats

u

chlich  atmeten  sie  neben allen m

u

glichen K

u

chend

u

nsten,
Tabaksqualm- und Weinger

u

chen auch ein  wenig Menschenduft ab. Er blieb aber
sehr vage  und verschleiert, war mehr die  Ahnung  eines allgemeinen Brodems
als ein pers

u

nlicher Geruch. Eine 

u

hnliche Massenaura, doch  reiner und  ins
Erhaben-  Schwitzige  gesteigert,  war in  der  Kathedrale  zu gewinnen,  wo
Grenouille  seine Probef

u

hnchen am 24.  Dezember unter den  B

u

nken aush

u

ngte
und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen 

u

ber
ihnen  abgesessen  worden  waren:  Ein  schauerliches   Duftkonglomerat  aus
Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und  verkrampften
H

u

nden,   durchmischt    mit   ausgestoßner   Atemluft   aus   tausend
chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen  und dem beklemmenden Dampf des
Weihrauchs  und  der  Myrrhe  hatte  sich  auf  den  impr

u

gnierten  Fetzchen
abgebildet:     schauerlich    in    seiner    nebul

u

sen,    unkonturierten,

u

belkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich.
     Den   ersten  Individualgeruch  ergatterte  Grenouille  im  Hospiz  der
Charite.  Es gelang ihm,  das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken
eines  frisch  an Schwindsucht verstorbenen S

u

cklergesellen zu entwenden, in
welchem dieser zwei Monate umh

u

llt gelegen  war. Das Tuch war  so stark  vom
Eigentalg des S

u

cklers durchsogen, dass  es  dessen  Ausd

u

nstungen wie  eine
Enfleuragepaste  absorbiert  hatte und direkt  der  Lavage unterzogen werden
konnte.  Das  Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles  Nase erstand der
S

u

ckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf,  schwebte,
wenngleich durch die eigent

u

mliche Reproduktionsmethode  und die zahlreichen
Miasmen  seiner Krankheit  schemenhaft entstellt, doch  leidlich erkenntlich
als  individuelles  Duftbild  im  Raum:  ein kleiner  Mann von dreißig
Jahren,   blond,  mit   plumper  Nase,  kurzen  Gliedern,   platten  k

u

sigen
F

u

ßen,  geschwollenem  Geschlecht,  galligem  Temperament  und   fadem
Mundgeruch -  kein  sch

u

ner Mensch,  geruchlich, dieser S

u

ckler, nicht wert,
wie jener  kleine Hund, l

u

nger aufbewahrt zu werden. Und  dennoch ließ
ihn  Grenouille  eine ganze  Nacht  lang  als  Duftgeist  durch seine Kabane
flattern und schnupperte ihn immer wieder  an,  begl

u

ckt  und tiefbefriedigt
vom  Gef

u

hl der Macht, die er  

u

ber die Aura  eines 

u

ndern Menschen gewonnen
hatte. Am n

u

chsten Tag sch

u

ttete er ihn weg.
     Noch  einen Test  unternahm er  in  diesen Wintertagen.  Einer  stummen
Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte  er einen Franc daf

u

r, dass sie
einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und 

u

lmischungen pr

u

parierte L

u

ppchen
auf  der  nackten  Haut  trug.  Es  fand  sich,  dass eine  Kombination  von
Lammnierenfett und mehrfach  gel

u

utertem Schweins- und Kuhtalg im Verh

u

ltnis
zwei zu f

u

nf zu drei unter Hinzuf

u

hrung geringer  Mengen  von Jungfern

u

l f

u

r
die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war.
     Damit  ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete  darauf,  sich
irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bem

u

chtigen und ihn parfumistisch
zu verarbeiten. So etwas w

u

re immer mit Risiken  verbunden gewesen und h

u

tte
keine  neuen  Erkenntnisse gebracht.  Er  wusste, dass er  nun die Techniken
beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben,  und es war nicht n

u

tig, dass er
es sich erneut bewies.
     Des  Menschen Duft  an  und  f

u

r  sich  war ihm  auch gleichg

u

ltig. Des
Menschen Duft  konnte er hinreichend gut  mit  Surrogaten imitieren.  Was er
begehrte,  war  der  Duft  
gewisser
  Menschen:  jener 

u

ußerst seltenen
Menschen n

u

mlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.

     Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten  Gesellen  Dominique
Druot,  der  damit zum  Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es  gab  ein
großes  Essen  f

u

r  die  Gildenmeister,  ein  bescheideneres  f

u

r  die
Gesellen,  Madame  kaufte eine  neue  Matratze  f

u

r  ihr Bett, das  sie  nun
offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte  Garderobe aus dem Schrank.
Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei,
behielt das ungeteilte  Verm

u

gen, die finanzielle Leitung des Gesch

u

fts  und
die Schl

u

ssel zum Keller;  Druot erf

u

llte  t

u

glich seine sexuellen Pflichten
und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun  erster und
einziger  Geselle,  verrichtete  das   Gros  der  anfallenden   Arbeit   f

u

r
unver

u

ndert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft.
     Das  Jahr  begann  mit der  gelben  Flut von  Kassien, mit  Hyazinthen,
Veilchenbl

u

te  und narkotischen Narzissen. An  einem  Sonntag  im M

u

rz  - es
mochte etwa ein Jahr  seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein  - machte
sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer  am
anderen Ende  der Stadt zu sehen.  Er war diesmal auf  den Duft vorbereitet,
wusste  ziemlich genau,  was ihn  erwartete...  und doch,  als  er  sie dann
erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu  jener  Stelle
an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter,  und  er sp

u

rte, wie  das Blut in
seinen  Adern prickelte  vor Gl

u

ck: sie  war  noch  da, die  unvergleichlich
sch

u

ne Pflanze, sie  hatte den Winter unbeschadet 

u

berdauert, stand im Saft,
wuchs,  dehnte sich, trieb pr

u

chtigste Bl

u

tenst

u

nde! Ihr Duft war, wie er es
erwartet hatte, kr

u

ftiger geworden, ohne an Feinheit  einzub

u

ßen.  Was
noch vor einem  Jahr sich zart versprenkelt  und vertr

u

pfelt  hatte, war nun
gleichsam legiert zu einem  leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben
schillerte  und  trotzdem jede Farbe band  und nicht mehr abriss. Und dieser
Fluss, so stellte  Grenouille selig fest, speiste sich aus st

u

rker werdender
Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr,  nur noch zw

u

lf Monate, dann w

u

rde
diese Quelle 

u

berborden, und  er k

u

nnte kommen, sie zu fassen und den wilden
Ausstoß ihres Duftes einzufangen.
     Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter  der sich
der  Garten befand. Obwohl das M

u

dchen offenbar nicht im  Garten, sondern im
Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr  Duft wie
eine  stete  sanfte Brise herab.  Grenouille stand ganz still. Er war  nicht
berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war
vom Gl

u

cksgef

u

hl  des  Liebhabers erf

u

llt,  der  seine Angebetete  von  fern
belauscht oder beobachtet und  weiß, er wird sie heimholen 

u

bers Jahr.
Wahrhaftig,  Grenouille,  der  solit

u

re  Zeck,  das  Scheusal, der  Unmensch
Grenouille, der  Liebe  nie  empfunden hatte  und Liebe  niemals inspirieren
konnte, stand an  jenem M

u

rztag  an der Stadtmauer von Grasse und liebte und
war zutiefst begl

u

ckt von seiner Liebe.
     Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das M

u

dchen im Haus
dort hinter  der Mauer. Er liebte  den  Duft. Ihn allein und nichts anderes,
und ihn  nur als  den k

u

nftigen eigenen. Er w

u

rde  ihn heimholen 

u

bers Jahr,
das schwor  er  sich  bei  seinem  Leben.  Und  nach  diesem  absonderlichen
Gel

u

bnis, oder  Verl

u

bnis,  diesem  sich  selbst und  seinem  k

u

nftigen Duft
gegebenen  Treueversprechen,  verließ er den  Ort frohgemut und kehrte
durch die Porte du Cours in die Stadt zur

u

ck.
     Als er nachts in der Kabane lag,  holte er den Duft noch einmal aus der
Erinnerung herauf- er konnte  der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte
in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so
eng, so traumhaft nah, als bes

u

ße er ihn schon wirklich, seinen  Duft,
seinen eigenen Duft,  und er  liebte ihn an  sich  und  sich durch  ihn eine
berauschte k

u

stliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gef

u

hl mit
in den Schlaf  hin

u

bernehmen. Aber gerade m  dem  Moment,  als er die  Augen
schloss  und  nur  noch   einen   Atemzug  lang  Zeit  gebraucht  h

u

tte,  um
einzuschlummern,  da verließ es ihn, war  pl

u

tzlich  weg,  und anstatt
seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
     Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft,  den
ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der
Erinnerung, wo alle D

u

fte unverg

u

nglich sind. Der wirkliche verbraucht  sich
an die Welt. Er ist fl

u

chtig. Und wenn er  aufgebraucht sein wird, dann wird
es die Quelle, aus der ich  ihn  genommen habe,  nicht mehr  geben.  Und ich
werde  nackt  sein  wie zuvor und  mir  mit  meinen  Surrogaten weiterhelfen
m

u

ssen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen
ihn  gekannt  und  besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft,  und  ich
werde ihn nicht vergessen k

u

nnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also
werde ich  zeitlebens von  meiner Erinnerung  an ihn zehren,  wie  ich schon
jetzt,  f

u

r einen Moment, aus meiner  Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen
werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn 

u

berhaupt?"
     Dieser Gedanke war Grenouille  

u

ußerst unangenehm. Es erschreckte
ihn  maßlos, dass  er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er
ihn bes

u

ße, unweigerlich  wieder verlieren musste. Wie lange  w

u

rde er
vorhalten? Einige  Tage?  Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn
er  sich ganz sparsam  damit  parfumierte? Und dann? Er sah sich  schon  den
letzten Tropfen aus der Flasche sch

u

tteln, den Flakon mit Weingeist  sp

u

len,
damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie
sich sein  geliebter Duft f

u

r immer und unwiederbringlich verfl

u

chtigte.  Es
w

u

rde sein wie ein  langsames Sterben, eine  Art umgekehrten Erstickens, ein
qualvolles   allm

u

hliches    Hinausverdunsten    seiner   selbst   in    die
gr

u

ßliche Welt.
     Er fr

u

stelte. Es  

u

berkam  ihn  das Verlangen, seine  Pl

u

ne aufzugeben,
hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. 

u

ber die  verschneiten Berge
wollte  er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort
in seine alte H

u

hle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht.
Er blieb sitzen und  gab  dem Verlangen  nicht nach, obwohl es stark war. Er
gab ihm nicht nach, weil es ein  altes Verlangen  von ihm war, davonzuziehen
und  sich  in  einer  H

u

hle zu  verkriechen.  Erkannte  das  schon.  Was  er
allerdings noch nicht kannte, war  der Besitz eines  menschlichen Duftes, so
herrlich  wie  der  Duft des  M

u

dchens  hinter der Mauer. Und  wenn  er auch
wusste,  dass  er den Besitz dieses Duftes  mit  seinem anschließenden
Verlust w

u

rde entsetzlich teuer bezahlen m

u

ssen, so schienen ihm doch Besitz
und
  Verlust  begehrenswerter  als der  lapidare Verzicht  auf  beides. Denn
verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.
     Allm

u

hlich  wichen die  Zweifel und mit ihnen das Fr

u

steln.  Er sp

u

rte,
wie das warme Blut ihn wieder  belebte und wie der Wille, das zu tun, was er
sich vorgenommen hatte,  wieder Besitz von  ihm ergriff. Und  zwar m

u

chtiger
als zuvor, da dieser Wille nun nicht  mehr einer  reinen Begierde entsprang,
sondern dazu noch einem  erwogenen  Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die
Wahl  gestellt,  in sich selbst  zu  vertrocknen  oder sich  fallenzulassen,
entschied sich f

u

r das zweite,  wohl  wissend, dass dieser Fall sein letzter
sein  w

u

rde. Er legte sich aufs Lager zur

u

ck, wohlig ins Stroh, wohlig unter
die Decke, und kam sich sehr heroisch vor.
     Grenouille  w

u

re   aber   nicht   Grenouille  gewesen,   wenn  ihn  ein
fatalistisch-heroisches  Gef

u

hl lange befriedigt h

u

tte. Dazu besaß  er
einen  zu z

u

hen Selbstbehauptungswillen,  ein  zu  durchtriebenes Wesen  und
einen  zu raffinierten  Geist. Gut - er hatte sich  entschlossen, jenen Duft
des  M

u

dchens hinter der Mauer  zu besitzen. Und  wenn  er  ihn nach wenigen
Wochen wieder verl

u

re  und  an  dem Verlust st

u

rbe, so  sollte auch das  gut
sein.  Besser  aber w

u

re  es, nicht  zu  sterben und  den  Duft trotzdem  zu
besitzen,  oder  zumindest  seinen  Verlust  so  lange  als  irgend  m

u

glich
hinauszuz

u

gern.  Man  m

u

sste  ihn   haltbarer   machen.   Man  m

u

sste  seine
Fl

u

chtigkeit   bannen,   ohne  ihm  seinen   Charakter   zu  rauben   -  ein
parfumistisches Problem.
     Es gibt D

u

fte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener
Schrank,  ein mit  Zimt

u

l getr

u

nktes  St

u

ck  Leder,  eine  Amberknolle,  ein
K

u

stchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere
-  Limetten

u

l,  Bergamotte,  Narzissen-  und  Tuberosenextrakte  und   viele
Bl

u

tend

u

fte verhauchen sich  schon nach wenigen Stunden, wenn  man  sie rein
und  ungebunden der  Luft  aussetzt.  Der Parfumeur begegnet diesem  fatalen
Umstand, indem er die  allzu fl

u

chtigen D

u

fte  durch haftende  bindet, ihnen
also gleichsam  Fesseln anlegt,  die ihren Freiheitsdrang  z

u

geln, wobei die
Kunst  darin  besteht, die  Fesseln so locker zu lassen, dass  der gebundene
Geruch seine Freiheit scheinbar  beh

u

lt, und  sie doch so eng  zu  schn

u

ren,
dass  er  nicht fliehen kann.  Grenouille  war  dieses  Kunstst

u

ck einmal in
perfekter Weise  beim Tuberosen

u

l gelungen,  dessen  ephemeren Duft  er  mit
winzigen  Mengen  von Zibet,  Vanille,  Labdanum und Zypresse  gefesselt und
damit erst recht eigentlich zur  Geltung gebracht hatte.  Warum sollte etwas

u

hnliches nicht auch mit  dem Duft des M

u

dchens m

u

glich sein? Weshalb sollte
er  diesen  kostbarsten  und  fragilsten  aller  D

u

fte   pur  verwenden  und
verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert!  Ließ
man Diamanten  ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals?  War er,
Grenouille, etwa  ein  primitiver  Duftstoffr

u

uber  wie Druot  und  wie  die
anderen Mazeratoren,  Destillierer und Bl

u

tenquetscher?  Oder  war  er nicht
vielmehr der gr

u

ßte Parfumeur der Welt?
     Er schlug sich vor den  Kopf vor Entsetzen,  dass er nicht schon fr

u

her
darauf  gekommen war:  Nat

u

rlich durfte dieser einzigartige  Duft nicht  roh
verwendet werden. Er musste ihn fassen wie  den  kostbarsten  Edelstein. Ein
Duftdiadem musste  er  schmieden,  an  dessen erhabenster  Stelle,  zugleich
eingebunden  in andere D

u

fte und sie  beherrschend, 
sein
 Duft  strahlte. Ein
Parfum  w

u

rde er  machen  nach  allen  Regeln  der  Kunst, und der Duft  des
M

u

dchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.
     Als  Adjuvantien  freilich,  als  Basis-,  Mittel-  und  Kopfnote,  als
Spitzengeruch  und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosen

u

l
oder Neroli geeignet,  das stand fest.  F

u

r  ein  solches  Parfum,  f

u

r  ein
Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.

     Im Mai  desselben Jahres  fand  man  in  einem  Rosenfeld, halben  Wegs
zwischen  Grasse und dem  

u

stlich  gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche
eines  f

u

nfzehnj

u

hrigen  M

u

dchens.  Es  war mit  einem  Kn

u

ppelhieb  auf den
Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt  hatte, war von dem
grausigen Fund so verwirrt, dass  er sich  fast selbst in Verdacht  brachte,
indem er dem Polizeilieutenant  mit zitternder  Stimme  meldete, er habe  so
etwas Sch

u

nes noch  nie gesehen - wo er doch  eigentlich hatte sagen wollen,
er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.
     Tats

u

chlich war  das M

u

dchen von exquisiter Sch

u

nheit. Es geh

u

rte jenem
schwerbl

u

tigen Typ von Frauen an,  die wie aus dunklem Honig sind, glatt und
s

u

ß und ungeheuer klebrig; die mit  einer  z

u

hfl

u

ssigen  Geste,  einem
Haarwurf,  einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres  Blickes den Raum
beherrschen und  dabei ruhig wie im Zentrum  eines Wirbelsturmes stehen, der
eigenen  Gravitationskraft scheinbar  unbewusst,  mit der sie Sehns

u

chte und
Seelen von M

u

nnern wie von Frauen  unwiderstehlich an sich reißen. Und
sie  war  jung,  blutjung,  der Reiz  des Typus  war  noch nicht  ins S

u

mige
verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder  glatt und fest, die Br

u

ste wie
aus  dem Ei gepellt, und ihr  fl

u

chiges Gesicht,  vom schwarzen starken Haar
umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar
selbst  freilich  war  weg.  Der  M

u

rder  hatte  es  ihr  abgeschnitten  und
mitgenommen, ebenso wie die Kleider.
     Man verd

u

chtigte die  Zigeuner. Den  Zigeunern  war  alles  zuzutrauen.
Zigeuner  woben  bekanntlich   Teppiche  aus  alten  Kleidern  und  stopften
Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus  Haut und Z

u

hnen von Gehenkten
kleine Puppen. F

u

r ein so perverses Verbrechen kamen nur  Zigeuner in Frage.
Es  waren  aber  zu der Zeit  keine Zigeuner da, weit und breit  nicht,  das
letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.
     In  Ermangelung von Zigeunern  verd

u

chtigte  man daraufhin italienische
Wanderarbeiter.  Italiener waren aber auch keine da, f

u

r sie war es  zu fr

u

h
im  Jahr, sie w

u

rden  erst  im Juni  zur  Jasminernte ins Land  kommen,  sie
konnten's   also   nicht   gewesen  sein.  Schließlich   gerieten  die
Per

u

ckenmacher  in  Verdacht, bei  denen  man nach dem  Haar  des ermordeten
M

u

dchens  fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann
die angeblich geilen  M

u

nche  des Benediktinerklosters  -  die freilich alle
schon  weit  

u

ber  siebzig  waren  -,  dann  die   Zisterzienser,  dann  die
Freimaurer, dann die Geisteskranken  aus der  Charit

u

, dann die K

u

hler, dann
die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis
von Cabris,  denn der war schon  zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete,
wie es  hieß,  in seinen Kellern orgiastische Messen  und trank  dabei
Jungfrauenblut,  um  seine Potenz  zu steigern.  Konkretes  ließ  sich
freilich  nicht beweisen. Niemand  hatte  den  Mord beobachtet,  Kleider und
Haare  der  Toten wurden nicht gefunden.  Nach  einigen  Wochen stellte  der
Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.
     Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit  ihren Familien, um  sich als
Pfl

u

cker zu  verdingen.  Die  Bauern besch

u

ftigten sie  zwar, verboten aber,
eingedenk des Mordes, ihren Frauen und T

u

chtern den Umgang mit ihnen. Sicher
war  sicher.  Denn  obwohl  die  Wanderarbeiter  f

u

r  den  geschehenen  Mord
tats

u

chlich nicht verantwortlich waren, so h

u

tten sie doch prinzipiell daf

u

r
verantwortlich sein k

u

nnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut
zu sein.
     Nicht  lange nach  Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde.
Wieder waren  die  Opfer  bildsch

u

ne  M

u

dchen,  wieder  geh

u

rten  sie  jenem
schwerbl

u

tigen  schwarzhaarigen  Typus an, wieder  fand  man  sie  nackt und
geschoren  und  mit einer stumpfen Wunde am  Hinterkopf in den Blumenfeldern
liegen. Wieder fehlte  vom T

u

ter  jede Spur. Die Nachricht verbreitete  sich
wie  ein  Lauffeuer,  und  es  drohten  schon  Feindseligkeiten  gegen   das
zugezogene  Volk  auszubrechen,  als  bekannt  wurde,   dass   beide   Opfer
Italienerinnen waren, T

u

chter eines Genueser Tagl

u

hners.
     Nun legte sich die  Furcht 

u

ber das Land. Die Leute wussten nicht mehr,
auf wen  sie ihre ohnm

u

chtige Wut richten sollten. Wohl gab  es noch welche,
die die Irren oder den obskuren  Marquis verd

u

chtigten, aber so recht wollte
niemand daran glauben, denn  jene standen Tag  und Nacht unter Aufsicht, und
dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also r

u

ckte man n

u

her
zusammen. Die Bauern 

u

ffneten  den Zugewanderten, die  bis  dahin auf freiem
Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die St

u

dter richteten  in jedem Viertel
einen n

u

chtlichen  Patrouillendienst ein.  Der Polizeilieutenant  verst

u

rkte
die  Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen n

u

tzten nichts. Wenige Tage
nach dem  Doppelmord fand man wieder eine  M

u

dchenleiche, ebenso zugerichtet
wie die vorigen. Diesmal  handelte es sich um  eine sardische W

u

scherin  aus
dem bisch

u

flichen  Palais,  die nahe  dem  großen Wasserbecken an  der
Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der  Stadt, erschlagen worden
war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten B

u

rgerschaft gedr

u

ngt, weitere
Maßnahmen  ergriffen - sch

u

rfste Kontrollen an den Toren,  Verst

u

rkung
der Nachtwachen, Ausgangsverbot  f

u

r alle  weiblichen Personen nach Einbruch
der Dunkelheit -, verging  in diesem  Sommer keine  Woche mehr, in der nicht
die Leiche eines jungen M

u

dchens gefunden wurde.  Und immer waren es solche,
die gerade erst  begonnen  hatten, Frauen  zu  sein, und immer  waren es die
sch

u

nsten und meist jener dunkle, haftende  Typus. - Obwohl der M

u

rder  bald
auch  nicht  mehr  den  in  der  einheimischen  Bev

u

lkerung  vorherrschenden
weichen, weißh

u

utigen und etwas beleibteren M

u

dchenschlag verschm

u

hte.
Sogar  br

u

nette,  sogar dunkelblonde  - sofern sie  nicht zu mager  waren  -
fielen ihm neuerdings  zum Opfer. Er sp

u

rte sie 

u

berall auf, nicht mehr  nur
im Umland von Grasse, sondern mitten in  der Stadt, ja sogar in den H

u

usern.
Die  Tochter  eines  Tischlers  wurde  in  ihrer  Kammer  im  f

u

nften  Stock
erschlagen  aufgefunden, und niemand im Haus  hatte  das geringste  Ger

u

usch
geh

u

rt,  und  keiner  der  Hunde,  die  sonst  jeden  Fremden  witterten und
verbellten, hatte  angeschlagen. Der M

u

rder schien unfassbar, k

u

rperlos, wie
ein Geist zu sein.
     Die Menschen emp

u

rten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste
Ger

u

cht f

u

hrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender H

u

ndler, der Liebespulver
und  andere  Quacksalbereien  verkaufte, wurde  fast  massakriert,  denn  es
hieß,  seine  Mittelchen  enthielten gemahlenes M

u

dchenhaar.  Auf  das
Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charit

u

 wurden Brandanschl

u

ge ver

u

bt.
Der  Tuchh

u

ndler Alexandre Misnard erschoss  seinen  eigenen Hausdiener  bei
dessen n

u

chtlicher Heimkehr, weil er ihn  f

u

r den ber

u

chtigten M

u

dchenm

u

rder
hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden T

u

chter zu
entfernten Verwandten  oder  in Pensionate nach  Nizza, Aix oder Marseille .
Der  Polizeilieutenant  wurde  auf  Dr

u

ngen  des  Stadtrats  seines  Postens
enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Sch

u

nheiten
von einem 

u

rztekollegium  auf  ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand
sich, dass sie alle unber

u

hrt geblieben waren.
     Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis  das Entsetzen, anstatt  es
zu  mindern, denn  insgeheim hatte jedermann  angenommen,  dass die  M

u

dchen
missbraucht  worden seien.  Man h

u

tte dann wenigstens ein Motiv des  M

u

rders
gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun  war man v

u

llig ratlos. Und  wer an
Gott glaubte, rettete sich ins  Gebet, es  m

u

ge  doch wenigstens das  eigene
Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.
     Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten
Großb

u

rger und  Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl  aufgekl

u

rte und
antiklerikale  Herren, die  den Bischof bisher einen guten Mann hatten  sein
lassen und aus den Kl

u

stern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken
gemacht h

u

tten - die  stolzen,  m

u

chtigen Herren  des Stadtrats ließen
sich  in  ihrer  Not herbei,  Monseigneur den Bischof  in  einer unterw

u

rfig
abgefassten Petition zu bitten, er m

u

ge das  m

u

dchenmordende Monster, dessen
die weltliche  Macht nicht  habhaft werden  k

u

nne, verfluchen  und  mit Bann
belegen, ebenso,  wie  es sein  erlauchter  Vorg

u

nger im Jahre 1708 mit  den
entsetzlichen Heuschrecken gemacht  habe, die damals das Land bedrohten. Und
in  der  Tat  wurde Ende September der Grasser M

u

dchenm

u

rder, der bis  dahin
nicht  weniger  als  vierundzwanzig  der   sch

u

nsten  Jungfrauen  aus  allen
Schichten des Volkes hinweggerafft hatte,  per  schriftlichem Anschlag sowie
m

u

ndlich  von  s

u

mtlichen  Kanzeln  der  Stadt,  darunter  der  Kanzel   von
Notre-Dame-du-Puy,  durch  den Bischof  pers

u

nlich  in feierlichen Bann  und
Fluch getan.
     Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde  h

u

rten auf, von einem Tag zum
anderen.  Oktober und November vergingen ohne  Leiche. Anfang Dezember kamen
Berichte aus Grenoble,  dass dort  neuerdings ein M

u

dchenm

u

rder  umgehe, der
seine Opfer erdrossle  und  ihnen  die  Kleider  in Fetzen vom Leibe und die
Haare in  B

u

scheln vom Kopfe reiße. Und  obwohl diese grobschl

u

chtigen
Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgef

u

hrten Grasser Morden
standen,  war  doch alle  Welt davon 

u

berzeugt, es  handle  sich um ein  und
denselben  T

u

ter. Die Grasser  schlugen drei Kreuze  vor Erleichterung, dass
die  Bestie nicht mehr bei  ihnen, sondern im  sieben  Tagereisen entfernten
Grenoble w

u

tete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und
hielten  am  24. Dezember  einen großen  Dankgottesdienst ab.  Zum  1.
Januar 1766 wurden die verst

u

rkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die
n

u

chtliche   Ausgangssperre   f

u

r  Frauen   aufgehoben.   Mit  unglaublicher
Schnelligkeit  kehrte  die  Normalit

u

t  ins  

u

ffentliche  und private  Leben
zur

u

ck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von  dem  Grauen,
das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal
in  den betroffenen  Familien sprach man noch  davon. Es  war, als habe  der
bisch

u

fliche Fluch nicht nur den M

u

rder, sondern auch jede Erinnerung an ihn
verbannt. Und den Menschen war es recht so.
     Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der
ließ  sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem  wurde bange, wenn
es d

u

mmerte,  und  morgens, wenn  er sie gesund und munter vorfand,  war  er
gl

u

cklich - freilich ohne sich den Grund daf

u

r recht eingestehen zu wollen.

     Einen Mann aber gab  es in Grasse, der  traute dem  Frieden  nicht.  Er
hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte
in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
     Richis  war  Witwer und  hatte eine Tochter namens  Laure. Obwohl keine
vierzig  Jahre  alt  und  von  ungebrochner  Vitalit

u

t,  gedachte  er   eine
neuerliche Verehelichung  noch einige Zeit hinauszuschieben.  Erst wollte er
seine Tochter  an den  Mann bringen.  Und zwar  nicht an den  ersten besten,
sondern an  einen von Stande. Es  gab  da  einen  Baron von Bouyon, Besitzer
eines Sohnes und  eines Lehens bei Vence, von guter  Reputation und lausiger
Finanzlage, mit dem  Richis  schon Abmachungen 

u

ber eine k

u

nftige Heirat der
Kinder getroffen hatte. Wenn  Laure  dann  unter der  Haube w

u

re, wollte  er
selbst seine  freierlichen  F

u

hler  in Richtung  der hochangesehenen  H

u

user
Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel  war und auf
Teufel komm  raus ein  adeliges  Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er
eine  Dynastie  gr

u

nden  und  seine Nachkommenschaft  auf ein Geleise setzen
wollte,  welches  zu  h

u

chstem  gesellschaftlichem  Ansehen  und politischem
Einfluss  f

u

hrte. Dazu  brauchte er noch mindestens zwei S

u

hne,  deren einer
sein Gesch

u

ft 

u

bernahm, w

u

hrend der andere via juristische Laufbahn und  das
Parlament in  Aix selbst in den  Adel aufr

u

ckte. Solche Ambitionen konnte er
jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht  auf Erfolg hegen, wenn
er  seine  Person  und  seine Familie  aufs  engste  mit der provenzalischen
Nobilit

u

t verband.
     Was  ihn 

u

berhaupt  zu derartig hochfliegenden  Pl

u

nen berechtigte, war
sein  sagenhafter Reichtum.  Antoine Richis war der mit Abstand verm

u

gendste
B

u

rger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum,
wo er  Orangen,  

u

l,  Weizen und  Hanf anbauen ließ, sondern  auch bei
Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß H

u

user in
Aix, H

u

user auf dem  Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein
st

u

ndiges Kontor in Genua und das gr

u

ßte Handelslager f

u

r  Duftstoffe,
Spezereien, 

u

le und Leder Frankreichs.
     Das Kostbarste jedoch,  was Richis besaß, war seine  Tochter. Sie
war sein einziges  Kind, gerade  sechzehn Jahre  alt, mit dunkelroten Haaren
und gr

u

nen Augen. Sie hatte ein so entz

u

ckendes Gesicht, dass Besucher jeden
Alters und  Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick  nicht mehr von
ihr nehmen konnten,  ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten
sie Eis  mit der  Zunge,  und  dabei  den  f

u

r solch  leckende Besch

u

ftigung
typischen Ausdruck von  d

u

mmlicher  Hingegebenheit annahmen. Selbst  Richis,
wenn  er  die  eigne  Tochter  ansah,  ertappte  sich  dabei,  dass  er  f

u

r
unbestimmte Zeit, f

u

r eine  Viertelstunde, f

u

r eine halbe Stunde vielleicht,
die Welt und damit seine Gesch

u

fte vergaß - was ihm sonst nicht einmal
im Schlaf passierte -, sich  vollkommen aufl

u

ste in des herrlichen  M

u

dchens
Betrachtung und  hinterher  nicht mehr zu sagen  wusste, was  er  eigentlich
getan hatte. Und neuerdings -  er nahm  es mit Unbehagen wahr -, abends beim
Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie
lag noch schlafend, wie von Gottesh

u

nden  hingelegt, und  durch den Schleier
ihres Nachtgewands dr

u

ckten sich die Formen ihrer  H

u

ften  und  ihrer Br

u

ste
ab, und  aus  dem Geviert von Busen,  Achselschwung,  Ellenbogen und glattem
Unterarm, in  das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner
Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die
Kehle  wurde ihm  eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte
sich, dass  er  der  Vater  dieser  Frau war  und  nicht ein Fremder,  nicht
irgendein Mann, vor  dem  sie  so l

u

ge wie jetzt vor ihm, und der  sich ohne
Bedenken an sie, auf sie, in sie legen k

u

nnte mit all seiner Begehrlichkeit.
Und  der Schweiß brach ihm aus, und seine  Glieder zitterten, indes er
diese grauenvolle Lust in sich erw

u

rgte und sich hinabbeugte  zu ihr, um sie
mit keuschem v

u

terlichem Kuss zu wecken.
     Im  vergangenen  Jahr,  zur   Zeit  der  Morde,   waren  solch   fatale
Anfechtungen  noch nicht  

u

ber  ihn gekommen. Der Zauber,  den seine Tochter
damals auf  ihn ausge

u

bt hatte, war - so wollte ihm  wenigstens  scheinen  -
noch ein  kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich
bef

u

rchtet,  dass  Laure  Opfer  jenes M

u

rders  werden k

u

nnte,  der, wie man
wusste,  weder Kinder  noch Frauen, sondern ausschließlich  erwachsene
jungfr

u

uliche  M

u

dchen anfiel. Zwar  hatte  er  die Bewachung seines  Hauses
verst

u

rkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern  versehen lassen
und die  Zofe angewiesen,  ihre Schlafkammer  mit  Laure zu teilen. Aber  es
widerstrebte ihm,  sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren
T

u

chtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten
ver

u

chtlich und unw

u

rdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der,
wie  er  meinte, seinen  Mitb

u

rgern  ein  Vorbild an Gelassenheit,  Mut  und
Unbeugsamkeit  sein  sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich  seine
Entschl

u

sse nicht von anderen  vorschreiben ließ,  nicht von einer  in
Panik geratenen Menge und schon gar nicht  von einem einzelnen anonymen Lump
von  Verbrecher. Und so war er w

u

hrend  der ganzen schrecklichen  Zeit einer
der wenigen in der Stadt  gewesen,  die gegen das  Fieber der  Angst  gefeit
waren und einen k

u

hlen Kopf  behielten. Doch dies, sonderbarerweise, 

u

nderte
sich  nun.  W

u

hrend  n

u

mlich die  Menschen draußen, als h

u

tten sie den
M

u

rder  schon gehenkt,  das Ende seines  Treibens feierten und  die unselige
Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in  das Herz Antoine Richis' die Angst
ein wie ein h

u

ßliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben,
dass es die Angst war, die  ihn bewog, l

u

ngst f

u

llige Reisen hinauszuz

u

gern,
ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzuk

u

rzen, damit er nur
rasch wieder  heimkehren k

u

nne. Er  entschuldigte sich  vor  sich selbst mit
Unp

u

ßlichkeit und  

u

berarbeitung, gestand sich  wohl auch zu,  dass er
ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in
mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon
der  Ruhm ihrer Sch

u

nheit  nach draußen gedrungen?  Reckten sich nicht
schon die H

u

lse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht
schon gewisse  Herren  im Rat Avancen, im eigenen  Namen  oder  in dem ihrer
S

u

hne...?

     Aber dann, eines Tages im M

u

rz,  saß Richis im Salon und sah, wie
Laure hinaus in  den  Garten ging. Sie  trug ein blaues Kleid, 

u

ber das  ihr
rotes  Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so  sch

u

n
gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie.  Und  dann dauerte es vielleicht
nur  zwei Herzschl

u

ge  l

u

nger,  als  er erwartet  hatte,  bevor  sie  wieder
auftauchte  - und er war  zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschl

u

ge
lang gedacht, er habe sie f

u

r immer verloren.
     In der gleichen Nacht wachte  er aus einem entsetzlichen Traum auf,  an
dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern  konnte, der aber mit Laure zu tun
hatte, und er st

u

rzte in ihr Zimmer, 

u

berzeugt, sie sei  tot, l

u

ge gemordet,
gesch

u

ndet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt.
     Er  ging  zur

u

ck in  sein  Gemach,  schweißnass  und  bebend  vor
Aufregung,  nein,  nicht vor Aufregung,  sondern  vor Angst,  jetzt  endlich
gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn  gepackt hatte, und indem
er es  sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich
war,  so hatte  er von  Anfang  an nicht an  die  Wirkung  des bisch

u

flichen
Bannfluchs  geglaubt;  auch nicht  daran, dass der M

u

rder jetzt in  Grenoble
umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt 

u

berhaupt verlassen hatte. Nein,
er lebte  noch  hier,  mitten  unter den  Grassern, und irgendwann  w

u

rde er
wieder  zuschlagen.  Im  August   und  September  hatte  Richis  einige  der
ermordeten M

u

dchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie
er  zugeben musste, fasziniert,  denn  sie  waren  alle, und jede  auf  sehr
spezielle  Weise,  von  ausgesuchter  Sch

u

nheit  gewesen. Niemals  h

u

tte  er
gedacht, dass  es  in Grasse so viel  unerkannte  Sch

u

nheit  gab. Der M

u

rder
hatte  ihm  die  Augen  ge

u

ffnet.  Der  M

u

rder besaß  einen exquisiten
Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf
die  gleiche ordentliche Weise  ausgef

u

hrt waren, auch  die Wahl  der  Opfer
verriet eine beinahe 

u

konomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis  nicht,
was
  der  M

u

rder eigentlich von seinem Opfer  begehrte, denn ihr Bestes: die
Sch

u

nheit und den  Reiz  ihrer  Jugend  konnte  er  ihnen  ja  nicht geraubt
haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der M

u

rder, so absurd das
klingen  mochte, kein destruktiver  Geist  zu sein, sondern  ein  sorgf

u

ltig
sammelnder. Wenn  man sich n

u

mlich  - so  dachte Richis all  die Opfer nicht
mehr  als  einzelne  Individuen, sondern  als  Teile eines  h

u

heren Prinzips
vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen
als  zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen  d

u

chte, dann m

u

sste das aus
solchen  Mosaiksteinen   zusammengesetzte   Bild  das  Bild   der  Sch

u

nheit
schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, w

u

re nicht  mehr von
menschlicher, sondern von  g

u

ttlicher  Art. (Wie wir  sehen, war Richis  ein
aufgekl

u

rt  denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen
nicht  zur

u

ckschreckte,  und  wenn  er  nicht  in  geruchlichen, sondern  in
optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)
     Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der M

u

rder  war solch
ein Sammler von Sch

u

nheit und arbeitete am Bildnis  der  Vollkommenheit, und
sei es auch nur  in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt  ferner,  er
war ein Mann von h

u

chstem  Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der
Tat  zu  sein schien,  dann  konnte  man  nicht annehmen, dass  er  auf  den
kostbarsten  Baustein  zu jenem  Bildnis verzichtete, den  es  auf  Erden zu
finden  gab: auf die Sch

u

nheit  von Laure. Sein  ganzes bisheriges  Mordwerk
w

u

re nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Geb

u

udes.
     Richis,  w

u

hrend er  diese  entsetzliche  Folgerung  zog,  saß im
Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich dar

u

ber, wie ruhig er geworden
war. Er  fr

u

stelte und  zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die  ihn
seit  Wochen  geplagt  hatte,  war  verschwunden  und dem  Bewusstsein einer
konkreten Gefahr gewichen: Des M

u

rders Sinn und Trachten  war  ganz offenbar
auf Laure  gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk f

u

r
diesen letzten kr

u

nenden Mord. Zwar blieb  unklar, welchen materiellen Zweck
die  Morde haben sollten und ob  sie einen  solchen 

u

berhaupt besaßen.
Aber  das  Wesentliche, n

u

mlich des  M

u

rders systematische  Methode und sein
ideelles  Motiv,  hatte  Richis  durchschaut.  Und  je  l

u

nger  er   dar

u

ber
nachdachte,  desto besser gefielen  ihm beide und  desto  gr

u

ßer wurde
seine Hochachtung vor  dem M

u

rder -  eine Hochachtung freilich, die sogleich
wie  aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zur

u

ckstrahlte,  denn immerhin
war er, Richis, es ja gewesen, der mit  seinem  feinen analytischen Verstand
dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
     Wenn  er, Richis,  selbst  ein  M

u

rder w

u

re und von des M

u

rders  selben
leidenschaftlichen Ideen  besessen,  h

u

tte  er auch  nicht  anders  vorgehen
k

u

nnen,  als  jener  bisher  vorgegangen  war, und w

u

rde  wie  dieser  alles
daransetzen,  sein Wahnsinnswerk  durch einen Mord an Laure, der herrlichen,
der einzigartigen, zu kr

u

nen.
     Dieser letzte Gedanke  gefiel ihm ganz besonders gut.  Dass  er in  der
Lage war, sich gedanklich in die Lage  des k

u

nftigen M

u

rders  seiner Tochter
zu  versetzen,  machte ihn dem  M

u

rder n

u

mlich haushoch 

u

berlegen. Denn  der
M

u

rder,  das stand fest, war bei  all seiner Intelligenz gewiss nicht in der
Lage, sich in  Richis' Lage zu  versetzen  -  und sei's nur, weil er  gewiss
nicht ahnen  konnte,  dass Richis  sich l

u

ngst  in seine,  des M

u

rders  Lage
versetzt hatte. Im  Grunde war das nicht anders als im Gesch

u

ftsleben auch -
mutatis mutandis,  versteht sich. Einem Konkurrenten,  dessen Absichten  man
durchschaut hatte, war man 

u

berlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr
aufs Kreuz  legen; nicht,  wenn man  Antoine  Richis  hieß, mit  allen
Wassern  gewaschen war und  eine K

u

mpfernatur besaß. Schließlich
waren  ihm  der gr

u

ßte Duftstoffhandel  Frankreichs, sein Reichtum und
das Amt  des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen,
sondern er hatte sie sich erk

u

mpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren
beizeiten erkannt, die Pl

u

ne der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher
ausgestochen  hatte.  Und  seine  k

u

nftigen  Ziele,  die Macht und Nobilit

u

t
seiner  Nachkommenschaft, w

u

rde er ebenso  erreichen. Und nicht anders w

u

rde
er die  Pl

u

ne jenes  M

u

rders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz
an  Laure - und w

u

re es nur  deshalb, weil  Laure  auch den  Schlussstein im
Geb

u

ude seiner,  Richis', eigenen Pl

u

ne bildete. Er liebte sie, gewiss; aber
er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner h

u

chsten
Ambitionen, das ließ  er  sich  von niemandem entwinden, das hielt  er
fest mit Z

u

hnen und mit Klauen.
     Nun  war ihm  wohler. Nachdem es ihm  gelungen  war, seine  n

u

chtlichen

u

berlegungen betreffs Kampf mit dem D

u

mon auf die Ebene einer gesch

u

ftlichen
Auseinandersetzung herabzudr

u

cken, sp

u

rte er, wie frischer Mut,  ja  

u

bermut
ihn  erfasste. Verflogen war  der  letzte  Rest von Angst, verschwunden  das
Gef

u

hl von  Verzagtheit und  gr

u

mlicher  Sorge,  das ihn  wie  einen senilen
Tattergreis gequ

u

lt hatte, weggeblasen der Nebel von d

u

steren  Ahnungen,  in
dem er seit Wochen herumtappte.  Er befand sich  auf vertrautem Terrain  und
f

u

hlte sich jeder Herausforderung gewachsen.

     Erleichtert, vergn

u

gt fast,  sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband
und  befahl  seinem   schlaftrunken  hereintaumelnden  Diener,  Kleider  und
Proviant zu packen, da  er ged

u

chte, bei  Tagesanbruch  in Begleitung seiner
Tochter  nach Grenoble zu  reisen. Dann zog er  sich  an  und  scheuchte das

u

brige Personal aus den Betten.
     Mitten  in der Nacht erwachte das  Haus in  der Rue  Droite zu  emsigem
Leben. In der  K

u

che  flammten die  Feuer auf,  durch die G

u

nge huschten die
aufgeregten M

u

gde, treppauf treppab eilte der Diener, in  den Kellergew

u

lben
klapperten  die  Schl

u

ssel des Lagerverwalters, im  Hof  leuchteten Fackeln,
Knechte liefen  um Pferde, andere  zerrten die Maultiere aus den St

u

llen, es
wurde gez

u

umt, gesattelt, gerannt  und geladen - man  h

u

tte  glauben k

u

nnen,
die austrosardischen Horden seien pl

u

ndernd und sengend im Anmarsch wie anno
1746 und der Hausherr  r

u

ste in panischer Eile zur Flucht. Doch  keineswegs!
Der  Hausherr  saß  souver

u

n  wie  ein  Marschall  von  Frankreich  am
Schreibtisch  seines  Kontors,  trank  Milchkaffee  und  erließ  seine
Anweisungen an die st

u

ndig hereinst

u

rzenden  Domestiken. Nebenher schrieb er
Briefe  an den B

u

rgermeister und Ersten Konsul,  an seinen Notar,  an seinen
Anwalt,  an seinen Bankier  in Marseille,  an  den  Baron de  Bouyon und  an
diverse Gesch

u

ftspartner.
     Gegen sechs  Uhr  fr

u

h hatte  er die Korrespondenz erledigt und alle zu
seinen  Pl

u

nen notwendigen  Verf

u

gungen  getroffen.  Er steckte zwei  kleine
Reisepistolen zu sich, schnallte  sich seinen Geldg

u

rtel um und sperrte  den
Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
     Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran,
er war pr

u

chtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer
Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter,
bescheidener gekleidet,  aber  so  strahlend  sch

u

n, dass  das Volk  auf der
Straße  und  an den Fenstern nur Augen  f

u

r sie hatte, dass and

u

chtige
Ahs und Ohs  durch die  Menge  gingen  und  die  M

u

nner  ihren  Hut  zogen -
scheinbar vor dem zweiten Konsul, in  Wahrheit aber vor ihr, der k

u

niglichen
Frau. Dann kam,  fast unbeachtet,  die  Zofe, dann  Richis' Diener mit  zwei
Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot  sich wegen des  ber

u

chtigt
schlechten  Zustands  der Grenobler Route -,  und  den  Abschluss des  Zuges
bildeten  ein Dutzend mit  allen  m

u

glichen  Waren beladene  Maultiere unter
Aufsicht zweier Knechte. An der  Porte du Cours pr

u

sentierten die Wachen das
Gewehr und ließen  es erst  wieder  sinken,  als das  letzte  Maultier
vor

u

bergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine  ganze  Weile lang,
winkten dem Tross  nach,  der sich  langsam auf dem steilen, gewundenen  Weg
bergw

u

rts entfernte.
     Auf  die  Menschen  machte der  Auszug des Antoine  Richis  mit  seiner
Tochter  einen seltsam  tiefen  Eindruck.  Ihnen war, als h

u

tten  sie  einem
archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis
nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das  m

u

dchenmordende
Monster  hauste. Die Leute wussten nicht,  was sie davon halten sollten. War
es str

u

flicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es
eine Herausforderung  oder eine Bes

u

nftigung der G

u

tter? Sie ahnten nur sehr
undeutlich,  dass  sie das  sch

u

ne M

u

dchen mit  den roten Haaren soeben  zum
letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
     Diese Ahnung sollte sich  als  richtig erweisen, obwohl sie auf  v

u

llig
falschen  Voraussetzungen   beruhte.  Richis  zog  n

u

mlich  keineswegs  nach
Grenoble. Der pomp

u

se Auszug  war nichts als  eine Finte gewesen. Anderthalb
Meilen  nordwestlich  von Grasse,  in der  N

u

he  des  Dorfes  Saint-Vallier,
ließ   er  anhalten.   Er  h

u

ndigte  seinem  Diener   Vollmachten  und
Begleitschreiben aus  und befahl  ihm,  den  Maultiertreck  allein  mit  den
Knechten nach Grenoble zu bringen.
     Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe  in Richtung Cabris, wo er
eine  Mittagspause  einlegte,  und ritt  dann  quer durch  das  Gebirge  des
Tanneron  nach  S

u

den.  Der  Weg  war 

u

ußerst  beschwerlich,  aber  er
gestattete  es,  Grasse  und das Grasser  Becken  in einem weiten westlichen
Bogen zu umgehen und  bis  zum Abend unerkannt die K

u

ste zu erreichen...  Am
folgenden  Tag  -  so  Richis'  Plan  - wollte er  sich  mit Laure nach  den
Lerinischen  Inseln  

u

bersetzen  lassen,  auf  deren   kleinerer   sich  das
wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat  befand.  Es  wurde von einem  H

u

uflein
greiser,  aber  noch  durchaus wehrf

u

higer M

u

nche bewirtschaftet, mit  denen
Richis  gut  bekannt war, denn  er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die
gesamte   kl

u

sterliche  Produktion  an  Eukalyptuslik

u

r,  Pinienkernen   und
Zypressen

u

l.  Und  eben  dort,  im  Kloster  Saint-Honorat,  dem  neben  dem
Zuchthaus    von   Chateau   d'If    und   dem   Staatsgef

u

ngnis   der   Ile
Sainte-Mar-guerite  wohl  sichersten Ort  der  Provence,  gedachte  er seine
Tochter f

u

rs erste unterzubringen. Er  selbst w

u

rde unverz

u

glich wieder aufs
Festland  zur

u

ckkehren,  Grasse  diesmal  via  Antibes  und  Cagnes  

u

stlich
umgehen, um noch  am Abend  desselben  Tages in Vence  einzutreffen. Dorthin
hatte  er  bereits  seinen   Notar  bestellt  zwecks  einer   zu  treffenden
Vereinbarung mit dem Baron  de Bouyon  

u

ber  die Verehelichung  ihrer Kinder
Laure und  Alphonse. Er wollte Bouyon ein  Angebot machen, das  dieser nicht
w

u

rde ablehnen k

u

nnen: 

u

bernahme  von  Schulden  in  H

u

he  von  40000 Livre,
Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher H

u

he sowie diversen L

u

ndereien
und einer 

u

lm

u

hle bei Maganosc, eine j

u

hrliche Rente von 3000  Livre f

u

r das
junge Paar.  Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von  zehn
Tagen eingegangen und  am  Hochzeitstag vollzogen w

u

rde,  und  dass das Paar
anschließend Wohnung in Vence nahm.
     Richis wusste,  dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis f

u

r die
Verbindung   seines   Hauses   mit   dem   Haus   derer  von   Bouyon   ganz
unverh

u

ltnism

u

ßig in die H

u

he  trieb. Bei l

u

ngerem Zuwarten  h

u

tte  er
sie  billiger bekommen.  Gebettelt  h

u

tte  der Baron darum, die Tochter  des
b

u

rgerlichen Großh

u

ndlers durch seinen Sohn standesm

u

ßig erh

u

hen
zu  d

u

rfen, denn der Ruhm von Laures Sch

u

nheit w

u

rde ja noch wachsen, ebenso
wie Richis'  Reichtum  und wie  Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum!
Nicht der Baron war bei diesem  Handel der  Gegner, sondern  der  unbekannte
M

u

rder war  es. Ihm galt  es das  Gesch

u

ft  zu versalzen. Eine  verheiratete
Frau,  defloriert  und wom

u

glich  schon  geschw

u

ngert, passte  nicht mehr in
seine exklusive  Galerie. Der letzte Mosaikstein w

u

re  blind geworden, Laure
h

u

tte f

u

r den  M

u

rder jeden  Wert verloren,  sein Werk w

u

re gescheitert. Und
diese Niederlage sollte er zu sp

u

ren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in
Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller 

u

ffentlichkeit. Und wenn
er seinen Gegner  auch nicht kannte und niemals kennen  w

u

rde, so  sollte es
ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass  dieser dem Ereignis beiwohnte und
mit  eignen  Augen  zusehen  musste,  wie ihm  das  Begehrteste vor der Nase
weggeschnappt wurde.
     Der Plan  war  fein ausgedacht.  Und wieder  m

u

ssen wir Richis'  Gesp

u

r
bewundern, mit  dem er  der  Wahrheit nahekam. Denn  in  der  Tat h

u

tte  die
Heimf

u

hrung  der Laure  Richis durch  den Sohn des Baron  de Bouyon f

u

r  den
Grasser  M

u

dchenm

u

rder eine vernichtende Niederlage  bedeutet. Aber noch war
der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die
rettende  Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von
Saint-Honorat  

u

bergesetzt.  Noch  schlugen sich die  drei Reiter durch  das
unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so  schlecht, dass
man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend
hofften sie  das Meer bei Napoule zu erreichen, einem  kleinen Ort  westlich
von Cannes.

     Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ,
befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt  im Arnulfischen Atelier und
mazerierte Jonquillen. Er  war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in
Grasse  neigte  sich  dem  Ende  zu.  Der  Tag des  Triumphes  stand  bevor.
Draußen  in  der  Kabane  lagen  in  einem wattegepolsterten  K

u

stchen
vierundzwanzig winzige Flakons  mit  der  zu  Tropfen  geronnenen  Aura  von
vierundzwanzig   Jungfrauen  -   kostbarste  Essenzen,  die  Grenouille   im
vergangenen  Jahr  durch  kalte  Fettenfleurage  der K

u

rper,  Digerieren von
Haaren  und  Kleidern,  Lavage  und  Destillation gewonnen  hatte.  Und  die
f

u

nfundzwanzigste, die  k

u

stlichste  und wichtigste,  wollte  er  sich heute
holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch
von feinstem Leinen und einen  Ballon hochrektifizierten Alkohols f

u

r diesen
letzten Fischzug vorbereitet.  Das Terrain war aufs genaueste  sondiert.  Es
herrschte Neumond.
     Er wusste, dass  ein Einbruchsversuch in das gut  gesicherte Anwesen an
der Rue  Droite sinnlos  war. Deshalb wollte  er sich schon  bei Anbruch der
D

u

mmerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz
der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung  von
Mensch und Tier  entzog, in  irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sp

u

ter
dann, wenn  alles  schlief,  w

u

rde  er,  vom Kompass  seiner  Nase durch die
Dunkelheit gef

u

hrt,  zur Kammer seines  Schatzes hinaufsteigen. Er w

u

rde ihn
an  Ort und Stelle  im fettgetr

u

nkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider
w

u

rde  er wie gew

u

hnlich  mitnehmen,  da  diese  Teile  direkt in  Weingeist
ausgewaschen  werden konnten,  was  sich bequemer  in  der Werkstatt  machen
ließ.  F

u

r  die  Endverarbeitung  der Pomade und das Abdestillieren zu
Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und
er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen  w

u

rde -, dann
war  er  

u

bermorgen im Besitz  s

u

mtlicher Essenzen f

u

r  das beste Parfum der
Welt, und er w

u

rde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
     Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er l

u

schte das Feuer,
deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzuk

u

hlen. Der
Wind kam von Westen.
     Schon  mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte.  Die
Atmosph

u

re  war  nicht   in  Ordnung.  Im   Duftkleid   der   Stadt,  diesem
vieltausendf

u

dig gewebten Schleier,  fehlte der goldene  Faden.  W

u

hrend der
letzten  Wochen  war  dieser  duftende  Faden  so  kr

u

ftig   geworden,  dass
Grenouille  ihn  sogar noch  jenseits  der  Stadt bei seiner Kabane deutlich
wahrgenommen  hatte.  Jetzt  war  er  weg, verschwunden, durch  intensivstes
Schnuppern nicht mehr aufzusp

u

ren. Grenouille war wie gel

u

hmt vor Schreck.
     Sie  ist tot, dachte  er.  Dann, noch  entsetzlicher:  Es  ist mir  ein
anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine  Blume abgerupft und ihren Duft
an sich  gebracht!  Einen Schrei brachte er  nicht heraus,  dazu  war  seine
Ersch

u

tterung  zu  groß,  aber  zu  Tr

u

nen reichte es,  die in  seinen
Augenwinkeln schwollen und pl

u

tzlich beiderseits der Nase herabst

u

rzten.
     Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause
und  erz

u

hlte en  passant, heute  fr

u

h  sei  der  Zweite  Konsul  mit  zw

u

lf
Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die
Tr

u

nen  hinunter und rannte  davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours.
Auf dem Platz vor  dem Tor hielt er an  und schnupperte. Und  im reinen, von
den  Stadtger

u

chen unber

u

hrten Westwind  fand er tats

u

chlich seinen goldenen
Faden wieder,  d

u

nn und schwach zwar, aber  dennoch unverkennbar. Allerdings
wehte der  geliebte Duft nicht von Nordwesten  her,  wohin die  Straße
nach Grenoble f

u

hrte, sondern eher  aus Richtung Cabris  -  wo nicht gar aus
S

u

dwesten.
     Grenouille  fragte  die  Wache, welche  Straße  der Zweite Konsul
genommen habe.  Der Posten  wies nach  Norden.  Nicht die Straße  nach
Cabris? Oder die andere, die  s

u

dlich nach Auribeau und La Napoule f

u

hrte? -
Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
     Grenouille rannte  zur

u

ck  durch  die  Stadt zu  seiner Kabane,  packte
Leintuch, Pomadentopf, Spatel,  Schere und  eine  kleine  glatte  Keule  aus
Olivenholz in seinen Reisesack und  machte sich unverz

u

glich  auf den Weg  -
nicht auf den  Weg  nach Grenoble, sondern  auf den Weg, den ihm  seine Nase
wies: nach S

u

den.
     Dieser Weg,  der direkte Weg nach Napoule, f

u

hrte an den Ausl

u

ufern des
Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem
zu  gehen.  Grenouille  kam  rasch voran.  Als zu  seiner  Rechten  Auribeau
auftauchte, oben an den Bergkuppen h

u

ngend, roch er, dass er die Fl

u

chtenden
fast eingeholt  hatte. Wenig sp

u

ter war er  auf gleicher  H

u

he mit ihnen. Er
roch sie jetzt einzeln, er  roch  sogar den Dunst ihrer Pferde.  Sie konnten
h

u

chstens eine  halbe  Meile  westlich sein, irgendwo  in  den  W

u

ldern  des
Tanneron. Sie hielten nach S

u

den, aufs Meer zu. Genau wie er.
     Gegen  f

u

nf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er  ging in
das   Gasthaus,  aß  und  bat  um  ein  billiges  Lager.  Er  sei  ein
Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg  nach Marseille . Er k

u

nne im
Stall n

u

chtigen, hieß  es. Dort legte er sich  in  eine Ecke und ruhte
aus. Er roch, dass die drei  Reiter  sich n

u

herten.  Er brauchte nur noch zu
warten.
     Zwei Stunden  sp

u

ter  - es  d

u

mmerte schon stark kamen sie  an. Um  ihr
Inkognito  zu wahren,  hatten sie die Kleider gewechselt.  Die beiden Frauen
trugen nun dunkle Gew

u

nder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab
sich  als Edelmann  aus, kommend von Castellane;  morgen  wolle  er  auf die
Lerinischen Inseln 

u

bersetzen,  der Wirt solle f

u

r  ein Boot sorgen, das bei
Sonnenaufgang bereitst

u

nde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere
G

u

ste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt,  nur ein Gerbergeselle aus Nizza,
der n

u

chtige im Stall.
     Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall,
um noch etwas aus den  Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zun

u

chst konnte
er  den Gerbergesellen  nicht finden,  er musste  sich vom  Rossknecht  eine
Laterne geben lassen. Dann sah  er  ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer
alten  Decke  liegend,  den  Kopf  gegen  seinen  Reisesack  gelehnt,   tief
schlafend.  Er sah so  vollkommen  unscheinbar  aus, dass  Richis f

u

r  einen
Moment den Eindruck hatte,  er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von
den   schwankenden  Schatten   der  Laternenkerze   hingeworfene   Schim

u

re.
Jedenfalls stand f

u

r Richis augenblicklich  fest, dass  von  diesem geradezu
r

u

hrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu bef

u

rchten war, und er
entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht  zu st

u

ren, und kehrte ins Haus
zur

u

ck.
     Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein.
Er  hatte sie 

u

ber  Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgekl

u

rt, und
er tat  es auch jetzt nicht, obwohl  sie ihn darum bat. Morgen werde  er sie
einweihen, sagte er, und sie k

u

nne sich darauf verlassen, dass alles, was er
plane und tue, zu ihrem Besten und zuk

u

nftigen Gl

u

ck ausschlagen werde.
     Nach  dem  Essen  spielten  sie  einige Partien L'hombre,  die er  alle
verlor, weil  er statt in seine Karten immerfort in ihr  Gesicht schaute, um
sich an ihrer Sch

u

nheit  zu erg

u

tzen. Gegen neun  Uhr brachte  er sie in ihr
Zimmer, das dem seinen gegen

u

berlag, k

u

sste sie zur Nacht und versperrte die
T

u

re von außen. Dann ging er selbst zu Bett.
     Er war mit einem Mal sehr m

u

de  von den Anstrengungen des Tages und der
vergangenen Nacht  und zugleich sehr  zufrieden  mit  sich und  dem Gang der
Dinge.  Ohne den geringsten Gedanken  der Sorge, ohne  d

u

stere Ahnungen, wie
sie ihn noch bis gestern  jedesmal nach  dem  L

u

schen der  Lampe gequ

u

lt und
wach gehalten hatten, schlief  er sofort  ein, und schlief ohne  Traum, ohne
Gest

u

hn,  ohne  krampfhaftes  Zucken oder  nerv

u

ses  Um-  und  Umw

u

lzen  des
K

u

rpers. Zum ersten Mal seit  langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen,
erquickenden Schlaf.
     Um die  gleiche Zeit  erhob sich Grenouille von seinem Lager im  Stall.
Auch  er  war  zufrieden  mit  sich und dem Gang der Dinge und  f

u

hlte  sich

u

ußerst erfrischt,  obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als
Richis  in  den  Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen,  hatte er sich  nur
schlafend gestellt,  um  den Eindruck von  Harmlosigkeit, den er an  und f

u

r
sich  schon   wegen   seines   Unauff

u

lligkeitsgeruchs   ausstrahlte,   noch
augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte 

u

brigens er Richis

u

ußerst   pr

u

zise  wahrgenommen,  olfaktorisch  n

u

mlich,  und  Richis'
Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen.
     Und so  hatten sich beide  bei  ihrer kurzen  Begegnung gegenseitig von
ihrer Arglosigkeit 

u

berzeugt,  zu Unrecht und zu Recht, und  das war gut so,
wie  Grenouille   fand,  denn   seine  scheinbare  und   Richis'   wirkliche
Arglosigkeit erleichterten  ihm, Grenouille, das  Gesch

u

ft - eine Anschauung

u

brigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt h

u

tte.

     Mit professioneller Bed

u

chtigkeit ging Grenouille  ans Werk. Er 

u

ffnete
den  Reisesack, entnahm  ihm Leintuch, Pomade und Spatel,  breitete das Tuch

u

ber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu
bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf
an, das  Fett hier  in dickerer, dort  in  d

u

nnerer Schicht  aufzutragen, je
nachdem, an welche  Stelle des K

u

rpers  die  jeweilige  Partie des Tuches zu
liegen  k

u

me.  Mund  und  Achsel,  Brust, Geschlecht  und  F

u

ße  gaben
gr

u

ßere Duftmengen  ab als  etwa  Schienbeine,  R

u

cken  und  Ellbogen;
Handfl

u

chen  gr

u

ßere  als  Handr

u

cken; Brauen gr

u

ßere  als Lider
etc.  -  und mussten  dementsprechend kr

u

ftiger mit  Fett  versehen  werden.
Grenouille modellierte  also gleichsam ein  Duftdiagramm des zu behandelnden
K

u

rpers  auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der
befriedigendste, denn es handelte sich um  eine k

u

nstlerische  Technik,  die
Sinne,  Phantasie und  H

u

nde  gleichermaßen besch

u

ftigte und obendrein
den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
     Als er das ganze T

u

pfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte  er noch da
und dort, nahm an einer Stelle des Tuches  Fett  ab, f

u

gte an  einer anderen
zu, retuschierte, 

u

berpr

u

fte  noch  einmal die modellierte  Fettlandschaft -
mit der Nase 

u

brigens, nicht mit den Augen, denn  das ganze Gesch

u

ft spielte
sich in vollkommener Finsternis ab,  was  vielleicht ein  weiterer Grund f

u

r
Grenouilles  ausgeglichen  freudige  Stimmung  war. In  dieser  Neumondnacht
lenkte ihn nichts ab.  Die  Welt  war nichts als  nur  Geruch und  ein wenig
Brandungsger

u

usch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das
Tuch   zusammen  wie  eine   Tapete,   so  dass   die   befetteten   Fl

u

chen
aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste
wohl, dass sich selbst  bei  aller Vorsicht Teile der ausgeformten  Konturen
dadurch  abplatteten und  verschoben. Aber es  gab keine andere M

u

glichkeit,
das Tuch zu transportieren. Nachdem er  es soweit gefaltet hatte, dass er es
ohne  allzugroße Behinderung 

u

ber den Unterarm  gelegt tragen  konnte,
steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich
hinaus ins Freie.
     Der  Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein  Licht mehr. Der  einzige
Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des
Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, 

u

ber eine  Meile entfernt, ein winziger
heller Nadelstich  in rabenschwarzem Tuch. Aus  der Bucht kam  ein  leichter
fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
     Grenouille  ging  zur  

u

ußeren Tennenluke,  an  die  eine  Leiter
gelehnt  stand. Er  hob die  Leiter ab und  balancierte  sie aufrecht,  drei
Sprossen  unter  den freien rechten Arm  geklemmt,  den 

u

berstand gegen  die
rechte Schulter  gepresst, 

u

ber den Hof  bis unter  ihr Fenster. Das Fenster
stand halb offen.  Als  er  die  Leiter  hinaufstieg, bequem wie  auf  einer
Treppe, begl

u

ckw

u

nschte er sich zu dem Umstand, den Duft des  M

u

dchens  hier
in Napoule ernten zu d

u

rfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng
bewachtem Haus, w

u

re alles sehr viel  schwieriger gewesen.  Hier schlief sie
sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
     Er dr

u

ckte den Fensterfl

u

gel auf, schl

u

pfte in die Kammer und legte das
Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte,
denn  sie lag  auf  dem Bauch,  und  sie hatte  das Gesicht,  vom  Armwinkel
umrahmt,  ins  Kissen  gedr

u

ckt,  so dass sich  ihr  Hinterkopf  in geradezu
idealer Weise dem Keulenschlag pr

u

sentierte.
     Das  Ger

u

usch  des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es.  Er
hasste es allein  deshalb, weil  es ein Ger

u

usch war, ein Ger

u

usch in seinem
ansonsten lautlosen Gesch

u

ft.  Nur mit  zusammengebissenen Z

u

hnen  konnte er
dieses ekelhafte Ger

u

usch ertragen,  und nachdem  es  vor

u

ber war, stand  er
noch  eine  Weile  lang  steif  und  verbissen  da,  die  Hand um die  Keule
gekrampft,   als  f

u

rchte   er,   das   Ger

u

usch  k

u

nne   zur

u

ckkehren   als
widerhallendes Echo  von irgendwoher.  Es kehrte aber nicht  zur

u

ck, sondern
die Stille kehrte zur

u

ck in die Kammer,  eine vermehrte Stille sogar, da nun
nicht einmal mehr der schl

u

rfende Atem des M

u

dchens  ging. Und alsbald l

u

ste
sich  Grenouilles verspannte Haltung  (die  man  vielleicht  auch  als  eine
Ehrfurchtshaltung  oder  eine Art verkrampfter  Schweigeminute h

u

tte  deuten
k

u

nnen), und sein K

u

rper sank geschmeidig in sich zusammen.
     Er  steckte  die  Keule  weg  und   war  nun  nur  noch   von   emsiger
Betriebsamkeit   erf

u

llt.   Als  erstes   faltete   er   das  Beduftungstuch
auseinander, breitete es locker mit der R

u

ckseite  

u

ber Tisch und St

u

hle und
achtete  darauf, dass  die Fettseite  unber

u

hrt  blieb.  Dann schlug er  die
Bettdecke zur

u

ck. Der herrliche  Duft des M

u

dchens,  der pl

u

tzlich warm  und
massiv aufquoll, ber

u

hrte ihn  nicht. Er kannte  ihn ja, und genießen,
genießen  bis  zum  Rausch, w

u

rde  er  ihn  sp

u

ter,  wenn  er ihn erst
wirklich besaß. Jetzt ging es darum, m

u

glichst viel davon einzufangen,
m

u

glichst  wenig verstr

u

men  zu  lassen, jetzt waren Konzentration und  Eile
geboten.
     Mit raschen Scherenschnitten schlitzte  er das Nachtgewand  auf, zog es
ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf  es 

u

ber ihren nackten K

u

rper.
Dann hob er sie hoch, strich ihr das 

u

berh

u

ngende Tuch unter, rollte sie ein
wie ein B

u

cker den Strudel, falzte die Enden, umh

u

llte sie von den Zehen bis
an  die Stirn.  Nur ihr  Haar schaute noch aus dem Mumienverband  hervor. Er
schnitt es dicht 

u

ber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu
einem B

u

ndel  verknotete. Zuletzt klappte er  ein freigelassenes St

u

ck  Tuch

u

ber den geschorenen Sch

u

del, strich das 

u

berlappende Ende  glatt, tupfte es
mit zartem Fingerdruck fest.  Er 

u

berpr

u

fte  das ganze Paket. Kein  Schlitz,
kein L

u

chlein, kein  aufgekniffenes  F

u

ltlein klaffte mehr, an dem der  Duft
des  M

u

dchens h

u

tte  entweichen  k

u

nnen. Sie war  perfektverpackt.  Es blieb
nichts mehr  zu  tun, als  zu  warten,  sechs Stunden lang, bis  der  Morgen
graute.
     Er nahm den  kleinen  Sessel, auf dem  ihre Kleider lagen, trug ihn ans
Bett und setzte  sich. In  dem weiten schwarzen  Gewand hing  noch der zarte
Hauch ihres Duftes, vermischt mit  dem Geruch von Anispl

u

tzchen, die sie als
Reiseproviant in die  Tasche  gesteckt hatte. Er legte  seine F

u

ße auf
den Bettrand, in die N

u

he  ihrer F

u

ße, deckte sich mit  ihrem Kleid zu
und aß die Anispl

u

tzchen. Er war  m

u

de. Aber er wollte nicht schlafen,
denn es geh

u

rte sich nicht, dass man  w

u

hrend der Arbeit schlief,  auch wenn
die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich  an die N

u

chte,  die er
in  der  Werkstatt  Baldinis  beim  Destillieren  verbracht  hatte:  an  den
rußgeschw

u

rzten  Alambic,  an  das  flackernde  Feuer,  an  das  leise
spuckende  Ger

u

usch,  mit  dem   das  Destillat  aus  dem  K

u

hlrohr  in  die
Florentinerflasche  tr

u

pfelte.  Von Zeit  zu  Zeit hatte  man nach dem Feuer
sehen  m

u

ssen,  hatte Destillierwasser  nachf

u

llen,  die  Florentinerflasche
wechseln, das  ersch

u

pfte Destilliergut ersetzen m

u

ssen. Und dennoch war ihm
immer  gewesen, als  wache  man nicht,  um  diese  gelegentlich  anfallenden
T

u

tigkeiten  zu verrichten,  sondern als habe die Wache ihren  eigenen Sinn.
Selbst  hier  in dieser Kammer, wo sich der Prozess der  Enfleurage ganz von
allein  vollzog,  ja, wo sogar ein unzeitiges  Pr

u

fen, Wenden und  Betun des
duftenden  Pakets nur  st

u

rend  h

u

tte wirken k

u

nnen selbst  hier, so  schien
Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf h

u

tte den Geist
des Gelingens gef

u

hrdet.
     Es fiel ihm im 

u

brigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz
seiner  M

u

digkeit.  
Dieses
  Warten  liebte er.  Auch  bei den vierundzwanzig
anderen M

u

dchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten
und  auch  kein  sehns

u

chtiges   Herbeiwarten,   sondern  ein  begleitendes,
sinnvolles,  gewissermaßen ein  t

u

tiges  Warten.  Es  tat  sich  etwas
w

u

hrend dieses Wartens. Das  Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht
selbst tat, so  tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er
hatte  all   seine  Kunstfertigkeit  aufgebracht.   Kein   Fehler   war  ihm
unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es w

u

rde  von  Erfolg gekr

u

nt sein...
Nur noch  ein  paar Stunden warten musste er. Es befriedigte  ihn  zutiefst,
dieses Warten. Er  hatte sich in seinem Leben nie so wohl gef

u

hlt, so ruhig,
so ausgeglichen, so eins und  einig  mit  sich selbst - auch damals nicht in
seinem  Berg  - wie  in diesen  Stunden der  handwerklichen Pause, da  er in
tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die
einzigen Momente, da sich in  seinem  d

u

steren Hirn  fast  heitere  Gedanken
bildeten.
     Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in  die Zukunft. Er dachte
nicht  an den  Duft, den er in  ein paar Stunden ernten w

u

rde, nicht an  das
Parfum aus f

u

nfundzwanzig M

u

dchenauren, nicht an  k

u

nftige Pl

u

ne,  Gl

u

ck und
Erfolg. Nein,  er gedachte  seiner Vergangenheit.  Er erinnerte sich  an die
Stationen seines Lebens vom Hause der Madame  Gaillard und  dem feuchtwarmen
Holzstoß  davor  bis zu  seiner  heutigen Reise in das  kleine fischig
riechende Dorf Napoule.  Er  gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis,
des Marquis de la  Taillade-Espinasse. Er  gedachte der  Stadt Paris,  ihres
großen   tausendfach  schillernden  

u

blen  Brodems,  er  gedachte  des
rothaarigen  M

u

dchens in der Rue des Marais,  des freien  Landes, des d

u

nnen
Winds,  der W

u

lder. Er gedachte auch des Bergs  in der Auvergne -  er umging
diese Erinnerung keineswegs  -, seiner  H

u

hle,  der  menschenleeren Luft. Er
gedachte  auch  seiner  Tr

u

ume.  Und  er  gedachte  all  dieser  Dinge   mit
großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er  so zur

u

ckdachte, dass
er ein vom Gl

u

ck besonders beg

u

nstigter Mensch sei  und  dass sein Schicksal
ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gef

u

hrt habe
- wie w

u

re es sonst m

u

glich gewesen, dass er hierhergefunden h

u

tte, in diese
dunkle Kammer,  ans  Ziel  seiner  W

u

nsche?  Er  war,  wenn  er sich's recht

u

berlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
     R

u

hrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte
er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass  du so bist, wie du
bist!" So ergriffen war er von sich selbst.
     Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz
dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erf

u

llte sein Herz.
Aber es schien ihm, als herrsche  er auch  ringsum. Er roch den  friedlichen
Schlaf der  Zofe  im  Nebenzimmer,  den tiefbefriedigten  Schlaf des Antoine
Richis jenseits  des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und
der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall,  des ganzen Orts und des Meeres.
Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts st

u

rte den Frieden.
     Einmal  bog er seinen  Fuß zur Seite und ber

u

hrte  ganz sacht den
Fuß von Laure. Nicht ihren  Fuß eigentlich, sondern  gerade eben
das Tuch,  das ihn  umh

u

llte, mit der d

u

nnen Schicht Fett darunter, die sich
mit ihrem Duft tr

u

nkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.

     Als die V

u

gel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch
der Morgend

u

mmerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er  schlug
das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab.  Das Fett
sch

u

lte  sich gut von  der  Haut.  Nur  an  den verwinkelten Stellen blieben
einige Reste h

u

ngen, die er mit dem  Spatel abstreichen musste. Die  

u

brigen
Pomadeschlieren wischte er  mit  Laures eigenem  Unterhemd  auf,  mit dem er
zuletzt  auch  noch  den  K

u

rper  von  Kopf  bis  Fuß  abrubbelte,  so
gr

u

ndlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Kr

u

meln von der Haut rieb,
und mit  ihm die letzten  Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst
war sie f

u

r ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Bl

u

tenabfall.
     Er warf  das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein
sie  weiterlebte, legte das  Nachtgewand  mit  ihren Haaren dazu und  rollte
alles zu  einem kleinen festen  Paket zusammen,  das er  sich unter den  Arm
klemmte.  Er nahm sich  nicht die  M

u

he, die Leiche auf dem Bett zuzudecken.
Und obwohl  die Nachtschw

u

rze sich schon ins Blaugraue  der  Morgend

u

mmerung
verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er
keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem
Leben mit Augen zu sehen. Ihre  Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war f

u

r
ihn als K

u

rper gar nicht mehr vorhanden,  nur noch als k

u

rperloser Duft. Und
diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.
     Leise schwang  er sich auf  die  Br

u

stung  des  Fensters und stieg  die
Leiter  hinab. Draußen  war  wieder Wind aufgekommen,  und  der Himmel
klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht 

u

ber das Land.
     Eine halbe Stunde sp

u

ter  schlug  die Magd  in der K

u

che Feuer. Als sie
vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber
noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs
ging die  Sonne  auf.  Riesig und goldrot hob  sie sich zwischen den  beiden
Lerinischen  Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender
Fr

u

hlingstag begann.
     Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum
ersten  Mal  seit  Monaten wirklich pr

u

chtig geschlafen  und  blieb entgegen
seiner  Gewohnheit  noch eine  Viertelstunde lang  liegen, r

u

kelte sich  und
seufzte vor Vergn

u

gen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der K

u

che
heraufdrang.  Als  er  dann  aufstand  und  das  Fenster  weit  

u

ffnete  und
draußen das sch

u

ne Wetter gewahrte und die  frische w

u

rzige Morgenluft
einsog und die Brandung des Meeres h

u

rte,  da kannte  seine gute Laune keine
Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.
     W

u

hrend  er  sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als
er sein Zimmer verließ  und  mit beschwingtem Schritt 

u

ber den Gang an
die Kammert

u

re seiner Tochter  trat.  Er pochte.  Und  pochte  wieder,  ganz
leise, um  sie  nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort.  Er l

u

chelte. Er
verstand gut, dass sie noch schlief.
     Vorsichtig schob er  den  Schl

u

ssel ins  Loch und  drehte  den  Riegel,
leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie  noch im
Schlaf  vorzufinden,  aus dem  er  sie  wachk

u

ssen  wollte, noch einmal, zum
letzten Mal, ehe er sie einem 

u

ndern Mann geben musste.
     Die T

u

re sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins
Gesicht.  Die  Kammer war wie von  gleißendem  Silber  gef

u

llt,  alles
strahlte,  und   er  musste  vor   Schmerz   f

u

r  einen  Moment   die  Augen
schließen.
     Als er  sie wieder 

u

ffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und
tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den
er vorvergangene  Nacht in  Grasse  gehabt und  wieder  vergessen hatte, und
dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Ged

u

chtnisuhr. Alles war mit
einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.

     Die  Nachricht vom Mord an Laure  Richis verbreitete sich so schnell im
Grasser Land, als h

u

tte es geheißen "Der K

u

nig ist tot!" oder "Es gibt
Krieg!"  oder  "Die Piraten  sind  an der K

u

ste gelandet!",  und  

u

hnlichen,
schlimmeren  Schrecken l

u

ste sie  aus.  Mit  einem  Mal  war die  sorgf

u

ltig
vergessene Angst  wieder  da,  virulent wie im  vergangenen Herbst, mit  all
ihren  Begleiterscheinungen:   der   Panik,  der  Emp

u

rung,  der   Wut,  den
hysterischen Verd

u

chtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben  nachts
in  den  H

u

usern,   sperrten  ihre  T

u

chter  ein,   verbarrikadierten  sich,
misstrauten einander und  schliefen nicht mehr.  Jedermann dachte, es  werde
nun weitergehen wie damals,  jede Woche  ein Mord.  Die Zeit schien  um  ein
halbes Jahr zur

u

ckgesetzt.
     L

u

hmender  noch  als vor  einem  halben Jahr war die  Angst,  denn  die
pl

u

tzliche R

u

ckkunft der l

u

ngst 

u

berwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein
Gef

u

hl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des  Bischofs Fluch
versagte! Wenn Antoine  Richis, der große Richis, der  reichste B

u

rger
der  Stadt,  der  Zweite  Konsul, ein m

u

chtiger, besonnener  Mann,  dem alle
Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht sch

u

tzen konnte! Wenn
des  M

u

rders  Hand  nicht   einmal  vor   der   heiligen  Sch

u

nheit   Laures
zur

u

ckschreckte - denn in der Tat wie  eine Heilige  erschien sie allen, die
sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab  es
da noch f

u

r Hoffnung, dem M

u

rder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest,
denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem  M

u

rder aber nicht, wie das
Beispiel Richis'  bewies. Er  besaß offenbar 

u

berirdische F

u

higkeiten.
Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel
war. Und so wussten sich viele, vor  allem die einf

u

ltigeren Gem

u

ter, keinen
anderen Rat, als in die Kirche  zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand
zu  seinem  Patron,  die Schlosser  zum  Heiligen  Aloysius, die  Weber  zum
Heiligen Krispinius, die  G

u

rtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure  zum
Heiligen  Josephus. Und  sie  nahmen ihre Frauen und  T

u

chter  mit,  beteten
gemeinsam,  aßen und  schliefen  in der  Kirche,  verließen  sie
selbst  am  Tage  nicht  mehr,  

u

berzeugt,   im   Schutz  der  verzweifelten
Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig m

u

gliche Sicherheit vor
dem Ungeheuer zu finden, sofern es 

u

berhaupt noch Sicherheit gab.
     Andere,  gewitztere K

u

pfe, schlossen sich,  da die Kirche bereits schon
einmal versagt  hatte,  zu okkulten Gruppen zusammen,  engagierten f

u

r  viel
Geld eine  approbierte  Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen
Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um
sich  den  Leibhaftigen   geneigt  zu  machen.  Wieder  andere,  vornehmlich
Mitglieder des gehobenen  B

u

rgertums  und des gebildeten  Adels, setzten auf
modernste    wissenschaftliche   Methoden,   magnetisierten   ihre   H

u

user,
hypnotisierten ihre  T

u

chter,  bildeten  fluidale  Schweigekreise  in  ihren
Salons und versuchten,  mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen
den   Geist   des  M

u

rders  telepathisch   zu   bannen.  Die   Korporationen
organisierten  eine Bußprozession von Grasse nach  Napoule und zur

u

ck.
Die  M

u

nche  aus  den  f

u

nf Kl

u

stern der  Stadt richteten einen  permanenten
Bittgottesdienst  ein,  mit  Dauerges

u

ngen, so dass  bald an dieser, bald an
jener Ecke der Stadt  ein ununterbrochenes Lamento zu h

u

ren war, bei Tag und
bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch.
     So harrte das Volk von  Grasse in fieberhafter Unt

u

tigkeit, beinahe mit
Ungeduld,  des  n

u

chsten  Mordanschlags.  Dass  er  bevorstand,  bezweifelte
niemand. Und  insgeheim  sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der
einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betr

u

fe.
     Die  Obrigkeit allerdings  in Stadt, Land  und Provinz  ließ sich
diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten
Mal, seitdem der M

u

dchenm

u

rder  aufgetreten  war,  kam  es zu planvoller und
ersprießlicher  Zusammenarbeit  zwischen  den   Vogteien  von  Grasse,
Draguignan  und  Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament
und Marine.
     Der Grund f

u

r dieses solidarische Vorgehen der M

u

chtigen war einerseits
die Bef

u

rchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache,
dass  man  seit dem Mord  an  Laure  Richis Anhaltspunkte  hatte,  die  eine
systematische Verfolgung des M

u

rders 

u

berhaupt erst erm

u

glichten. Der M

u

rder
war  gesehen  worden. Offensichtlich  handelte  es  sich  um  jenen omin

u

sen
Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des  Gasthofs von Napoule
aufgehalten  hatte  und  am n

u

chsten  Morgen  spurlos verschwunden war. Nach

u

bereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein
unscheinbarer, kleingewachsener  Mann mit br

u

unlichem  Rock und grobleinenem
Reisesack.  Obwohl ansonsten die  Erinnerung  der  drei Zeugen seltsam  vage
blieb, sie  etwa Gesicht, Haarfarbe  oder  Sprache  des Mannes  nicht h

u

tten
beschreiben k

u

nnen, wusste  der Wirt doch  noch zu  sagen, dass ihm, wenn er
sich  nicht t

u

usche, an  Haltung und  Gang  des  Fremden  etwas  Linkisches,
Hinkendes  aufgefallen   sei,  wie  von  einer  Beinverletzung   oder  einem
verkr

u

ppelten Fuß.
     Mit diesen Indizien  versehen  nahmen schon gegen  Mittag  des Mordtags
zwei  Reiterabteilungen  der  Marechaussee  die Verfolgung  des  M

u

rders  in
Richtung  Marseille auf - eine an der K

u

ste entlang, die andere 

u

ber den Weg
im  Landesinnern.  Die  n

u

here  Umgebung  von  Napoule  ließ  man  von
Freiwilligen   durchk

u

mmen.  Zwei  Kommission

u

re  des  Grasser  Landgerichts
reisten  nach  Nizza,   um  dort  Nachforschungen  

u

ber  den  Gerbergesellen
anzustellen.  In  den  H

u

fen von  Frejus,  Cannes  und  Antibes wurden  alle
auslaufenden Schiffe  kontrolliert,  an  der  Grenze nach Savoyen jeder  Weg
gesperrt,   Reisende   hatten   sich   auszuweisen.   Eine   steckbriefliche
Beschreibung  des  T

u

ters erschien  f

u

r  die,  die lesen  konnten, an  allen
Stadttoren von  Grasse, Vence, Gourdon  und an den  Kircht

u

ren  der  D

u

rfer.
Dreimal  t

u

glich  wurde sie  ausgeschrieen.  Die  Sache  mit  dem vermuteten
Klumpfuß best

u

rkte freilich die Ansicht,  es handle sich bei dem T

u

ter
um den Teufel selbst, und sch

u

rte deshalb eher die Panik in der Bev

u

lkerung,
als dass man verwertbare Hinweise erhielt.
     Erst nachdem  der  Grasser  Gerichtspr

u

sident im  Auftrag Richis'  eine
Belohnung  von  nicht  weniger  als  zweihundert  Livres  f

u

r  Hinweise  zur
Ergreifung  des  T

u

ters ausgeschrieben  hatte,  f

u

hrten  Denunziationen  zur
Festnahme einiger Gerbergesellen  in Grasse,  Opio und  Gourdon,  von  denen
einer tats

u

chlich  das Ungl

u

ck  hatte, zu hinken. Diesen  gedachte man schon
trotz  seinem  durch  mehrere  Zeugen  gefestigten  Alibi   der  Folter   zu
unterziehen, als  sich, am  zehnten Tag nach  geschehenem Mord, ein Mann der
Stadtwache  bei der Magistratur  meldete und  den Richtern  folgende Aussage
machte:  Am Mittag  jenes  Tages  sei er,  Gabriel Tagliasco,  Hauptmann der
Wache, an  der  Porte  du Cours  wie  gew

u

hnlich  Dienst  tuend,  von  einem
Individuum,  auf  welches,   wie  er  jetzt   wisse,   die   steckbriefliche
Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in  dringlicher
Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite  Konsul mit seiner
Karawane  am Morgen die  Stadt  verlassen habe.  Dem Vorfall selbst  habe er
weder  damals noch sp

u

ter irgendeine Bedeutung beigemessen,  und auch an das
Individuum h

u

tte er  sich aus  eigener Kraft  mit  Bestimmtheit  nicht  mehr
erinnern k

u

nnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -,  wenn er  es
nicht gestern zuf

u

llig wieder gesehen h

u

tte, und zwar hier in Grasse, in der
Rue de la Louve, vor  dem  Atelier des Maitre  Druot und der Madame Arnulfi,
bei  welcher Gelegenheit  ihm auch aufgefallen  sei, dass der Mensch, in die
Werkstatt  zur

u

ckkehrend, deutlich gehinkt  habe. Eine  Stunde sp

u

ter  wurde
Grenouille  verhaftet. Der Wirt und  sein Stallknecht  aus Napoule, die sich
wegen  der  Identifizierung der anderen  Verd

u

chtigen  in Grasse aufhielten,
erkannten  ihn  sofort   als  den   Gerbergesellen  wieder,  der  bei  ihnen

u

bernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser  m

u

sse der gesuchte
M

u

rder sein.
     Man   untersuchte  die   Werkstatt,  man  untersuchte  die   Kabane  im
Olivengarten  hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt,
lagen das  zerschnittene  Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der
Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider
und  Haare der anderen vierundzwanzig M

u

dchen zum Vorschein.  Die  Holzkeule
fand sich, mit  der  die Opfer  erschlagen  worden  waren,  und der  leinene
Reisesack.   Die   Indizien   waren   

u

berw

u

ltigend.  Man   ließ   die
Kirchenglocken  l

u

uten. Der Gerichtspr

u

sident gab durch Ausruf und  Anschlag
bekannt, dass der ber

u

chtigte M

u

dchenm

u

rder, nach dem man fast ein Jahr lang
gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.

     Zun

u

chst glaubten 
die
 Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie
f

u

r eine Finte, mit  der die Beh

u

rden ihre eigene Unf

u

higkeit kaschieren und
die  gef

u

hrlich  gereizte  Stimmung  des  Volkes  beruhigen wollten.  Zu gut
erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der M

u

rder sei
nach  Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen
der Menschen gefressen.
     Erst  als  am  folgenden Tag auf  dem Kirchplatz  vor  der  Pr

u

vot

u

 die
Beweisst

u

cke 

u

ffentlich ausgestellt wurden  - es war ein schauerliches Bild,
die  f

u

nfundzwanzig  Gew

u

nder  mit  den  f

u

nfundzwanzig  Haarb

u

scheln,   wie
Vogelscheuchen  an Stangen aufgezogen, an  der  Stirnseite  des Platzes, der
Kathedrale gegen

u

ber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die 

u

ffentliche
Meinung.
     Zu vielen Hunderten  defilierten die Menschen  an  der makabren Galerie
vor

u

ber.  Angeh

u

rige  der Opfer, die  die  Kleider wiedererkannten,  brachen
schreiend zusammen. Die  

u

brige  Menge, teils  aus Sensationslust, teils  um
v

u

llig  

u

berzeugt  zu sein, begehrte den M

u

rder zu  sehen. Die Rufe nach ihm
wurden bald so  laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden  Platz so
bedrohlich,  dass der Pr

u

sident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle
heraufbringen  zu lassen und ihn  an  einem  Fenster  des ersten Stocks  der
Pr

u

vot

u

 zu pr

u

sentieren.
     Als Grenouille  ans Fenster trat,  verstummte das  Gebr

u

ll. Es war  mit
einem  Mal  so vollst

u

ndig still  wie  an  einem heißen  Sommertag zur
Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den
Schatten der  H

u

user verkriecht.  Kein Tritt, kein R

u

uspern,  kein Atmen war
mehr zu h

u

ren. Die Menge war nur noch Auge  und  offener  Mund, minutenlang.
Kein Mensch konnte es  fassen,  dass der windige, kleine, geduckte Mann dort
oben am Fenster, dieses W

u

rstchen, dieses armselige H

u

uflein, dieses Nichts,

u

ber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er  sah  einem M

u

rder einfach
nicht  gleich.  Niemand  h

u

tte zwar  sagen k

u

nnen,  
wie
 er sich den  M

u

rder,
diesen  Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so
nicht! Und dennoch - obwohl der M

u

rder  den Vorstellungen der  Leute so  gar
nicht entsprach und seine Pr

u

sentation daher,  wie  man w

u

rde meinen k

u

nnen,
wenig 

u

berzeugend  h

u

tte  wirken sollen, ging paradoxerweise allein von  der
Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster  und von  der Tatsache,  dass eben
nur er und  kein  anderer als M

u

rder  pr

u

sentiert wurde,  eine  

u

berzeugende
Wirkung aus. Sie dachten alle:  Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten
im selben Moment, dass es wahr sein m

u

sse.
     Freilich, erst als die Wachen das M

u

nnlein wieder zur

u

ck ins Dunkel des
Zimmers gezogen  hatten,  erst  als  es  also  nicht  mehr  gegenw

u

rtig  und
sichtbar, sondern  nur noch, wenn  auch f

u

r  k

u

rzeste Zeit, als  Erinnerung,
fast m

u

chte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als
Begriff eines abscheulichen M

u

rders - da erst wich die Verbl

u

ffung der Menge
und schaffte Raum f

u

r eine angemessene Reaktion: Die M

u

nder klappten zu, die
tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl  es  in einem einzigen
donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn  haben!"  Und sie schickten
sich an, die Pr

u

vot

u

 zu st

u

rmen, um ihn mit  eigenen H

u

nden zu  erw

u

rgen, zu
zerreißen und zu zerst

u

ckeln. Die  Wachen hatten alle M

u

he, das Tor zu
verrammeln und den Mob zur

u

ckzudr

u

ngen. Grenouille wurde schleunigst in sein
Verlies gebracht. Der Pr

u

sident trat ans Fenster und versprach ein schnelles
und exemplarisch  strenges Verfahren. Trotzdem  dauerte es noch Stunden, ehe
sich die Menge verlaufen, noch  Tage, eh  sich  die  Stadt leidlich beruhigt
hatte.
     In  der  Tat  ging  der  Prozess  gegen  Grenouille 

u

ußerst z

u

gig
vonstatten,  da  nicht nur die  Beweismittel erdr

u

ckend waren,  sondern  der
Angeklagte selbst bei  den  Vernehmungen  ohne  Umschweife  die ihm zur Last
gelegten Morde gestand.
     Allein  nach seinen  Motiven  befragt,  wusste  er  keine befriedigende
Antwort  zu geben. Er wiederholte immer nur,  er  habe die M

u

dchen gebraucht
und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das 

u

berhaupt
bedeuten   sollte,  "er  habe   sie  gebraucht"  -  dazu   schwieg  er.  Man

u

berantwortete ihn  daraufhin  der  Folter,  h

u

ngte ihn  stundenlang an  den
F

u

ßen   auf,   pumpte   ihm   sieben   Finten   Wasser   ein,   setzte
Fußzwingen -  ohne den  geringsten  Erfolg.  Der  Mensch schien  gegen
k

u

rperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen  Laut von  sich  und  sagte,
wenn er abermals befragt wurde, nichts  als: "Ich habe sie gebraucht. "  Die
Richter  hielten  ihn  f

u

r  geisteskrank.  Sie  setzten  die  Folter ab  und
beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
     Die einzige  Verz

u

gerung, die  sich  noch  ergab, war ein  juristisches
Gepl

u

nkel  mit dem  Magistrat von Draguignan, in  dessen  Vogtei  La Napoule
gelegen  war,  und  dem Parlament  in Aix, welche beide den Prozess  an sich
bringen  wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht
mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den T

u

ter gefasst hatten, in ihrem
Zust

u

ndigkeitsbereich war die 

u

berwiegende Anzahl der Morde begangen worden,
und ihnen drohte  der geballte  Volkszorn, wenn sie den M

u

rder einem anderen
Gericht 

u

berließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
     Am 15.  April  1766 wurde das Urteil  gef

u

llt und  dem  Angeklagten  in
seiner Zelle verlesen:  "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille",  so
hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den  Cours vor die
Tore der  Stadt gef

u

hrt, dort,  das Gesicht  zum  Himmel, auf  ein Holzkreuz
gebunden werden, bei lebendigem Leib zw

u

lf Schl

u

ge mit einer eisernen Stange
erhalten,  die ihm  die  Gelenke  der  Arme,  Beine,  H

u

ften  und  Schultern
zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis
zu  seinem  Tode."  Die 

u

bliche  Gnadenpraxis,  den  Delinquenten  nach  dem
Zerschmettern  mittels  eines  Fadens zu  erw

u

rgen, wurde  dem Scharfrichter
ausdr

u

cklich  untersagt,  auch  wenn der Todeskampf sich 

u

ber Tage hinziehen
sollte. Die Leiche sei  n

u

chtens  auf dem Schindanger zu vergraben, der  Ort
nicht zu kennzeichnen.
     Grenouille nahm  den Spruch  ohne Regung entgegen.  Der  Gerichtsdiener
fragte  ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte  Grenouille; er habe
alles, was er brauche.
     Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber
schon  nach  einer Viertelstunde  unverrichteter  Dinge  wieder  heraus. Der
Verurteilte  habe  ihn  bei  der  Erw

u

hnung  des Namens  Gottes  so  absolut
verst

u

ndnislos angeschaut, als  h

u

re er diesen Namen soeben zum  ersten Mal,
sich dann auf seiner Pritsche  ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu
versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.
     In den  folgenden  zwei  Tagen kamen  viele Menschen, um  den ber

u

hmten
M

u

rder aus der N

u

he zu  sehen. Die W

u

rter ließen sie  durch die Klappe
an der Zellent

u

re einen  Blick tun  und verlangten sechs Sol pro Blick.  Ein
Kupferstecher,  der  eine  Skizze  anfertigen  wollte,  musste   zwei  Franc
bezahlen. Das Motiv war aber eher entt

u

uschend. Der Gefangene, an Fuß-
und  Handgelenken angekettet,  lag  die ganze  Zeit  auf  der  Pritsche  und
schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand  gekehrt, und er reagierte weder  auf
Klopfzeichen  noch  auf Zurufe. Der Zutritt zur  Zelle war Besuchern  strikt
verwehrt, und die W

u

rter wagten es  trotz  verlockender Angebote nicht, sich

u

ber  dies Verbot  hinwegzusetzen. Man  f

u

rchtete,  der Gefangene k

u

nne  von
einem Angeh

u

rigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden.  Aus dem gleichen
Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es h

u

tte vergiftet sein
k

u

nnen. W

u

hrend der ganzen Gefangenschaft  erhielt Grenouille sein Essen aus
der    Gesindek

u

che    des    bisch

u

flichen    Palastes,     welches     der
Gef

u

ngnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er
freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten,
und  wenn der W

u

rter an die T

u

rklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus
der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs  Lager werfen  und weiterschlafen
sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines  Lebens derart m

u

de, dass  er
nicht einmal mehr  die  letzten Stunden  davon  in wachem Zustand miterleben
wollte.
     Unterdessen  wurde   der   Cours  f

u

r   die  Hinrichtung   vorbereitet.
Zimmerleute  bauten  ein Schafott,  drei  mal drei Meter groß und zwei
Meter hoch, mit Gel

u

nder und einer soliden Treppe - ein  so pr

u

chtiges hatte
man in Grasse noch nie gehabt. Dazu  eine Holztrib

u

ne  f

u

r die  Honoratioren
und  einen Zaun gegen  das  gemeine  Volk, das in gewisser  Distanz gehalten
werden sollte. Die Fensterpl

u

tze  in den H

u

usern  links und rechts der Porte
du Cours  und im Geb

u

ude  der  Wache  waren l

u

ngst  zu  exorbitanten Preisen
vermietet. Sogar in der etwas seitw

u

rts  gelegenen Charit

u

 hatte der Gehilfe
des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit  hohem Gewinn
an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverk

u

ufer mischten kannenweise
Lakritzenwasser  auf  Vorrat, der  Kupferstecher druckte seine im  Gef

u

ngnis
genommene und aus der  Phantasie  noch ein wenig  rasanter gestaltete Skizze
des M

u

rders  in  vielen  hundert Exemplaren,  fliegende  H

u

ndler str

u

mten zu
Dutzenden in die Stadt, die B

u

cker buken Gedenkpl

u

tzchen.
     Der  Scharfrichter,  Monsieur  Papon,  der  schon  seit  Jahren  keinen
Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte,  ließ sich eine  schwere
vierkantige Eisenstange schmieden und  ging  damit in den Schlachthof, um an
Tierkadavern  seine Hiebe zu 

u

ben. Zw

u

lf Schl

u

ge durfte er  nur  f

u

hren, und
mit  diesen  mussten die zw

u

lf Gelenke  sicher zerbrochen werden,  ohne dass
wertvolle Teile  des K

u

rpers, wie  etwa Brust oder Kopf, besch

u

digt w

u

rden -
ein diffiziles Gesch

u

ft, das gr

u

ßtes Fingerspitzengef

u

hl erforderte.
     Die B

u

rger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag
vor. Dass  nicht  gearbeitet werden  w

u

rde, verstand  sich von  selbst.  Die
Frauen  b

u

gelten ihr Feiertagshabit, die  M

u

nner staubten ihre R

u

cke aus und
ließen sich die Stiefel gl

u

nzend putzen. Wer eine  Milit

u

rcharge  oder
ein Amt besaß,  wer Gildenmeister war, Advokat,  Notar, Direktor einer
Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und  offizielle
Tracht an,  mit  Orden, Sch

u

rpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter
Per

u

cke.  Die  Gl

u

ubigen  gedachten  sich post  festum  zum Gottesdienst  zu
versammeln, die Satansj

u

nger  zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die
gebildete Noblesse  zur  magnetischen  Seance in  den  Hotels  der  Cabris',
Villeneuves  und  Fontmichels.  In  den  K

u

chen  wurde  schon  gebacken  und
gebraten,  aus den Kellern Wein geholt und  vom Markt der  Blumenschmuck, in
der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.
     Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede
Zur

u

stung  f

u

r  den  "Tag  der  Befreiung",  als   welchen   das  Volk   den
Hinrichtungstag des M

u

rders bezeichnete,  verbeten. Ihm war alles  ein Ekel.
Die  pl

u

tzlich  wiederaufbrechende Furcht  der  Menschen  war  ihm  ein Ekel
gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen,
alle  miteinander,  waren   ihm  ein  Ekel.  Er  hatte  sich  nicht  an  der
Pr

u

sentation  des T

u

ters und  seiner Opfer auf dem Platz  vor der Kathedrale
beteiligt,   nicht   am  Prozess,   nicht   am   widerw

u

rtigen  Defilee  der
Sensationsl

u

sternen vor der  Zelle  des Verurteilten. Zur Identifikation der
Haare und  Kleider seiner  Tochter hatte er das Gericht zu  sich  nach Hause
bestellt, kurz  und gefasst seine Aussage gemacht und  gebeten, man m

u

ge ihm
die Dinge  als Reliquien 

u

berlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures
Kammer,  legte  das zerschnittene Nachthemd  und das Leibchen auf  ihr Bett,
breitete   die  roten   Haare  

u

bers  Kissen  und   setzte  sich  davor  und
verließ die Kammer Tag und  Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese
sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule vers

u

umt hatte.
Er war so erf

u

llt von Ekel, Ekel vor der  Welt und vor sich selbst,  dass er
nicht weinen konnte.
     Auch  vor dem M

u

rder  empfand er  Ekel. Er  wollte  ihn nicht mehr  als
Menschen sehen, nur noch als  Opfer,  das geschlachtet  w

u

rde. Erst  bei der
Hinrichtung wollte er ihn sehen,  wenn  er auf dem  Kreuz lag und die  zw

u

lf
Schl

u

ge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er
ihn  dann sehen, er  hatte sich einen Platz  in vorderster Reihe reservieren
lassen. Und  wenn sich das Volk verlaufen h

u

tte, nach ein paar Stunden, dann
wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutger

u

st und sich neben ihn setzen und
Wache halten, n

u

chtelang, tagelang,  wenn es  sein musste, und  ihm dabei in
die Augen schauen, dem M

u

rder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die
Augen  tr

u

ufeln, der  in  ihm  war, den  ganzen  Ekel  in seinen  Todeskampf
hineinsch

u

tten  wie eine  brennende S

u

ure,  so  lange, bis das Ding verreckt
war...
     Danach? Was er danach tun  w

u

rde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder
sein gewohntes Leben  aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen  Sohn
zeugen,  vielleicht  nichts  tun,  vielleicht  sterben. Es  war  ihm  v

u

llig
gleichg

u

ltig. Dar

u

ber nachzudenken  erschien ihm so sinnlos, als  d

u

chte  er
dar

u

ber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts  nat

u

rlich.
Nichts, was er jetzt schon wissen k

u

nnte.

     Die Hinrichtung war auf f

u

nf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen
kamen  die  ersten  Schaulustigen  und  sicherten  sich Pl

u

tze. Sie brachten
St

u

hle und Trittb

u

nkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder.
Als gegen Mittag die Landbev

u

lkerung aus allen  Himmelsrichtungen  in Massen
herbeistr

u

mte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuank

u

mmlinge
auf den terrassenf

u

rmig ansteigenden G

u

rten und Feldern jenseits des Platzes
und auf der  Straße nach Grenoble lagern  mussten. Die H

u

ndler machten
bereits gute Gesch

u

fte, man aß, man  trank, es summte und brodelte wie
bei  einem  Jahrmarkt.   Bald  waren   wohl  an  die  zehntausend   Menschen
zusammengekommen,  mehr  als  zum  Fest  der  Jasmink

u

nigin,  mehr  als  zur
gr

u

ßten  Prozession, mehr  als  jemals zuvor  in Grasse. Bis weit  die
H

u

nge  hinauf standen sie. Sie hingen  in  den B

u

umen,  sie  hockten auf den
Mauern  und  D

u

chern,  sie   dr

u

ngten  sich  zu  zehnt,  zu  zw

u

lft  in  den
Fenster

u

ffnungen. Nur im  Zentrum des Cours,  gesch

u

tzt vom  Barrikadenzaun,
wie herausgestochen aus dem Teig  der Menschenmenge,  blieb noch  ein freier
Platz f

u

r  die Trib

u

ne und f

u

r das Schafott, das sich pl

u

tzlich  ganz  klein
ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die B

u

hne  eines  Puppentheaters.  Und
eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du  Cours und in die
Rue Droite hinein.
     Kurz  nach drei erschienen Monsieur Papon  und  seine Gehilfen. Beifall
rauschte  auf. Sie  trugen  das  aus  Holzbalken  gef

u

gte  Andreaskreuz  zum
Schafott  und brachten es auf die geeignete  Arbeitsh

u

he, indem  sie  es mit
vier schweren  Tischlerb

u

cken unterst

u

tzten. Ein Tischlergeselle  nagelte es
fest. Jeder  Handgriff der  Henkersknechte und  des Tischlers wurde  von der
Menge  mit Applaus bedacht. Als dann  Papon  mit der Eisenstange herbeitrat,
das  Kreuz umging,  seine  Schritte  ausmaß, bald von dieser, bald von
jener Seite einen imaginierten Schlag f

u

hrte, brach regelrechter Jubel aus.
     Um  vier begann sich die Trib

u

ne zu f

u

llen. Es gab viel feine Leute  zu
bestaunen, reiche  Herren mit  Lakaien  und  guten  Manieren,  sch

u

ne Damen,
große H

u

te,  glitzernde Kleider.  Der gesamte Adel aus Stadt  und Land
war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem  Zug, angef

u

hrt
von  den beiden Konsuln.  Richis  trug schwarze  Kleider, schwarze Str

u

mpfe,
schwarzen  Hut. Hinter dem Rat marschierte  der Magistrat ein, unter Leitung
des  Gerichtspr

u

sidenten. Als letzter kam der Bischof im  offenen Tragstuhl,
in leuchtend violettem Ornat und  gr

u

nem H

u

tchen. Wer noch bedeckt war, nahm
sp

u

testens jetzt die M

u

tze ab. Es wurde feierlich.
     Dann  geschah etwa  zehn Minuten  lang nichts. Die Herrschaften  hatten
Platz  genommen,  das  Volk  harrte  reglos,  niemand  aß mehr,  alles
wartete. Papon und seine Knechte  standen  auf  der B

u

hne des Schafotts  wie
angeschraubt. Die Sonne hing  groß und gelb 

u

ber dem Esterei.  Aus dem
Grasser  Becken  kam  ein  lauer Wind und  trug den  Duft der  Orangenbl

u

ten
herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
     Endlich,  als  man  schon  meinte,  die  Spannung  k

u

nne  nicht  l

u

nger
andauern,  ohne  in  einen tausendfachen Schrei, einen Tumult,  eine Raserei
oder ein  sonstiges Massenereignis  zu zerplatzen, h

u

rte  man in  der Stille
Pferdegetrappel und das Knirschen von R

u

dern.
     Die  Rue Droite  herunter kam  ein  geschlossener  zweisp

u

nniger  Wagen
gefahren,  der Wagen des  Polizeilieutenants.  Er passierte das Stadttor und
erschien,  nun  f

u

r jedermann  sichtbar,  in der  schmalen  Gasse,  die  zum
Richtplatz f

u

hrte. Der Polizeilieutenant  hatte auf diese Art der Vorf

u

hrung
bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu
k

u

nnen  glaubte. 

u

blich war  sie durchaus nicht. Das Gef

u

ngnis lag kaum f

u

nf
Minuten  vom  Richtplatz  entfernt,  und wenn  ein Verurteilter  diese kurze
Strecke, aus welchem Grunde immer,  zu Fuß  nicht mehr  bew

u

ltigte, so
h

u

tte  es  ein  offner  Eselskarren  auch  getan.  Dass  einer  zur  eigenen
Hinrichtung  in der Karosse  vorfuhr,  mit Kutscher,  livrierten Dienern und
Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
     Trotzdem  kam in der Menge nicht Unruhe  oder Unmut auf, im  Gegenteil.
Man  war  zufrieden,  dass 

u

berhaupt etwas geschah, hielt die Sache  mit der
Kutsche  f

u

r einen  gelungenen  Einfall, 

u

hnlich  wie im  Theater, wo man es
sch

u

tzt,  wenn ein bekanntes St

u

ck auf  

u

berraschend  neue Weise pr

u

sentiert
wird.  Viele   fanden  sogar,   der   Auftritt  sei   angemessen.  Einem  so
außergew

u

hnlich     abscheulichen     Verbrecher     geb

u

hrte     eine
außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie  einen ordin

u

ren
Straßenr

u

uber in  Ketten  auf  den Platz zerren und erschlagen.  Daran
w

u

re  nichts Sensationelles gewesen.  Ihn vom  Equipagenpolster weg auf  das
Andreaskreuz zu f

u

hren - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
     Die Kutsche hielt zwischen Schafott und  Trib

u

ne. Die  Lakaien sprangen
ab,  

u

ffneten  den   Schlag  und  klappten   das  Treppchen   herunter.  Der
Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier  der  Wache  und  endlich
Grenouille. Er trug einen  blauen Rock, ein  weißes  Hemd, weiße
Seidenstr

u

mpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand
f

u

hrte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
     Und dann  geschah ein  Wunder. Oder so etwas 

u

hnliches wie ein  Wunder,
n

u

mlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerh

u

rtes und  Unglaubliches,
dass  alle Zeugen es im nachhinein  als Wunder bezeichnet haben w

u

rden, wenn
sie  

u

berhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen w

u

ren,  was nicht der
Fall war, da sie  sich  sp

u

ter allesamt sch

u

mten,  

u

berhaupt daran beteiligt
gewesen zu sein.
     Es war n

u

mlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und  auf
den  umliegenden  H

u

ngen  sich  von   einem  Moment  zum   anderen  von  dem
unersch

u

tterlichen Glauben  durchtr

u

nkt f

u

hlten, der  kleine Mann im  blauen
Rock, der soeben  aus der Kutsche gestiegen war, k

u

nne 
unm

u

glich  ein M

u

rder
sein.  Nicht  dass  sie an  seiner Identit

u

t  zweifelten! Da  stand derselbe
Mensch, den sie vor wenigen Tagen  auf dem Kirchplatz am Fenster der Pr

u

vot

u

gesehen hatten und den sie, w

u

ren  sie  damals seiner  habhaft geworden,  in
w

u

tendem  Hass  gelyncht h

u

tten. Derselbe,  der  zwei  Tage  zuvor  aufgrund
erdr

u

ckender  Beweise  und  eigenen  Gest

u

ndnisses rechtskr

u

ftig  verurteilt
worden  war. Derselbe, dessen  Erschlagung durch den  Scharfrichter sie noch
vor einer  Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch -
er war es auch nicht,  er konnte es nicht sein, er  konnte kein M

u

rder sein.
Der  Mann,  der auf  dem Richtplatz stand, war die Unschuld  in Person.  Das
wussten in diesem  Moment alle vom  Bischof bis zum  Limonadenverk

u

ufer, von
der Marquise bis zur kleinen W

u

scherin, vom Pr

u

sidenten des Gerichts bis zum
Gassenjungen.
     Auch Papon  wusste  es. Und seine F

u

uste, die den  Eisenstab umklammert
hielten, zitterten. Ihm  war  mit einem  Mal  so schwach in  seinen  starken
Armen, so weich in den Knien, so bang  im  Herzen  wie einem  Kind. Er w

u

rde
diesen  Stab nicht  heben  k

u

nnen,  niemals  im  Leben  w

u

rde  er  die Kraft
aufbringen,  ihn  gegen den kleinen  unschuldigen  Mann  zu erheben, ach, er
f

u

rchtete den  Moment, da er heraufgef

u

hrt  w

u

rde, er schlotterte, er musste
sich auf seinen m

u

rderischen Stab st

u

tzen, um nicht vor Schw

u

che in die Knie
zu sinken, der große, starke Papon!
     Nicht  anders erging es den zehntausend M

u

nnern und Frauen  und Kindern
und Greisen, die versammelt  waren: Sie wurden schwach  wie kleine  M

u

dchen,
die dem  Charme ihres  Liebhabers erliegen.  Es  

u

berkam  sie ein  m

u

chtiges
Gef

u

hl von Zuneigung, von Z

u

rtlichkeit, von toller kindischer  Verliebtheit,
ja,  weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen M

u

rdermann, und  sie konnten,
sie wollten nichts dagegen tun. Es war  wie ein Weinen,  gegen  das man sich
nicht wehren kann, wie ein lange zur

u

ckgehaltenes  Weinen, das aus dem Bauch
aufsteigt  und alles Widerst

u

ndliche wunderbar  zersetzt, alles  verfl

u

ssigt
und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und
Seele aufgel

u

st,  nur  noch  von amorpher  Fl

u

ssigkeit, und einzig  ihr Herz
sp

u

rten sie als  haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und  legten es,
eine jede,  ein jeder, in die Hand des kleinen  Mannes im  blauen Rock,  auf
Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.
     Grenouille stand  nun  wohl  schon mehrere Minuten  lang am  ge

u

ffneten
Schlag  der Kutsche und  r

u

hrte  sich nicht. Der Lakai  neben ihm war in die
Knie  gesunken  und   sank  noch  immer  weiter  bis  hin  zu  jener  v

u

llig
prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor  Allah 

u

blich
ist. Und selbst in dieser Haltung  zitterte und schwankte er noch und wollte
weitersinken, sich flach  auf die Erde legen, in  sie hinein, unter sie. Bis
ans  andre  Ende  der  Welt  wollte er  sinken vor  lauter  Ergebenheit. Der
Offizier der  Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige M

u

nner, deren
Aufgabe es gewesen w

u

re, den  Verurteilten jetzt aufs  Blutger

u

st  zu f

u

hren
und  seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr
zustande  bringen. Sie weinten und nahmen ihre H

u

te ab,  setzten  sie wieder
auf, warfen sie zu Boden,  fielen sich gegenseitig in die Arme, l

u

sten sich,
fuchtelten  unsinnig  mit den Armen in  der  Luft herum,  rangen  die H

u

nde,
zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.
     Die  weiter   entfernt   befindlichen  Honoratioren  gaben  sich  ihrer
Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ  dem Drang
seines  Herzens  freien  Lauf.   Da  waren  Damen,  die  sich  beim  Anblick
Grenouilles die F

u

uste in den  Schoß stemmten  und seufzten vor Wonne;
und andere, die  vor sehns

u

chtigem Verlangen nach  dem herrlichen J

u

ngling -
denn so  erschien er  ihnen -  sang- und klanglos  in Ohnmacht versanken. Da
waren  Herren,  die  in  einem fort von ihren Sitzen  aufspritzten  und sich
wieder niederließen und wieder aufsprangen, m

u

chtig schnaufend und die
F

u

uste um die  Degengriffe ballend, als  wollten sie ziehen, und, indem  sie
schon zogen, den Stahl wieder zur

u

ckstießen, dass es in  den  Scheiden
nur so klapperte und knackte; und  andere, die die Augen  stumm  zum  Himmel
richteten  und  ihre  H

u

nde  zum  Gebet  verkrampften;  und Monseigneur, der
Bischof, der, als sei ihm 

u

bel, mit  dem  Oberk

u

rper vorn

u

berklappte und die
Stirn auf seine Knie  schlug, bis ihm das gr

u

ne  H

u

tchen vom Kopfe kollerte;
und dabei war ihm gar nicht 

u

bel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in
seinem Leben in religi

u

sem  Entz

u

cken,  denn  ein Wunder war  geschehen  vor
aller  Augen, der Herrgott  h

u

chstpers

u

nlich  war  dem  Henker  in  den  Arm
gefallen, indem  er  den als Engel offenbarte,  der vor  der Welt ein M

u

rder
schien  - o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß
war  der  Herr!  Und  wie  klein und windig  war  man selbst, der  man einen
Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung
des Volkes! O welche Anmaßung, o  welche Kleingl

u

ubigkeit! Und nun tat
der  Herr  ein  Wunder!  O  welch  herrliche  Dem

u

tigung,  welch  s

u

ße
Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gez

u

chtigt zu werden.
     Das  Volk jenseits der Barrikade  gab sich unterdessen immer schamloser
dem  unheimlichen  Gef

u

hlsrausch  hin, den Grenouilles Erscheinen  ausgel

u

st
hatte. Wer zu Beginn bei  seinem  Anblick nur Mitgef

u

hl und R

u

hrung versp

u

rt
hatte,  der  war  nun  von  nackter  Begehrlichkeit  erf

u

llt,  wer  zun

u

chst
bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann
im blauen Rock f

u

r das sch

u

nste, attraktivste und  vollkommenste Wesen,  das
sie sich denken  konnten: Den  Nonnen erschien er als der Heiland in Person,
den  Satansgl

u

ubigen als  strahlender Herr der Finsternis,  den Aufgekl

u

rten
als das H

u

chste Wesen, den  jungen M

u

dchen als ein M

u

rchenprinz, den M

u

nnern
als ein ideales  Abbild ihrer selbst. Und alle f

u

hlten sie  sich von  ihm an
ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen
Zentrum  getroffen. Es  war, als  besitze der  Mann zehntausend  unsichtbare
H

u

nde und als habe er jedem der zehntausend  Menschen,  die ihn umgaben, die
Hand aufs Geschlecht gelegt und  liebkose es auf  just jene Weise, die jeder
einzelne, ob Mann  oder Frau, in  seinen geheimsten  Phantasien am st

u

rksten
begehrte.
     Die   Folge   war,   dass   die   geplante   Hinrichtung    eines   der
verabscheuungsw

u

rdigsten Verbrechers seiner Zeit zum gr

u

ßten Bacchanal
ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen
hatte:  Sittsame Frauen rissen  sich die  Blusen auf, entbl

u

ßten unter
hysterischen Schreien ihre Br

u

ste, warfen sich mit hochgezogenen R

u

cken  auf
die  Erde.  M

u

nner  stolperten mit irren Blicken durch  das Feld von  geilem
aufgespreiztem  Fleisch,  zerrten  mit  zitternden  Fingern   ihre  wie  von
unsichtbaren Fr

u

sten steifgefrorenen Glieder  aus der  Hose, fielen  

u

chzend
irgendwohin, kopulierten  in  unm

u

glichster Stellung und  Paarung, Greis mit
Jungfrau, Tagl

u

hner  mit  Advokatengattin,  Lehrbub mit  Nonne,  Jesuit  mit
Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom
s

u

ßen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und
Gest

u

hn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch.
     Grenouille stand und l

u

chelte.  Vielmehr  erschien es den Menschen, die
ihn  sahen,   als  l

u

chle   er  mit   dem   unschuldigsten,   liebevollsten,
bezauberndsten und zugleich verf

u

hrerischsten L

u

cheln der Welt.  Aber es war
in   Wirklichkeit  kein  L

u

cheln,  sondern  ein  h

u

ßliches,  zynisches
Grinsen, das auf seinen  Lippen lag und das  seinen ganzen Triumph und seine
ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren  ohne
Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung,
aufgewachsen  ohne  Liebe,  lebend  ohne warme menschliche Seele einzig  aus
Widerborstigkeit  und  der  Kraft  des  Ekels,  klein,  gebuckelt,  hinkend,
h

u

ßlich, gemieden,  ein  Scheusal  innen wie außen - er hatte es
erreicht,  sich vor  der Welt  beliebt  zu  machen. Was heißt beliebt!
Geliebt! Verehrt! Verg

u

ttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den
g

u

ttlichen Funken, den  andre Menschen mir nichts, dir nichts  in die  Wiege
gelegt bekommen  und der ihm als einzigem vorenthalten worden war,  hatte er
sich durch unendliches Raffinement  ertrotzt. Mehr  noch! Er hatte ihn  sich
recht  eigentlich  selbst  in   seinem  Innern   geschlagen.  Er   war  noch
gr

u

ßer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender
und  wirkungsvoller,  als  sie  je ein Mensch vor  ihm  besaß.  Und er
verdankte sie niemandem - keinem  Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten
einem gn

u

digen Gott - als einzig 
sich selbst.
 Er war in der Tat sein eigener
Gott,  und  ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott,  der in
den Kirchen  hauste. Vor ihm lag  ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und
winselte  vor  Vergn

u

gen. Die Reichen und M

u

chtigen, die stolzen  Herren und
Damen erstarben  in  Bewunderung,  indes das Volk  im weiten Rund,  darunter
V

u

ter,  M

u

tter,  Br

u

der, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem
Namen  Orgien  feierten.  Ein  Wink  von  ihm, und  alle w

u

rden  ihrem  Gott
abschw

u

ren und ihn, den Großen Grenouille anbeten.
     Ja, er 
war
 der Große Grenouille! Jetzt  trat's zutage. Er  war's,
wie einst  in  seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit.
Er erlebte in diesem Augenblick den gr

u

ßten Triumph seines Lebens.
     Und  er wurde ihm  f

u

rchterlich.  Er wurde ihm  f

u

rchterlich,  denn  er
konnte keine  Sekunde  davon genießen. In dem  Moment,  da er  aus der
Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das
vor den Menschen beliebt macht, mit dem  Parfum, an dem  er  zwei Jahre lang
gearbeitet hatte,  dem Parfum, das zu  besitzen er sein Leben lang ged

u

rstet
hatte... in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte
und  wie  mit  Windeseile  sich  verbreitend  es  die  Menschen  um  ihn her
gefangennahm, - in  diesem  Moment stieg  der ganze  Ekel  vor  den Menschen
wieder  in ihm auf  und verg

u

llte ihm  seinen Triumph so  gr

u

ndlich, dass er
nicht  nur keine  Freude,  sondern  nicht  einmal  das geringste Gef

u

hl  von
Genugtuung  versp

u

rte.  Was er  sich immer ersehnt hatte, dass  n

u

mlich  die

u

ndern  Menschen  ihn  liebten,  wurde  ihm im  Augenblick  seines  Erfolges
unertr

u

glich, denn er selbst liebte sie nicht,  er hasste sie. Und pl

u

tzlich
wusste er, dass er nie in  der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung
f

u

nde, im Hassen und Gehasstwerden.
     Aber  der Hass, den er f

u

r die Menschen empfand, blieb von den Menschen
ohne  Echo.  Je  mehr  er  sie  in  diesem  Augenblick  hasste,  desto  mehr
verg

u

tterten  sie  ihn,  denn  sie  nahmen von  ihm nichts  wahr  als  seine
angemaßte Aura, seine  Duftmaske, sein geraubtes Parfum,  und dies  in
der Tat war zum Verg

u

ttern gut.
     Er  h

u

tte  sie  jetzt  am  liebsten  alle vom  Erdboden  vertilgt,  die
stupiden, stinkenden, erotisierten  Menschen, genauso wie er damals  im Land
seiner  rabenschwarzen  Seele  die fremden  Ger

u

che vertilgt  hatte. Und  er
w

u

nschte sich, dass  sie merkten,  wie sehr er sie hasste, und dass sie  ihn
darum, um dieses seines einzigen  jemals wahrhaft empfundenen Gef

u

hls willen
widerhassten  und ihn  ihrerseits vertilgten,  wie  sie  es  ja urspr

u

nglich
vorgehabt hatten. Er wollte sich 
ein
 Mal im Leben ent

u

ußern. Er wollte
ein Mal im  Leben  sein wie andere  Menschen  auch  und  sich seines  Innern
ent

u

ußern:  wie  sie  ihrer Liebe und  ihrer dummen Verehrung,  so  er
seines  Hasses. Er  wollte  ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner  wahren
Existenz zur Kenntnis genommen werden  und von einem  anderen Menschen  eine
Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gef

u

hl, den Hass.
     Aber daraus wurde nichts.  Daraus konnte nichts werden. Und heute schon
gar nicht.  Denn  er war ja  maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er
trug  unter  dieser Maske  kein  Gesicht,  sondern nichts  als seine  totale
Geruchlosigkeit. Da wurde ihm pl

u

tzlich 

u

bel, denn er f

u

hlte, dass die Nebel
wieder stiegen.
     Wie  damals  in  der H

u

hle  im  Traum  im  Schlaf im  Herzen in  seiner
Phantasie stiegen mit einem  Mal  die Nebel,  die entsetzlichen Nebel seines
eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie
damals  wurde  ihm  unendlich bang und angst, und er  glaubte, ersticken  zu
m

u

ssen. Anders als damals aber war dies kein  Traum und kein Schlaf, sondern
die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in  einer
H

u

hle, sondern stand  auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen.
Und anders als damals  half  hier kein Schrei, der ihn erwachen  ließe
und befreite,  und half  keine Flucht  zur

u

ck in  die  gute, warme, rettende
Welt. Denn dies, hier und jetzt, 
war
 die Welt, und dies, hier und jetzt, war
sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt.
     Die f

u

rchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner
Seele,  indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verz

u

ckungen

u

chzte.  Ein  Mann kam  auf  ihn  zugelaufen. Von der vordersten  Reihe  der
Honoratiorentrib

u

ne war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer
Hut  vom  Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem  schwarzem  Rock

u

ber den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein r

u

chender Engel. Es ar Richis.
     Er  wird mich t

u

ten, dachte  Grenouille. Er ist der einzige,  der  sich
nicht von meiner  Maske t

u

uschen l

u

sst. Er  kann sich nicht t

u

uschen lassen.
Der Duft seiner Tochter klebt an  mir, so verr

u

terisch deutlich wie Blut. Er
muss mich erkennen und t

u

ten. Er muss es tun.
     Und  er  breitete  seine  Arme  aus, um den  heranst

u

rzenden  Engel  zu
empfangen.  Schon glaubte er,  den Dolch- oder Degenstoß  als herrlich
prickelnden  Schlag gegen die Brust zu sp

u

ren und die Klinge, die durch alle
Duftpanzer  und stickigen  Nebel  hindurchging, mitten in  sein kaltes  Herz
hinein  - endlich,  endlich  etwas  in  seinem Herzen, etwas anderes  als er
selbst! Er f

u

hlte sich fast schon erl

u

st.
     Doch dann  lag mit einem  Mal Richis an  seiner Brust,  kein  r

u

chender
Engel, sondern ein ersch

u

tterter, kl

u

glich schluchzender  Richis, und umfing
ihn mit den Armen,  krallte sich regelrecht fest  an ihm, als f

u

nde er sonst
keinen   Halt   in   einem   Meer   von   Gl

u

ckseligkeit.  Kein  befreiender
Dolchstoß, kein Stich  ins  Herz, nicht einmal in Fluch oder  nur  ein
Schrei des Hasses. Statt  dessen  Richis' tr

u

nennasse  Wange an  der  seinen
klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: "Vergib mir, mein Sohn,
mein lieber Sohn, vergib mir!"
     Da  wurde  es  ihm  von  innen  her  weiß  vor  Augen,  und   die

u

ußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer
tobenden Fl

u

ssigkeit  wie kochende, sch

u

umende Milch. Sie 

u

berfluteten  ihn,
pressten  mit  unertr

u

glichem  Druck  gegen  die  innere  Schalenwand seines
K

u

rpers,  ohne  Auslass  zu  finden.  Er wollte fliehen, um  Himmels  willen
fliehen, aber wohin... Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht
an  sich  selbst  zu  ersticken.  Endlich  sank  er  nieder und  verlor  das
Bewusstsein.

     Als  er wieder zu  sich  kam,  lag er  im Bett der  Laure Richis.  Ihre
Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren wegger

u

umt worden. Eine Kerze brannte
auf  dem Nachttisch. Durch das  angelehnte  Fenster h

u

rte er  von  Ferne den
Jubel  der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben
dem  Bett  und  wachte.  Er hatte Grenouilles Hand  in die seine  gelegt und
streichelte sie.
     Noch bevor er die Augen aufschlug, pr

u

fte Grenouille die Atmosph

u

re. Im
Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es  herrschte wieder
die  gewohnte  kalte  Nacht  in  seiner  Seele,  die  er  brauchte, um  sein
Bewusstsein frostig und klar  zu machen und nach außen zu lenken: Dort
roch er sein  Parfum.  Es  hatte  sich ver

u

ndert.  Die  Spitzen  waren etwas
schw

u

cher  geworden,  so  dass  nun  die  Herznote  von Laures  Geruch  noch
herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er f

u

hlte sich
sicher.  Er wusste, dass er noch  f

u

r  Stunden unangreifbar war, und 

u

ffnete
die Augen.
     Richis'  Blick  ruhte  auf ihm.  Unendliches Wohlwollen  lag  in diesem
Blick, Z

u

rtlichkeit, R

u

hrung und die hohle, d

u

mmliche Tiefe des Liebenden.
     Er  l

u

chelte und  dr

u

ckte  Grenouilles  Hand fester und sagte: "Es wird
jetzt alles gut  werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen
haben abgeschworen.  Du bist frei. Du kannst tun, was  du willst.  Aber  ich
will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich
als meinen Sohn gewinnen. Du  bist ihr 

u

hnlich. Du bist sch

u

n wie sie, deine
Haare, dein Mund, deine Hand... Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten,
deine Hand  ist wie  die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir,
als schaue sie mich an. Du bist ihr  Bruder, und ich will, dass du mein Sohn
wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?"
     Grenouille sch

u

ttelte den  Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor
Gl

u

ck.  "Dann wirst du mein Sohn werden?"  stammelte er  und fuhr von seinem
Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles
zweite Hand zu pressen. "Wirst du? Wirst du? Willst du  mich zu deinem Vater
haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu  schwach, um  zu sprechen.
Nicke nur!"
     Grenouille nickte.  Da  brach Richis das Gl

u

ck wie roter  Schweiß
aus allen Poren, und  er beugte sich zu Grenouille herab und k

u

sste ihn  auf
den Mund.
     "Schlaf  jetzt,  mein  lieber  Sohn!"  sagte  er,  als er  sich  wieder
aufgerichtet hatte. "Ich  werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen
bist." Und  nachdem  er ihn eine lange Zeit in  stummer Seligkeit betrachtet
hatte: "Du machst mich sehr, sehr gl

u

cklich."
     Grenouille  zog  die  Mundwinkel  leicht  auseinander,  wie er  es  den
Menschen  abgeschaut  hatte,  die l

u

cheln.  Dann  schloss er  die  Augen. Er
wartete eine Weile, ehe er  seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ,
wie es  die  Schl

u

fer  tun. Er  sp

u

rte Richis'  liebenden  Blick auf  seinem
Gesicht. Einmal sp

u

rte er, wie  Richis sich  abermals vorbeugte,  um ihn  zu
k

u

ssen, es dann  aber  unterließ,  aus Scheu, ihn  zu wecken.  Endlich
wurde  die Kerze  ausgeblasen, und Richis  schlich sich auf Zehenspitzen aus
der Kammer.
     Grenouille  blieb liegen,  bis er in  Haus und Stadt kein Ger

u

usch mehr
h

u

rte. Als er  dann  aufstand, d

u

mmerte es  schon. Er kleidete sich  an  und
machte sich davon, leise 

u

ber den Flur, leise die Stiege hinab und durch den
Salon  hinaus  auf  die  Terrasse.   Von  hier  aus  konnte   man  

u

ber  die
Stadtmauersehen, 

u

ber die  Sch

u

ssel  des Grasser Landes,  bei  klarem Wetter
wohl auch bis zum Meer. Jetzt  hing ein d

u

nner  Nebel, ein Dunst  eher, 

u

ber
den Feldern, und  die D

u

fte, die von  dorther kamen, Gras, Ginster und Rose,
waren wie gewaschen, rein, simpel, tr

u

stlich einfach. Grenouille durchquerte
den Garten und stieg 

u

ber die Mauer.
     Oben am Cours musste er sich noch einmal durch  Menschend

u

nste k

u

mpfen,
ehe er das  freie Land gewann. Der ganze Platz  und die H

u

nge glichen  einem
riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den
Ausschweifungen des n

u

chtlichen  Festes ersch

u

pften Gestalten  herum, manche
nackt, manche halb entbl

u

ßt  und halb bedeckt  von Kleidern, unter die
sie sich  wie unter ein St

u

ck Decke verkrochen hatten. Es stank nach  saurem
Wein, nach  Schnaps, nach Schweiß und Pisse,  nach Kinderscheiße
und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten  noch die Feuerstellen, an
denen  sie gebraten, gesoffen und  getanzt hatten. Hie  und da gluckste noch
aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Gel

u

chter auf. Es  mag
auch sein,  dass  manch  einer noch wachte  und sich  die letzten Fetzen von
Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der 

u

ber die
verstreuten  Leiber stieg, vorsichtig und rasch  zugleich, wie durch Morast.
Und  wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er  duftete nicht mehr. Das Wunder
war vorbei.
     Am Ende  des  Cours  angelangt,  nahm er nicht  die  Straße  nach
Grenoble, nicht  die nach  Cabris, sondern er ging querfeldein  in westliche
Richtung davon, ohne sich noch ein  einziges  Mal umzuschauen. Als die Sonne
aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er l

u

ngst verschwunden.
     Die  Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die
nicht  getrunken hatten, war bleischwer  im Kopf und  spei

u

bel in Magen  und
Gem

u

t.  Auf  dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach
den  Kleidern, die  sie im Exzess  der  Orgie  von sich geschleudert hatten,
suchten  sittsame Frauen  nach  ihren  M

u

nnern  und  Kindern, sch

u

lten  sich
wildfremde Menschen  entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte,
Nachbarn, Gatten pl

u

tzlich in peinlichster 

u

ffentlicher Nacktheit gegen

u

ber.
     Vielen  erschien   dieses   Erlebnis  so  grauenvoll,  so   vollst

u

ndig
unerkl

u

rlich   und   unvereinbar   mit   ihren    eigentlichen   moralischen
Vorstellungen,  dass sie es  buchst

u

blich im Augenblick seines  Stattfindens
aus  ihrem Ged

u

chtnis l

u

schten und sich infolgedessen auch sp

u

ter wahrhaftig
nicht    mehr   daran   zur

u

ckerinnern    konnten.   Andere,    die    ihren
Wahrnehmungsapparat nicht so souver

u

n beherrschten, versuchten, wegzuschauen
und wegzuh

u

ren und wegzudenken was nicht ganz einfach  war, denn die Schande
war zu  offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten  und seine
Angeh

u

rigen  gefunden hatte, machte sich  so rasch und  so  unauff

u

llig  wie
m

u

glich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.
     Die Leute  in der Stadt kamen, wenn 

u

berhaupt, erst gegen Abend aus den
H

u

usern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man gr

u

ßte sich
nur  fl

u

chtig  beim Begegnen, sprach nur 

u

ber das  Belangloseste.  

u

ber  die
Ereignisse  des  Vortags  und  der  vergangenen  Nacht  fiel  kein  Wort. So
hemmungslos und frisch  heraus  man  sich  gestern  noch  gegeben hatte,  so
schamhaft war man jetzt.  Und alle  waren so, denn alle  waren schuldig. Nie
schien das Einvernehmen unter den Grasser B

u

rgern besser als in jener  Zeit.
Man lebte wie in Watte.
     Manche freilich  mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem
befassen,  was geschehen war.  Die Kontinuit

u

t des 

u

ffentlichen Lebens,  die
Unverbr

u

chlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen.
Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite
Konsul,  umarmten  sich  stumm,  als  gelte  es,  das  Gremium  durch  diese
verschw

u

rerische Geste neu zu konstituieren.  Dann beschloss  man una  anima
und  ohne dass  der Vorkommnisse oder gar  des  Namens Grenouille  auch  nur
Erw

u

hnung getan  worden w

u

re, "die Trib

u

ne und das  Schafott auf  dem  Cours
unverz

u

glich  abreißen  zu lassen und  den Platz  und die  umliegenden
zertrampelten  Felder  wieder  in  ihren  vormaligen  ordentlichen   Zustand
versetzen zu lassen". Hierf

u

r wurden hundertsechzig Livre bewilligt.
     Gleichzeitig tagte das Gericht in  der Pr

u

vot

u

. Der Magistrat kam  ohne
Aussprache 

u

berein, den "Fall G." als erledigt  zu betrachten, die Akten  zu
schließen und ohne Registratur  zu archivieren und ein neues Verfahren
gegen einen  bislang  unbekannten M

u

rder von  f

u

nfundzwanzig  Jungfrauen  im
Grasser Raum zu  er

u

ffnen. An  den  Polizeilieutenant erging der Befehl, die
Untersuchungen unverz

u

glich aufzunehmen.
     Schon   am   n

u

chsten  Tag   wurde   er  f

u

ndig.  Aufgrund  eindeutiger
Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue
de  la Louve, in dessen Kabane ja schließlich  die  Kleider  und Haare
s

u

mtlicher  Opfer  gefunden worden  waren.  Von seinem  anf

u

nglichen Leugnen
ließen sich die Richter nicht  t

u

uschen. Nach vierzehnst

u

ndiger Folter
gestand er  alles  und bat sogar um eine m

u

glichst baldige  Hinrichtung, die
ihm  schon  f

u

r  den  folgenden  Tag  gew

u

hrt  wurde.  Man  kn

u

pfte  ihn  im
Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne  Schafott und  Trib

u

nen, im
Beisein  lediglich  des Henkers,  einiger  Mitglieder  des Magistrats, eines
Arztes  und  eines  Priesters.  Die  Leiche ließ man, nachdem der  Tod
eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverz

u

glich
beisetzen. Damit war der Fall erledigt.
     Die Stadt  hatte ihn ohnehin schon vergessen, und  zwar so vollst

u

ndig,
dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen  und sich beil

u

ufig nach
dem  ber

u

chtigten  Grasser M

u

dchenm

u

rder  erkundigten, nicht  einen einzigen
vern

u

nftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft h

u

tte  erteilen k

u

nnen. Nur
ein  paar Narren aus der Charit

u

,  notorische Geisteskranke, plapperten noch
irgend  etwas  daher  von einem  großen Fest auf  der Place  du Cours,
dessentwegen sie h

u

tten ihre Zimmer r

u

umen m

u

ssen.
     Und  bald  hatte  sich  das  Leben  g

u

nzlich  normalisiert.  Die  Leute
arbeiteten fleißig und schliefen  gut und gingen ihren Gesch

u

ften nach
und  hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und  je aus den
vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den  Schlamm durch  die Gassen. Die
Stadt  stand wieder  sch

u

big und  stolz  an den H

u

ngen 

u

ber dem  fruchtbaren
Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.


     Grenouille ging nachts. Wie zu  Beginn seiner Reise wich er den St

u

dten
aus, mied die  Straßen, legte  sich bei  Tagesanbruch  schlafen, stand
abends auf  und  ging weiter. Er fraß, was er  am  Wege  fand: Gr

u

ser,
Pilze, Bl

u

ten,  tote V

u

gel, W

u

rmer. Er durchzog die Provence,  

u

berquerte in
einem gestohlenen  Kahn die  Rhone s

u

dlich von Orange, folgte  dem Lauf  der
Ard

u

che bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden.
     In der  Auvergne kam er dem  Plomb  du Cantal nahe. Er sah ihn westlich
liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den k

u

hlen Wind,
der von  ihm kam.  Aber es  verlangte  ihn nicht  hinzugehen. Er hatte keine
Sehnsucht  mehr nach dem H

u

hlenleben. Diese Erfahrung  war ja schon  gemacht
und hatte sich als  unlebbar erwiesen. Ebenso wie die  andere Erfahrung, die
des  Lebens  unter  den  Menschen.  Man  erstickte da  und dort.  Er  wollte

u

berhaupt nicht mehr  leben.  Er wollte nach  Paris gehen  und sterben.  Das
wollte er.
     Von Zeit zu  Zeit griff er in seine Tasche und schloss  die Hand um den
kleinen gl

u

sernen  Flakon  mit  seinem  Parfum. Das Fl

u

schchen war noch fast
voll.  F

u

r  den  Auftritt  in  Grasse  hatte  er  bloß  einen  Tropfen
verbraucht. Der Rest w

u

rde gen

u

gen, um die  ganze Welt zu bezaubern. Wenn er
wollte,  k

u

nnte  er   sich  in  Paris  nicht  nur  von  Zehn-,  sondern  von
Hunderttausenden  umjubeln lassen;  oder  nach Versailles spazieren, um sich
vom K

u

nig  die  F

u

ße k

u

ssen zu lassen; dem  Papst  einen  parfumierten
Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren;  in Notre-Dame vor
K

u

nigen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf
Erden - falls man sich als Gott 

u

berhaupt noch salbte...
     All das  k

u

nnte  er tun, wenn er nur wollte.  Er besaß  die Macht
dazu. Er  hielt sie  in der Hand. Eine Macht, die st

u

rker war als  die Macht
des  Geldes oder  die Macht  des  Terrors  oder  die  Macht  des Todes:  die
un

u

berwindliche  Macht, den  Menschen  Liebe  einzufl

u

ßen.  Nur  eines
konnte diese  Macht  nicht:  sie konnte  ihn  nicht vor  sich selber riechen
machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein
Gott  - wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals w

u

sste,
wer  er sei,  so pfiff  er drauf, auf die  Welt, auf  sich  selbst, auf sein
Parfum.
     Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn
er sie  an seine Nase f

u

hrte und  schnupperte, dann wurde ihm wehm

u

tig,  und
f

u

r  ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb  stehen und roch.
Niemand weiß, wie  gut  dies Parfum wirklich  ist,  dachte er. Niemand
weiß,  wie gut es 
gemacht
  ist. Die  andern  sind nur  seiner  Wirkung
untertan, ja, sie wissen nicht  einmal, dass es  ein Parfum ist, das auf sie
wirkt und  sie  bezaubert. Der  einzige, der es  jemals in seiner wirklichen
Sch

u

nheit  erkannt  hat, bin ich, weil ich  es  selbst  geschaffen habe. Und
zugleich bin ich  der einzige,  den  es  nicht bezaubern  kann. Ich bin  der
einzige, f

u

r den es sinnlos ist.
     Und  ein andermal, da  war er  schon  in Burgund: Als  ich an der Mauer
stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige M

u

dchen spielte, und ihr
Duft zu mir her

u

berwehte... oder vielmehr das Versprechen  ihres Dufts, denn
ihr sp

u

terer Duft existierte ja noch gar nicht - vielleicht war das, was ich
damals  empfand,  demjenigen  

u

hnlich,  was  die  Menschen  auf   dem  Cours
empfanden, als ich sie mit meinem Parfum 

u

berschwemmte...? Aber dann verwarf
er den Gedanken:  Nein, es war  etwas anderes. Denn  ich wusste ja, dass ich
den Duft  begehrte,  nicht  das  M

u

dchen.  Die  Menschen aber glaubten,  sie
begehrten 
mich,
 und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.
     Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine St

u

rke, und
er war auch schon im Orleanais.
     Er 

u

berquerte die  Loire bei Sully.  Einen Tag sp

u

ter hatte er den Duft
von Paris in der Nase.  Am 25. Juni  1767 betrat  er die Stadt durch die Rue
Saint-Jacques fr

u

hmorgens um sechs.
     Es wurde  ein heißer  Tag, der  heißeste  bisher in  diesem
Jahr.  Die  tausendf

u

ltigen Ger

u

che und  Gest

u

nke  quollen  wie  aus tausend
aufgeplatzten  Eiterbeulen.   Kein  Wind  regte  sich.  Das  Gem

u

se  an  den
Marktst

u

nden erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In
den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der  Fluss schien nicht mehr zu
fließen,  sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag
von Grenouilles Geburt.
     Er  ging  

u

ber den Pont Neuf  ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen
und zum Cimetiere  des Innocents. In den  Arkaden der Gebeinh

u

user l

u

ngs der
Rue aux Fers ließ er sich  nieder. Das Gel

u

nde  des Friedhofs  lag wie
ein  zerbombtes  Schlachtfeld  vor  ihm,  zerw

u

hlt,  zerfurcht,  von  Gr

u

ben
durchzogen,  von Sch

u

deln  und  Gebeinen  

u

bers

u

t,  ohne Baum,  Strauch oder
Grashalm, eine Schutthalde des Todes.
     Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so
schwer,  dass selbst  die Totengr

u

ber  sich verzogen hatten. Sie  kamen erst
nach  Sonnenuntergang  wieder,  um  bei Fackellicht bis in die Nacht  hinein
Gruben f

u

r die Toten des n

u

chsten Tages auszuheben.
     Nach Mitternacht erst - die Totengr

u

ber waren schon gegangen  - belebte
sich der Ort mit  allem m

u

glichen Gesindel, Dieben, M

u

rdern, Messerstechern,
Huren, Deserteuren,  jugendlichen Desperados.  Ein  kleines Lagerfeuer wurde
angez

u

ndet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre.
     Als  Grenouille aus  den  Arkaden  kam und  sich  unter diese  Menschen
mischte, nahmen  sie ihn zun

u

chst  gar nicht  wahr. Er konnte unbehelligt an
ihr Feuer treten,  als sei  er einer von ihnen.  Das best

u

rkte sie sp

u

ter in
der  Meinung,  es m

u

sse sich  bei ihm um einen Geist oder  einen  Engel oder
sonst etwas 

u

bernat

u

rliches gehandelt haben.  Denn  

u

blicherweise reagierten
sie h

u

chst empfindlich auf die N

u

he eines Fremden.
     Der kleine  Mann  in  seinem blauen Rock  aber  sei  pl

u

tzlich  einfach
dagewesen,  wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen  Fl

u

schchen
in  der  Hand, das er  entst

u

pselte. Dies war  das  erste,  woran sich  alle
erinnern konnten: dass  da einer stand und ein Fl

u

schchen  entst

u

pselte. Und
dann  habe  er  sich  mit  dem  Inhalt  dieses  Fl

u

schchens  

u

ber  und  

u

ber
besprenkelt und sei mit einem  Mal von Sch

u

nheit  

u

berg

u

ssen gewesen wie von
strahlendem Feuer.
     F

u

r einen Moment wichen sie zur

u

ck aus Ehrfurcht  und bassem Erstaunen.
Aber im selben Moment sp

u

rten sie schon, dass das Zur

u

ckweichen mehr wie ein
Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in
Begeisterung.  Sie  f

u

hlten sich  zu  diesem  Engelsmenschen hingezogen. Ein
rabiater  Sog ging von ihm  aus, eine  reißende Ebbe,  gegen  die kein
Mensch sich  stemmen konnte, um so  weniger, als sich kein Mensch  gegen sie
h

u

tte  stemmen  wollen,  denn  es  war der  Wille  selbst,  den  diese  Ebbe
untersp

u

lte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm.
     Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen
und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste  der Kreis sie nicht
mehr  alle,  sie begannen zu dr

u

cken,  zu  schieben  und zu dr

u

ngeln,  jeder
wollte dem Zentrum am n

u

chsten sein.
     Und dann brach mit einem Schlag  die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis
in sich  zusammen.  Sie st

u

rzten  sich auf den Engel, fielen 

u

ber  ihn  her,
rissen ihn zu Boden. Jeder  wollte ihn ber

u

hren, jeder wollte einen Teil von
ihm haben, ein Federchen,  ein  Fl

u

gelchen,  einen Funken seines wunderbaren
Feuers.  Sie  rissen ihm die  Kleider, die  Haare,  die  Haut vom Leibe, sie
zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Z

u

hne in sein Fleisch, wie die
Hy

u

nen fielen sie 

u

ber ihn her.
     Aber so ein Menschenk

u

rper  ist ja  z

u

h und l

u

sst sich nicht so einfach
auseinanderreißen, selbst  Pferde haben  da die gr

u

ßte M

u

he. Und
so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und

u

xte  und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die
Knochen. In k

u

rzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und
ein  jedes Mitglied der  Rotte  grapschte  sich ein  St

u

ck,  zog  sich,  von
woll

u

stiger Gier getrieben,  zur

u

ck und fraß es auf. Eine halbe Stunde
sp

u

ter   war   Jean-Baptiste   Grenouille  in  jeder  Faser   vom   Erdboden
verschwunden.
     Als  sich  die   Kannibalen  nach  gehabter  Mahlzeit  wieder  m  Feuer
zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein
wenig auf, spie ein Kn

u

chelchen aus,  schnalzte leise mit der Zunge, stupste
mit  dem  Fuß einen  

u

briggebliebenen  Fetzen des blauen  Rocks in die
Flammen: Sie  waren alle  ein  bisschen  verlegen und  trauten  sich  nicht,
einander anzusehen. Einen Mord oder ein  anderes niedertr

u

chtiges Verbrechen
hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal  begangen. Aber einen
Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie
und  nimmer imstande. Und sie  wunderten  sich,  wie  leicht  es  ihnen doch
gefallen  war und dass  sie,  bei aller Verlegenheit,  nicht den  geringsten
Anflug  von schlechtem  Gewissen versp

u

rten.  Im  Gegenteil!  Es  war ihnen,
wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren
finsteren Seelen schwankte es mit  einem  Mal so angenehm  heiter.  Und  auf
ihren  Gesichtern  lag ein m

u

dchenhafter,  zarter  Glanz  von  Gl

u

ck.  Daher
vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und  sich gegenseitig in die  Augen
zu sehen.
     Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten
sie l

u

cheln.  Sie  waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum  ersten
Mal etwas aus Liebe getan.
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